Wenn ich im Ausland unterwegs bin, habe ich Heimweh nach Europa. Ich vermisse dann die Idee der Grenzenlosigkeit. Diesen unfassbar liebenswerten Größenwahn, 27 Länder mit unterschiedlichen Traditionen auf eine gemeinsame Zukunft einzuschwören. Die Gleichzeitigkeit von Ungleichem. Das Bewusstsein um eine gemeinsame Tradition und um Werte, die wir teilen. Trotz allem, was in den vergangenen Jahren in Polen und Ungarn passiert ist.
Ich bin ein sehr heimatverbundener Mensch. Die deutschen Mittelgebirge sind meine Heimat. Diese grünen Hügel, das sanfte Profil der Landschaft, der braune Lehmboden – darauf komme ich sehr gut klar. Wenn mir der Matsch klumpenweise am Stiefel kleben bleibt, weiß ich, dass ich zu Hause bin.
Europa allerdings ist für mich auch eine Heimat. Hier kann ich wachsen und mich verändern. Europa ist der Ort, an dem ich fliegen gelernt habe. Ohne die Matschklumpen am Stiefel.
Ich habe mich nie unwohl bei dem Gedanken gefühlt, ein Deutscher zu sein. Aber wenn ich könnte, würde ich meinen deutschen Pass sofort gegen einen europäischen tauschen.
Die vielen Menschen auf dem Kontinent, für die Europa auch eine Heimat ist, brauchen eine Ermutigung. Denn in vielen Ländern gewinnen die Gegner des europäischen Gedankens an Zustimmung. Die Einführung eines europäischen Passes könnte diese Ermutigung darstellen. Und für die Menschen, die sich keine Gedanken um Europa machen, die einfach ein gutes Leben leben wollen, könnte dieser Pass auch sehr wertvoll werden – wenn wir uns dabei an einer cleveren Idee aus Estland orientieren: der digitalen Staatsbürgerschaft.
Natürlich habe ich schon heute einen „europäischen“ Reisepass. Aber der aufgedruckte Schriftzug „Europäische Union“ ist bisher kaum mehr als ein Symbol. Denn der Pass wird von nationalen Behörden ausgegeben, und das macht innerhalb Europas schon aus praktischen Gründen einen großen Unterschied: Ein Deutscher kann laut der Webseite passportindex.org 162 Länder weltweit ohne Visum bereisen, ein Kroate nur 149.
Aber darum geht es mir eigentlich nicht. Ich will nicht eine Angleichung der Visumsbedingungen, ich will etwas in der Hand halten können, von dem ich weiß, dass es mich mit Europa verbindet und zu einem europäischen Bürger macht. Ich wünsche mir, dass Europa für mich in meinem Alltagsleben eine konkrete Form annimmt.
Denn das ist bisher die ganz große Schwäche der europäischen Idee: Sie ist für viele Menschen zu abstrakt. Obwohl in Brüssel wichtige Entscheidungen getroffen werden, hat der Durchschnitts-Deutsche oder der Durchschnitts-Italiener kaum eine Beziehung zu dem, was die EU ausmacht. Deswegen fällt es Populisten auch so leicht, die EU anzugreifen. Angeblich sei sie ein „Elitenprojekt“ für Menschen, die reich und gebildet genug sind, um davon zu profitieren.
Wenn die Arbeit der EU im Alltagsleben der Menschen jedoch in der Vergangenheit spürbar wurde, nehmen die Menschen die Neuerungen oft auch schnell an. Im Juni 2017 etwa fielen endlich die Roaming-Gebühren innerhalb der Europäischen Union weg. Seitdem kann ich mit meinem deutschen Handy-Vertrag in Polen, Frankreich oder Belgien so viel telefonieren und so viel im Netz herunterladen, wie ich will. Ohne Zusatzgebühren. Laut einer Eurostat-Umfrage vom September 2017 wussten 71 Prozent der Europäer bereits über die neuen Regeln Bescheid. Und doppelt so viele nutzten seit der Änderung ihr Mobiltelefon auf Reisen genauso häufig wie daheim.
Der europäische Pass ist ein wichtiges Ziel für viele Europäer
Mit meinem Wunsch nach einem europäischen Pass bin ich auch nicht allein. Im „Parlameter 2016“, einer Meinungsforschungsstudie im Auftrag des Europaparlaments, wurde gefragt, welche Dinge das Gefühl verstärken würden, ein europäischer Bürger zu sein.
Auf Platz eins und zwei lag der Wunsch nach einem gemeinsamen europäischen Sozial- und Rentensystem. In die Top fünf schaffte es aber auch der Vorschlag, einen „europäischen Personalausweis“ zusätzlich zum nationalen Personalausweis auszugeben. Vergleichbare Umfragen der Statistikbehörde Eurostat in den Jahren zuvor kamen auf ähnliche Ergebnisse. Der europäische Pass scheint für viele Europäer eine wichtige Utopie zu sein.
Das Problem fängt dort an, wo die Idealisten nicht mehr unter sich sind. Sowohl eine gemeinsame europäische Sozialpolitik als auch ein offizieller europäischer Pass sind nicht zu haben, ohne dass die Länder Europas vorher ihren Zusammenschluss zu einem Bundesstaat beschließen. Denn diese beiden Felder gehören zu den Kernkompetenzen staatlicher Politik.
Von der Gründung eines gemeinsamen Staates ist die EU jedoch derzeit weit entfernt. In Osteuropa sind „illiberale Demokratien“ entstanden, die ein „Europa der Vaterländer“ propagieren. Wenn dort überhaupt noch von Europa die Rede ist. Und auch anderswo auf dem Kontinent sind Populisten im Aufwind, die gegen die europäische Idee ankämpfen.
Um diesen Pass einzuführen, gibt es eine genial einfache Idee
Das heißt aber nicht, dass man die Idee von einem europäischen Pass aufgeben sollte. Es gäbe einen genial einfachen Weg, den europäischen Pass für all jene einzuführen, die ihn auch haben wollen. Ein Beispiel, wie so etwas funktionieren könnte, bietet die estnische E-Residency.
Seit Dezember 2014 können sich Menschen aus aller Welt um eine Art virtuellen Wohnsitz in dem baltischen Land bewerben. Das Verfahren dauert nur etwa zwei Monate und ist relativ unkompliziert. Laut Recherchen der „Welt” hatten sich bis Oktober 2017 schon mehr als 24.000 Menschen aus dem Ausland als estnische „E-Residents“ registrieren lassen, darunter 1.273 Deutsche.
Wichtig zu wissen: Mit dem virtuellen Wohnsitz sind keinerlei Staatsbürgerrechte verbunden. Das einzurichten, wäre tatsächlich sehr kompliziert. Denn Estland ist Teil des Schengen-Raums und des gemeinsamen Binnenmarkts. Wer die estnische Staatsbürgerschaft hat, kann sich frei in Europa bewegen, Arbeit suchen und sich in anderen Ländern auf Kosten der nationalen Krankenkasse behandeln lassen.
Und doch bietet die E-Residency weit mehr als nur das gute Gefühl, ein virtueller Bürger Estlands zu werden. Die Chipkarte, die man sich nach einer erfolgreichen Bewerbung bei der estnischen Botschaft abholen kann, öffnet für Menschen aus aller Welt die Möglichkeit, online ein in der EU registriertes Unternehmen zu eröffnen. Sämtliche dafür nötigen Behördengänge können im Netz mit einem Kartenlesegerät erledigt werden. Estland ist seit Jahren Weltspitze in diesem Bereich. Über das staatliche Verwaltungsportal können Unternehmer auch die Steuererklärung ihrer Firma elektronisch einreichen.
Eine E-Residency ist auch ohne Staatsbürgerrechte attraktiv
Das ist vor allem für sogenannte globale Nomaden interessant: Jene Menschen also, die selbstständig arbeiten und häufig ihren Wohnort wechseln. Sie müssen nun nicht mehr ihre Firmen ab- und ummelden, weil sie trotz Umzugs einen ständigen virtuellen Wohnsitz in Estland haben.
Zugegeben, diese Nische ist relativ klein. Und doch zeigt das estnische Experiment einen Weg, wie wir mit einer europäischen Staatsbürgerschaft schnell und unkompliziert anfangen könnten, ohne dass Bedenkenträger, die darauf pochen, dass eine Staatsbürgerschaft auch in Zukunft mit der Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat verbunden sein soll, das blockieren können. Ein Hoch auf das Internet.
Wie wäre es also, wenn man sich bei der Europäischen Kommission künftig online als virtueller Bürger der Europäischen Union registrieren lassen könnte? Im Gegenzug dafür gäbe es eine Chipkarte mit dem blauen Sternenbanner, die als eine Art Ausweis für den europäischen E-Resident diente und beim zuständigen Bürgeramt abzuholen wäre.
Natürlich wären damit keine Staatsbürgerrechte verbunden. Die EU ist ja immer noch ein Zusammenschluss von unabhängigen Staaten, die alle für sich genommen ihre Hoheitsrechte haben.
Und trotzdem gäbe es im Gegenzug für die virtuellen Europäer einige Sonderrechte und Vergünstigungen. Gerade dort, wo die EU die Mittel verteilt.
So könnten virtuelle Europäer etwa ohne die bisher für Ausländer geltende Beschränkungen ihren Studienplatz im EU-Ausland wählen? Also: Wegfall der „Österreicherquote“ für den Zugang zum Medizinstudium, Streichung der Studiengebühren für Unikurse auf Englisch in Ländern wie Tschechien. Ein virtueller Europäer ist schließlich überall in der EU ein Inländer. Und was spräche dagegen, sie bei der Bewerbung um ein Erasmus-Stipendium bevorzugt zu behandeln?
Freie Fahrt von Tallinn nach Lissabon
Denkbar wäre auch, dass das elektronische Europa zu einem Versuchslabor für eine digitale, gesamteuropäische Verwaltung wird. Warum etwa müssen EU-Bürger in allen Ländern separat ihre Vignetten zur Zahlung von Autobahngebühren beantragen? Virtuelle Europäer könnten in einem zentralen Portal für eine Fahrt von Tallinn nach Lissabon sämtliche Gebühren im Voraus bezahlen.
Und weshalb sollte man sich innerhalb Europas zu verschiedenen Standards ab- und anmelden müssen, wenn man umzieht? Ein einfaches Formular könnte diese Aufgabe für europäische E-Residents regeln. Die Daten liegen ja vor, und mir der Chipkarte kann sich der Betroffene ausweisen.
Denken wir die Sache ruhig weiter: Wenn die Vereinigten Staaten von Europa nicht so schnell Realität werden können, weil nationale Beharrungskräfte sich in vielen Ländern gegen die weitere Abgabe von Souveränitätsrechten sträuben – kann das elektronische Europa dann nicht wenigstens zu so etwas wie einem Interface werden, das bestehende Unterschiede zwischen den Ländern so weit wie möglich abzubauen hilft? Und zwar so weit, dass virtuelle EU-Bürger bald nichts mehr davon merken?
Noch ein Beispiel: Fast überall in Europa sind die Eisenbahngesellschaften in Staatsbesitz. Aber trotzdem ist es nicht möglich, auf der Webseite der Deutschen Bahn eine grenzüberschreitende Reise zu buchen. Bei den meisten Fahrten ist noch nicht einmal eine Preisauskunft möglich. Was spräche dagegen, wenn sich so viele europäische Bahngesellschaften wie möglich zusammentäten, um virtuellen Europäern ein gemeinsames Buchungssystem anzubieten? Alle Beteiligten hätten ausschließlich Vorteile dadurch. Die Bahnfirmen würden ihre Reichweite erhöhen und die Kunden müssten nicht wegen jeder Reise von Berlin nach Paris zum Bahnschalter laufen.
Wir brauchen etwas, dass uns ganz praktisch zu Europäern macht
In ganz Europa gilt berufliche Freizügigkeit, jeder kann dort arbeiten, wo er oder sie es will. Weshalb gibt es eigentlich bis heute keine gemeinsame europäische Datenbank für öffentliche Jobausschreibungen? Wer die nötigen Sprachkenntnisse mitbringt, kann sich als Lehrer in Luxemburg oder als Bibliothekar in Belgien bewerben. In einer Suchmaske einfach eintragen, welche Sprachen man spricht und welche Fähigkeiten man mitbringt. Für Jobs im öffentlichen Sektor in Deutschland gibt es das bereits schon. Bei interamt.de muss man ungefähr die gleiche Menge an Daten hinterlegen, die auch für die Beantragung einer europäischen E-Residency denkbar wären.
Das alles sind nur einige Ideen. Wenn sich viele kluge Menschen zusammentun und gemeinsam über die Möglichkeiten des virtuellen Europas nachdenken, ließe sich diese Liste wohl beinahe beliebig fortsetzen.
Manches davon würde womöglich in der Praxis scheitern. Vieles jedoch wäre mit vergleichsweise geringem Aufwand umsetzbar.
Die Idee dahinter ist nicht etwa, die EU in virtuelle Europäer und nicht-virtuelle Europamuffel zu spalten. Ganz im Gegenteil. Es geht darum, die Menschen wieder mit der europäischen Idee zusammenzubringen. Ihnen zu zeigen, dass es bei Europa eben nicht nur um Gurkenkrümmungen und Glühlampenverordnungen geht. Sondern um ganz praktische Dinge.
So könnte „Europa“ den Alltag der Menschen erobern. Es könnte das Gefühl wachsen, nicht als Deutscher, Spanier oder Italiener zu leben – sondern als Europäer.
Redaktion Rico Grimm, Bildredaktion Martin Gommel (Aufmacherbild: Unsplash / Karlye Wolff), Schlussredaktion Vera Fröhlich.