„Die Leistung eines Einzelnen gibt es nicht“

© Götz Schleser

Geld und Wirtschaft

Interview: „Die Leistung eines Einzelnen gibt es nicht“

Nur wer etwas leistet, zählt auch was. Das stresst viele. Doch das muss nicht so sein, sagt die Historikerin Nina Verheyen. Sie hat eine Idee, wie die Forderung nach Leistung entlastender werden kann.

Profilbild von Ein Interview von Esther Göbel

Frau Verheyen, was ist eigentlich schlecht daran, wenn ich etwas leiste oder leisten will? Das ist doch nicht schlimm.

Dem würde ich zustimmen. Das will ich ja auch in meinem Buch zeigen: Leistung nur als Druck, Anstrengung und Ausbeutung wahrzunehmen, so wie viele das tun, greift zu kurz.

Aber Sie kritisieren den Begriff auch. Warum?

Am Anfang meiner Forschung stand noch nicht die Kritik, sondern dass mir etwas aufgefallen ist. Und zwar diese unglaubliche Unschärfe im Zusammenhang mit dem Wort Leistung.

Was meinen Sie damit?

Wir verwenden das Wort sehr häufig. Es gibt auch viele Studien, die mit dem Begriff arbeiten; über Leistungsoptimierung bis zu Leistungsstandards oder Leistungsdruck. Aber es wird sehr selten versucht, das Wort mal genauer zu beleuchten. Wenn man sich anschaut, wie es verwendet wird, stellt man schnell fest, dass es um ganz unterschiedliche Dinge geht. Zum Beispiel, wenn man im Alltag jemanden fragt, wie das Wort Leistung denn definiert werden kann, kommt häufig zurück: „So wie in der Physik, da definiert man Leistung als Arbeit pro Zeit.“ Aber in vielen Bereichen ist diese Definition gar nicht sinnvoll. Da geht es etwa um Qualität, oder sogar um Sozialleistungen oder Transferleistungen. Ich will wissen: Wie hängt das alles zusammen und wieso wird das Wort so oft verwendet?

Warum wird es das denn?

Meine These ist, dass es sich um eine Unschärfeformel handelt, die durchaus einen politischen Sinn macht. Soziologen haben versucht, das Alltagsverständnis von Leistung zu beleuchten. Demnach geht es um ein Handeln oder um ein aus dem Handeln resultierendes Ergebnis, das gesellschaftlich erwünscht ist, das aber inhaltlich undefiniert ist. Wenn man das so denkt, dann geht es bei einer Leistung um ein anerkennungswürdiges Tun. Und damit dient die Diskussion um Leistung eigentlich dazu, auszuhandeln, was in unserer Gesellschaft wünschenswert ist. Aber ich würde behaupten, den meisten Menschen ist dieser Zusammenhang gar nicht klar. Die gehen davon aus, Leistung sei etwas Objektives, Messbares, eben ähnlich jener Formel aus der Physik. Mich stört so ein bisschen diese essentialistische und auch individuelle Note, die der Terminus in der Art und Weise, wie wir ihn verwenden, sehr oft hat. Im Alltag ist der Begriff Leistung ja emotional sehr negativ besetzt.

Da steckt auch schon der Gedanke drin, der heute vielen Angst macht – der auch mir oft Angst gemacht hat: dass es anscheinend eine messbare Größe gibt, die Auskunft darüber erteilt, wie leistungsstark ich bin.
Nina Verheyen

Wie ist es so weit gekommen?

Erst einmal ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Verwendung von Leistung im Sinne von messbarer menschlicher Arbeit sich erst relativ spät gebildet hat, im 19. Jahrhundert. Das ist deshalb verwunderlich, weil oft gesagt wird: „Aber die Orientierung an Leistung ist doch eine anthropologische Konstante, das kann man doch schon in der Antike finden, zum Beispiel bei den Olympischen Spielen“. Aber so, wie wir den Begriff heute kennen, vielleicht auch als Angstbegriff, hat sich das Verständnis von Leistung erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts gebildet.

Wieso ausgerechnet zu dieser Zeit?

Das hat mit ganz unterschiedlichen Dingen zu tun, zum Beispiel mit einem mechanistischen Körperbild, das damals entstand: Der Körper wurde als Motor gedacht. So, wie man diesem eine physikalische Leistung zuschrieb, hat man nun auch dem Körper eine messbare Leistung zugeschrieben. Und da steckt auch schon der Gedanke drin, der heute vielen Angst macht – der auch mir oft Angst gemacht hat: dass es anscheinend eine messbare Größe gibt, die Auskunft darüber erteilt, wie leistungsstark ich bin. Also letztlich, wie gut oder wie schlecht ich bin. Mit dem Begriff geht eine sehr starke Erwartung einher, gleichzeitig bilden sich Leistungsstandards und Leistungsmaßstäbe heraus, von denen wir bis heute denken, sie seien absolut – und an denen wir alle gemessen und verglichen werden.

Abgesehen davon, dass Sie sagen, Leistung sei nicht objektiv, sagen Sie auch noch, es gebe keine individuelle Leistung. Wie bitte?

Es gibt keine individuelle Leistung in einem quasi-physikalischen Sinn. Denn menschliche Leistung ist letztlich das Ergebnis einer kollektiven Aushandlung. Wenn man Leistung als ein Tun denkt, das der Gesellschaft als anerkennungswürdig gilt, dann ist Leistung Ausdruck eines ganz komplexen Aushandlungsprozesses. Das auch ganz stark von jenen gestaltet wird, die eine Leistung bewerten.

Aber wenn jetzt jemand zu Ihnen käme und sagen würde: „Frau Verheyen, da haben Sie wirklich ein ganz tolles Buch geschrieben, super Leistung!“, dann sagen Sie: „Danke, aber nö, das ist gar nicht meine Leistung“?

Gemeine Frage (lacht)! Ich würde antworten: „Das freut mich sehr, danke, das ist eine schöne Anerkennung für meine Anstrengung.“ Und ich würde hoffen, dass viele andere diese Einstellung teilen. Aber: Selbst wenn Leute das Buch jetzt gut finden, kann es sein, dass es in zehn Jahren ganz anders wahrgenommen wird – oder dass ich vor fünf Jahren keinen Verlag gefunden hätte. Diese Leistung ist also ganz stark perspektivabhängig. Das ist entlastend, wenn es mit der Anerkennung mal nicht klappt.

Der zweite Punkt, den man berücksichtigen sollte: Hinter einer Leistung steht immer die Anstrengung von Vielen. Vielleicht haben wir eine Person, die am Ende etwas ausführt oder die die Hauptlast trägt, aber die ist eingebettet in Unterstützungsnetzwerke. Also in meinem Fall gibt es einen Verlag, der hat ein Lektorat, ich habe einen Agenten und Kollegen, deren Meinungen mir beim Schreiben geholfen haben. Alle diese Menschen stehen hinter „meiner“ Leistung. Hinzu kommen auch all die Autoren, auf die ich mich in meinem Buch stütze. Sowie Freunde und Familie. Und auch dieser Gedanke ist aus meiner Sicht entlastend.

Damit haben wir über jene gesprochen, die Leistung erbringen. Auf der anderen Seite stehen aber jene, die eine Leistung durch ihre Bewertung erst zu einer solchen machen.

Es gibt Menschen, die in der Bewertung fremder Leistungen sehr viel mehr Macht ausüben als andere. Aber andererseits bewerten wir alle, jeden Tag. Wenn wir Trinkgeld geben oder eben nicht, oder wenn wir ein Buch kaufen oder es sein lassen.

Geld machen ist nicht immer das Ergebnis einer Leistung.
Nina Verheyen

Was passiert, wenn einige Menschen mehr Bewertungsmacht haben als andere?

Die Hierarchisierung von Menschen entlang ihrer vermeintlichen Leistung kann sehr ausschließend sein. Gleichzeitig gehört der Anspruch, Status an Leistung zu binden, zu einem zentralen Gerechtigkeitsversprechen der Gegenwart.

Viele Menschen empfinden dies aber gerade nicht mehr. Sie sagen: „Etwas zu leisten, lohnt sich nicht mehr.“ Es gibt zahlreiche Berufe, in denen Menschen hart schuften, zum Beispiel in den Pflegeberufen, aber schlecht bezahlt werden – und andere Menschen, die ohne große Anstrengung mit ihrem Instagram-Profil reich werden. Diese Zusammenhänge entsprechen nicht dem Leistungsprinzip.

Dem stimme ich zu, genau dagegen gilt es zu streiten. Geld machen ist nicht immer das Ergebnis einer Leistung, das wird heutzutage zu oft übersehen. Und dass Menschen in Pflegeberufen so schlecht bezahlt werden, hängt unter anderem mit der Annahme zusammen: „Pflegen? Das kann doch jeder! Dafür braucht man doch gar keine besonderen Fähigkeiten oder eine Ausbildung, keine besondere Leistungskraft.“ Das ist erstens völlig falsch, und hinzukommt: Wenn man – frei von der Geschichte inspiriert – das „Leisten von etwas“ denkt als jemandem Schutz, ihm Hilfe, ihm Gesellschaft leisten, dann sind die Menschen in den Pflegeberufen die eigentlichen „Leistungsträger“ unserer Gesellschaft.

Hatte das Wort Leistung immer schon dieselbe Bedeutung wie heute?

Nein. Im 19. Jahrhundert können Sie das Verb „etwas leisten“ in Wörterbüchern finden. Dieses „etwas leisten“ war aber zunächst stark losgelöst von der messbaren Anstrengung , die wir heute mit dem Wort verbinden. Es ging eher darum, einer konkreten Pflicht nachzukommen, ein Versprechen zu geben oder – wie gerade schon angesprochen – anderen Hilfe, Schutz oder sogar Gesellschaft zu leisten. „Etwas zu leisten“ bedeutete damals also nicht eine Anstrengung oder eine Fähigkeit, entlang derer man sich auch noch vermessen lassen musste. Sondern es hieß, etwas zu tun, oft für andere. Wenn man den Begriff so denkt, scheint er gleich viel sozialer. Auch losgelöster von der Ökonomie. Dazu gibt es eine Parallele: Bürgerliche Männer und auch Frauen der damaligen Zeit, richteten ihr Leben nicht nur nach der Arbeit aus, sondern auch an Bildung, Geselligkeit, Familie und Tugendhaftigkeit.

Heute ist das ganz anders; es gibt einen Selbstzwang zur Leistung. Viele Menschen definieren sich sehr stark über den Begriff. Wer viel arbeitet, also viel leistet, ist cool – wer eher den Müßiggang pflegt und nicht so viel leisten will, gilt schnell als Assi. Wie ist das passiert?

Das ist eine sehr große Frage. Eine klassische Antwort: Diese Veränderungen hängen mit der Auflösung einer ständischen Ordnung zusammen. In dem Moment, wo der Status nicht mehr offiziell qua Geburt festgelegt ist und sich theoretisch verändern kann, kann er dem Anspruch nach stärker an Leistung gebunden werden. Aber ganz wichtig war und ist auch die zunehmende Verbreitung und Relevanz von Praktiken im Alltag, die Menschen vermeintlich entlang ihrer Leistung vergleichen – seien das Schulnoten oder Sportwettbewerbe. Die machen eine abstrakte Größe plötzlich konkret.

Es profitiert aber doch nicht nur der Einzelne von diesem Gedanken (im Idealfall), sondern auch der Staat. Weil der Leistungsgedanke die Bürger diszipliniert.

Die Geschichte moderner Staatlichkeit ist ebenfalls wichtig in diesem Zusammenhang. Die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts imaginierten sich in Konkurrenz mit anderen Nationalstaaten und drängten auch deshalb so darauf, die Ressourcen der Bürger und Bürgerinnen optimal auszunutzen. Sie wurden dabei immer geschickter und subtiler und suggerierten: Streng Dich an, das wird auch Dir nützen, dadurch steigst Du sozial auf.

In der jüngeren Geschichte fallen einem da schnell solche Dinge ein wie die Agenda 2010 – oder der berühmte Satz von Gerhard Schröder von 2001: „Es gibt kein Recht auf Faulheit in dieser Gesellschaft.“ Da steckt eine Leistungsaufforderung drin.

Man kann das so sagen, ja. Die Agenda 2010 wurde ja auch tatsächlich damit begründet, dass Menschen angeregt werden sollten, wieder mehr zu leisten, mehr zu arbeiten. Aber schon diese Verbindung von Arbeit und Leistung finde ich problematisch; ich finde diese Äußerung von Gerhard Schröder auch aus anderen Gründen zynisch. Gerade an dieser Stelle würde ich darauf hinweisen wollen, dass Leistung nicht allein auf die ökonomische Verwertbarkeit eines Menschen reduziert werden darf.

Nur mal als Gedankenspiel: Käme eine moderne Gesellschaft denn ohne den Leistungsbegriff aus?

Ich will den Begriff gar nicht ganz abschaffen, das geht eh nicht, ich will ihn eher retten. Von links. Für seine Untiefen sensibilisieren und ihm seine konkurrenzorientierte Note nehmen – dass sich Menschen mit dieser Kategorie wie im Wettbewerb vergleichen. Und dafür ist der Gedanke, dass jede Leistung gemeinsam geschaffen wird, ein Ansatz. Manchmal hat man auch Glück oder Pech; wenn Sie gerade über ein Talent verfügen, das sehr gefragt ist, genießen Sie viel Ansehen. Der Gedanke, dass nicht alles in Ihrer Hand liegt, kann auch etwas Entlastendes haben. Ich hoffe das zumindest.


Nina Verheyen wurde 1975 geboren und ist Historikerin an der Universität zu Köln. Zuvor war sie u.a.am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin tätig sowie Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Ihr Buch Die Erfindung der Leistung ist vor Kurzem bei Hanser erschienen und kostet 23 Euro.

Redaktion: Theresa Bäuerlein. Schlussredaktion: Rico Grimm. Aufmacher-Foto: Götz Schleser.