An einem Abend Ende Oktober 2014 fühlte ein Arzt seinen eigenen Puls und stieg dann in eine U-Bahn in New York City. Er war gerade von einem kurzen Freiwilligeneinsatz in Übersee nach Hause zurückgekehrt und auf dem Weg nach Brooklyn, um einige Freunde zum Bowlen treffen. Er freute sich auf diese Auszeit. Ein paar Stunden früher war er durch die Stadt gelaufen, hatte einen Kaffee auf der High Line in Manhattan gekauft und in einem Imbiss Frikadellen gegessen. Als er am nächsten Tag erschöpft und mit leichtem Fieber aufwachte, rief er seinen Arbeitgeber an.
Innerhalb von 24 Stunden wurde er zum gefürchtetsten Mann in New York. Hunderte von Menschen versuchten den genauen Weg nachzuvollziehen, den er durch Stadt genommen hatte. Alle Häuser, in denen er gewesen war, wurden geschlossen, seine Freunde und seine Verlobte unter Quarantäne gestellt.
Dr. Craig Spencer hatte sich mit Ebola infiziert, als er für die Organisation Ärzte ohne Grenzen in Guinea Patienten behandelte. Er selbst war nicht ansteckend. Er machte alles richtig, indem er über seine Symptome sofort Bericht erstattete, und stellte keine Bedrohung für andere Menschen in seiner Umgebung dar. Er war ein vorbildlicher Patient – Experten können das vorbehaltlos bestätigen.
All das konnte nicht verhindern, dass die Medien hysterisch reagierten und einen drohenden Weltuntergang ankündigten. Jedes wichtige Nachrichten-Medium versuchte, mit Clickbaits und Horrorgeschichten aus der kollektiven Ebola-Panik Kapital zu schlagen. Der physische Schaden, der durch die Krankheit selbst verursacht wurde, war gering. Die Hysterie jedoch – die sich durch das Internet blitzschnell verbreitete – sorgte dafür, dass Schulen geschlossen wurden, Flugzeugen Startverbot erteilt wurde und die Nation in Angst und Schrecken lebte.
Das Thema explodierte in den Sozialen Medien und erreichte 6.000 Tweets pro Sekunde. Die Bundesbehörde und die Beamten des öffentlichen Gesundheitswesens versuchten, die Fehlinformationen, die sich in alle Richtungen ausbreiteten, einzudämmen. Mit den Geschichten breitete sich die Angst aus. Unternehmen und die damit verbundenen Medien erzeugten mit ihren Berichten Milliarden an Aufrufen.
Diese Milliarden flossen direkt in die Werbeeinnahmen. Bevor die Hysterie ein Ende fand, war Werbung im Wert von Millionen von Dollar von Medien, die über Ebola berichteten, per Algorithmus an Unternehmen verkauft worden.
Der Terror war weitaus ansteckender als das Virus selbst und hatte ein perfektes Netzwerk, um sich zu verbreiten – ein digitales Ökosystem, das geschaffen war, um Emotionen wie Angst in alle Richtungen zu verstreuen.
Ich möchte dich an ein paar Dinge erinnern, die du wahrscheinlich schon weißt
Jedes Mal, wenn du dein Handy oder deinen Computer startest, ist das für dein Gehirn, als würdest du ein Schlachtfeld betreten. Die Angreifer sind die Architekten deiner digitalen Welt, und ihre Waffen sind die Apps, Newsfeeds und Benachrichtigungen in deinem Sichtfeld. Und zwar jedes Mal, wenn du auf einen Bildschirm schaust.
Sie alle versuchen, deine knappste Ressource – deine Aufmerksamkeit – zu erobern und sie gegen Geld als Geisel zu nehmen. Deine Aufmerksamkeit bedeutet für sie Milliarden an Werbe- und Abonnement-Einnahmen.
Dafür müssen sie die Abwehrmechanismen deines Gehirns erkennen – nämlich deine Willenskraft und dein Verlangen, dich auf andere Aufgaben zu konzentrieren – und herausfinden, wie man sie überwindet.
Du wirst diese Schlacht verlieren. Das hast du bereits. Jeder Durchschnittsmensch verliert sie Dutzende mal pro Tag.
Kennst du das? In einer freien Minute schaust du auf dein Handy, um auf die Uhrzeit zu sehen. 19 Minuten später wachst du in einer völlig anderen Ecke der digitalen Welt auf – im Foto-Stream eines Fremden, in einem überraschenden Nachrichtenartikel, in einem lustigen YouTube-Clip. Du wolltest das gar nicht. Was ist das passiert?
Es war nicht deine Schuld – das ist Absicht.
Das digitale Kaninchenloch, in das du gestürzt bist, wird durch Werbung finanziert, die auf dich persönlich zielt. Fast jede „kostenlose” App oder Dienstleistung, die du benutzt, hängt von diesem Prozess ab, der von dir unbemerkt deine Aufmerksamkeit in Dollar oder Euro verwandelt. Damit das klappt, wurden ausgeklügelte Methoden entwickelt. Du bezahlst kein Geld für die Nutzung dieser Plattformen, aber mach dir nichts vor, du bezahlst für sie – mit deiner Zeit, deiner Aufmerksamkeit und deiner Art und Weise, Dinge zu sehen.
Es geht hier nicht nur um eine kleine, technische Veränderung in Bezug auf die Art Informationen, die du konsumierst, die Werbung, die du siehst, oder die Apps, die du herunterlädst.
Es geht darum, dass sich so deine Sicht auf die Welt tatsächlich verändert.
Der Kampf um deine Aufmerksamkeit
Bevor ich weitermache, möchte ich klarstellen, dass ich hier nicht einfach Technologie verteufeln oder Probleme auflisten möchte. Wie viele andere schätze ich Technik, weil sie mein Gedächtnis unterstützt, meine Produktivität verbessert und mich mit den Menschen verbindet, die mir wichtig sind.
Ich möchte hier nüchtern betrachten, wie die Strategien, mit denen unsere Aufmerksamkeit in der digitalen Welt gefangen wird, uns verändert haben – unser Leben, unsere Medien und unsere Weltanschauung. Dieser allmähliche Wandel hat zu enormen Veränderungen in der Politik geführt, in unserer globalen Sichtweise und in unserer Fähigkeit, einander als Mitmenschen zu sehen.
Viele der größten Probleme, mit denen wir derzeit als Gesellschaft konfrontiert sind, resultieren aus Entscheidungen, die von den versteckten Schöpfern unserer digitalen Welt getroffen werden – den Designern, Entwicklern und Redakteuren. Sie schaffen und kuratieren die Medien, die wir konsumieren.
Diese Entscheidungen werden nicht in böser Absicht getroffen. Sie entstehen hinter Analyse-Dashboards, Split-Test-Panels und Mauern aus Code, die den Benutzer und seine Aufmerksamkeit zu einem berechenbaren Vermögenswert gemacht haben.
Sie tun dies, indem sie sich auf eine einfache Kennzahl konzentrieren, die Werbung als wichtigste Einnahmequelle unterstützt. Diese Metrik wird Engagement genannt. Sie hervorzuheben und über alles andere zu setzen, hat die Art und Weise, wie wir die Nachrichten, unsere Politik und einander sehen, subtil und stetig verändert.
Dieser Artikel soll erforschen wie diese Strategien, unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen, unser Leben beeinflussen.
Dabei gilt es zu untersuchen, wie diese Methoden die Hauptschlagader unserer Sachinformationen – die Nachrichten – grundlegend verändert haben.
Wie? Schauen wir uns die jüngste Vergangenheit an.
Die Geschichte der Nachrichten
„Die Medien”, wie wir sie kennen, sind gar nicht so alt. Für den größten Teil der Geschichte waren die Nachrichten – im Englischen „news“ – im wörtlichen Sinne die „neuen“ Sachen, von denen die Leute hörten und die sie anderen mitteilten. Diese Neuigkeiten waren begrenzt auf räumliche Nähe und Mundpropaganda.
Durch die Erfindung der Druckerpresse wurden Nachrichten zu Notizen an öffentlichen Plätzen und Flugblättern, die an die wenigen Leute verteilt wurden, die sie auch lesen konnten.
Während des 18. und 19. Jahrhunderts verbreiteten sich Zeitungen als Medium, sie waren da aber noch größtenteils Meinungsblätter mit politischen Essays, aufregenden Erzählungen und Skandalgeschichten. Sie waren Sprachrohre für Menschen, die politisch Einfluss nehmen wollten, und viele hatten ein extrem lockeres Verhältnis zu Fakten.
Im Vorfeld des Ersten Weltkrieges erreichte die unkontrollierte Propaganda von allen Seiten in den Nachrichten einen Höhepunkt. Jeder Kriegsteilnehmer nahm an einem heftigen Kampf um die öffentliche Meinung teil. Am Ende des Krieges war klar, dass der Informationskrieg eine mächtige Waffe war – er konnte Armeen aufstellen, gewalttätige Mobs anstacheln und ganze Nationen destabilisieren.
Als Reaktion auf diese systematische Manipulation der Wahrheit gab es die gemeinsame Anstrengung, eine Institution des faktenorientierten Journalismus zu schaffen. Diese Entwicklung begann in den 1920er Jahren. Der Prozess wurde durch die Einführung der ersten medienübergreifenden Kommunikationsnetze eingeleitet: also nationale Zeitungen und nationalen Rundfunk. Allmählich kam das Fernsehen hinzu, und durch diese drei neuen Plattformen bildete sich ein weltumspannendes Mediensystem, das von den Grundsätzen des Journalismus getragen wurde.
Doch gab es für die Nachrichten auch Konkurrenten im Kampf um Aufmerksamkeit, deshalb liebäugelten sie weiterhin mit Übertreibungen. Die Verkaufsförderung (Zeitungen, Anzeigen, Produkte) steht naturgemäß im Widerspruch zu redaktioneller Genauigkeit und ausgewogener sachlicher Berichterstattung. Journalistische Standards und Verleumdungsparagrafen wurden zu gemeinsamen Mechanismen, um diesen Sensationsdrang einzudämmen. Doch in letzter Zeit geschah etwas, als die Nachrichten auf das Internet trafen und in unsere Taschen wanderten: Sie verloren immer mehr den Kampf um unsere Aufmerksamkeit.
Der Aufstieg des Algorithmus
Heute müssen die Nachrichten mit all den anderen Dingen in unserem digitalen Leben konkurrieren – mit Tausenden von Apps und Millionen von Websites. Vor allem aber konkurrieren sie jetzt mit Sozialen Medien – einer der erfolgreichsten Maschinen zur Erregung von Aufmerksamkeit, die jemals geschaffen wurden.
Die Sozialen Medien sind einer der Hauptgründe dafür, dass der Journalismus als Branche stark rückläufig ist. Über sie bezieht ein großer Teil der Bevölkerung heute Nachrichten.
Der größte Player in den Sozialen Medien ist Facebook, und der größte Teil von Facebook ist der Newsfeed.
Der Algorithmus hinter dem Newsfeed wird regelmäßig optimiert und ist nicht zu durchschauen. Er ist einer der bedeutendsten und einflussreichsten Codes, die jemals geschrieben wurden. Du kannst dir den Algorithmus als einen Newsfeed-Redakteur vorstellen. (Twitter, Snapchat und Youtube haben alle ihre eigenen redaktionellen Algorithmen, aber wir konzentrieren uns hier wegen dessen Marktbeherrschung auf Facebook).
Der Newsfeed-Editor ist ein Roboter, der viel besser als normale menschliche Redakteure Aufmerksamkeit kreieren kann. Besser als jeder deiner Freunde und Bekannten kann er voraussagen, was du anklicken wirst. Professor Pablo Boczkowski von der Northwestern University hat ihn als „den wichtigsten Redakteur in der Geschichte der Menschheit” bezeichnet.
Er zeigt dir Geschichten, verfolgt deine Antworten und filtert diejenigen Storys heraus, auf die du am allerwenigsten reagierst. Er folgt den Videos, die du dir ansiehst, den Fotos, über die du mit dem Mauszeiger fährst, und jeden Link, auf den du klickst. Er kartiert dein Gehirn und sucht nach Mustern deines Engagements.
Er verwendet diese Karte, um eine private persönliche Medienpipeline für dich zu erstellen. So ist er zum Chefredakteur einer personalisierten Zeitung geworden, die monatlich zwei Milliarden Menschen lesen.
Nach klassischen journalistischen Maßstäben ist der Newsfeed-Editor jedoch sehr schlecht in dem, was er tut. Es unterscheidet nicht zwischen Sachinformationen und Dingen, die nur wie Fakten aussehen (wie wir bei der explosionsartigen Ausbreitung viraler Falschmeldungen während der US-Wahl 2016 gesehen haben). Er identifiziert keine Inhalte, die zutiefst parteiisch sind, oder Geschichten, die dazu bestimmt sind, Angst, Misstrauen oder Empörung zu verbreiten.
Der Newsfeed-Editor hat die Art und Weise verändert, wie Nachrichten verfasst werden. Er ist es, der den Nachrichtenseiten weltweit ihr wesentliches Publikum zuspielt, und er hat das Verhalten von denjenigen verändert, die Inhalte erstellen. Damit eine Geschichte vom Newsfeed-Editor aufgegriffen wird, haben Nachrichtenproduzenten (und menschliche Redakteure) ihre Strategien geändert, um wichtig zu bleiben und Verluste einzudämmen. Dafür haben viele Nachrichtenorganisationen eine Traffic-um-jeden-Preis Mentalität angenommen und dringen auf immer noch mehr Engagement – auf Kosten dessen, was wir traditionell redaktionelle Genauigkeit nennen.
Aus genau diesem Grund beginnen viele der Nachrichten, die man heute sieht, mit übertriebenen, dramatischen, aufmerksamkeitsheischenden Aussagen. Sie wollen dein Interesse wecken und sich von der Konkurrenz abheben. Die Nachrichtenindustrie hat den Kampf um Aufmerksamkeit verloren und ist verzweifelt.
Was die Nachrichten tun, um konkurrenzfähig zu bleiben
Mit emotionalen Verpackungen Aufmerksamkeit erregen.
Emotionale Reaktionen gehören zu den wichtigsten Möglichkeiten, den Wert eines Beitrags abzuschätzen. Sie sind für den Newsfeed-Editor einfach zu erfassen und zu messen. Sie kapern deine Aufmerksamkeit durch emotionale Teilnahme.
Der Newsfeed hat die Tendenz, affektive, emotionale Inhalte zu bevorzugen – denn sie führen zu mehr Klicks, Likes, Shares und Kommentaren.
Sensationelle Schlagzeilen sind ein wichtiger Teil davon. Diese Nachrichten bleiben hängen und gewinnen mehr Aufmerksamkeit beim Newsfeed-Editor. Sie verbreiten sich schneller und führen zu mehr Traffic als ihre weniger übertreibenden Pendants.
Hier eine Auswahl an Wortkombinationen mit Top-Performance aus einer aktuellen Studie, für die 100 Millionen Schlagzeilen erfasst wurden:
- Freudentränen
- Bringt dich zum Weinen
- Macht dir Gänsehaut
- So niedlich
- Hat mich schockiert
Dies wird als Headline-Packaging bezeichnet: Die Art und Weise, wie eine Meldung in einen Kontext gesetzt oder verpackt wird, um mehr Klicks zu erzeugen. Wer die Schlagzeile schreibt, ist selten der Autor der Geschichte selbst.
Wie der Fusion-Redakteur Felix Salmon kürzlich schrieb: „Der Zeit- und Arbeitsaufwand, der in die Verpackung einer Story gesteckt wird, kann den Zeit- und Arbeitsaufwand, der in die Erstellung der Story gesteckt wurde, deutlich übersteigen.”
Die Verpackung wird durch A/B-Tests überprüft. Das ist eine Möglichkeit ist, noch mehr Traffic zu erzeugen. Indem man Dutzende verschiedener Schlagzeilen testet und misst, welche die meisten Klicks erhalten, kann das Schreibens einer Schlagzeile zu einem Spiel abstrahiert werden. Das Ziel? So viel Aufmerksamkeit wie möglich gewinnen.
Es gibt mächtige Werkzeuge für diese Verpackung, und sowohl Facebook als auch Twitter unterstützen sie – sie nennen das Optimierung. Mit diesen Werkzeugen und einer kleinen Portion Kreativität kann eine Sachgeschichte provozierend oder sensationell verkauft werden – je nachdem, wie die Überschrift geschrieben wird.
Das Problem dabei ist, dass die Mehrheit der Leute, die diese Beiträge in ihren Social-Media-Kanälen sehen, nicht wirklich darauf klicken, um die Artikel selbst zu lesen. Für viele Nutzer wird die Überschrift selbst zur Geschichte, auch wenn sie nicht dem eigentlichen Sachverhalt entspricht.
Es ist leicht zu sehen, wie diese Strategien eingesetzt werden können, um Inhalte überparteilich, spaltend und/oder empörend zu machen. Wie mir der ehemalige Content-Chef eines großen Verlages kürzlich sagte: „Es ist nicht unsere Aufgabe, politische Meinungen infrage zu stellen. Es ist unsere Aufgabe, Politik so weit wie möglich voranzutreiben.”
Es ist kein Geheimnis in der Verlagswelt, dass Parteinahme ein erstaunlicher Motor für Engagement ist. Die Menschen klicken, kommentieren und teilen lieber Dinge, die ihnen ein gutes Gefühl geben –und Geschichten, die unsere Überzeugungen bestätigen, fühlen sich gut an.
Was mit uns passiert
Wenn empfundene Bedrohung zur „Realität” wird
Die Optimierung des Engagements hat unsere Wahrnehmung von Bedrohungen sehr stark verzerrt.
In der Geschichte der Menschheit waren die verfügbaren Informationen in der Regel sehr hilfreich für unser Überleben. Wenn du viele Geschichten über Angriffe von wilden Hunden gehört hast, wusstest du, dass du bei wilden Hunden wachsam zu sein hattest.
Dieses liegt an einem Aspekt der menschlichen Natur, der Verfügbarkeitsheuristik genannt wird. Der Begriff beschreibt eine Abkürzung für unser Gehirn, die uns glauben lässt: „Wenn es einem schnell einfällt, muss es wahr sein.”
Da die verfügbaren Informationen tendenziell der beste Indikator für Wahrscheinlichkeit sind, haben unsere Gehirne dieses System entwickelt, um uns wissen zu lassen, was wir von der Welt um uns herum erwarten können. Bei Bedrohungen ist dies übermäßig ausgeprägt, da der Vorteil von Angst vor Dingen, die uns töten könnten, die Kosten bei weitem überwiegen (für unsere Vorfahren war Sterben viel schlimmer als nur übervorsichtig zu sein).
Heute entsprechen die verfügbaren Informationen über Bedrohungen keineswegs der Realität – sie spiegeln in erster Linie die Medien wider, die wir konsumieren.
Schauen wir uns die Verbrechensrate in den USA an:
Ungeachtet dessen, dass die Kriminalität in den letzten 30 Jahren dramatisch zurückgegangen ist, glaubt mehr als die Hälfte der Bevölkerung, dass sie wesentlich schlimmer ist als in den vergangenen Jahren.
Medien (und jetzt Social Media) sind ein wichtiger Bestandteil der Annahmen, die unsere Sichtweise beeinflussen. Eine Fokussierung auf Kriminalität in der Nachrichtenberichterstattung ändert nicht nur unsere Meinung über Kriminalität im Allgemeinen – sie gibt uns das Gefühl, dass wir weitaus bedrohter sind, als wir es sein sollten. Für die meisten von uns sind Wahrnehmungen Realität. Wenn wir die Welt als einen gefährlichen Ort betrachten, verändert das unser Verhalten und unsere Einstellung, unabhängig von der tatsächlichen Bedrohung.
Wie unser Mediensystem unsere Ängste schürt
Ein Paradebeispiel dafür ist der Terrorismus, der sich heute so präsent anfühlt wie nie zuvor in der modernen Geschichte. Wenn man die Titelseite großer Zeitungen liest, könnte man meinen, dass er eine der häufigsten Todesursachen weltweit sei.
Dennoch sind mit dem Terrorismus zusammenhängende Tötungsdelikte ein winziger Bruchteil der gesamten Mordrate, insbesondere in den USA. Es gibt eine tiefgreifende Asymmetrie in der Berichterstattung über terroristische Anschläge im Vergleich zu anderen Arten von Morden, wie eine kürzlich durchgeführte Zwei-Jahres-Stichprobe von Titelseiten-Geschichten zeigt, die von der New York Times gesammelt wurden.
Terrorismus ist ein starkes emotionales Ereignis. Eines, das die Grundfesten der Zivilgesellschaft und der Menschenwürde zu verletzen scheint. Es gibt viele legitime Gründe, warum uns solche Angriffe empören, und warum wir sie öffentlich behandeln und diskutieren sollten.
Allerdings kommt hier die unbequeme Wahrheit über die Bedeutung des Terrorismus in unserem Leben: Wir haben ein schnelles Verteilungssystem aufgebaut, das genau das erzeugt, was sein Ziel ist: Terror.
Die Angst davor übertrifft bei weitem die Wahrscheinlichkeit, dass es uns oder jemanden, den wir kennen, betreffen wird. Noch bedrohlicher ist, dass die übermäßige Berichterstattung über diese Attacken oft genau das ist, was die Täter wollen.
Der sogenannte Islamische Staat (ISIS) nutzte dieses übertriebene Medien-Ökosystem während seines rasanten Aufstiegs in nur drei kurzen Jahren ab 2014. Er erkannte, dass er um Aufmerksamkeit kämpfte und konzentrierte sich auf seine Marketingstrategie genau so stark wie auf seine militärischen Schritte. Er baute einen Medienflügel auf, um Grenzen zu überschreiten und seine Heldentaten zu übertreiben und die Geschichte zu erzählen, dass er gewann, unterstützt wurde und wuchs.
Seine Anstrengung, die Medien-Narrative durch Gewalttaten zu dominieren, machte ihn zu einer Hauptgefahr für den Westen – und das trotz der Tatsache, dass er eine relativ kleine feststehende Armee, begrenzte Ressourcen und fast keine internationale Unterstützung hatte. Die Berichterstattung in den Medien erlaubte es ISIS, seine Narrative zu nutzen, um Kämpfer aus der ganzen Welt für Syrien und den Irak zu rekrutieren, und unzufriedene Personen ohne formale Bindung an die Organisation zu Angriffen zu bewegen.
ISIS und Konsorten wissen, dass sie um Aufmerksamkeit kämpfen müssen, und haben gelernt, wie man das Spiel spielt. Die traurige Wahrheit ist, dass die Medienunternehmen richtig viel Geld an Terroranschlägen, Massakern und ernsten Bedrohungen verdienen.
Die Medien sind zum Scheinwerfer geworden, der die einzelnen Geschichten beleuchtet und so einen riesigen Schatten wirft, der weitaus furchteinflößender ist als die tatsächlichen Ereignisse.
Wie unsere Medien Empörung schüren und Politik verändern
Dieselbe Dynamik entfaltet sich auch in der Politik. Während des US-Wahlzyklus 2016 erzielte CNN einen Bruttogewinn von über einer Milliarde Dollar gegenüber dem Vorjahr. Und zwar vor allem durch Werbung, die mit Nachrichten über den ungeheuerlichsten aller Kandidaten, Donald Trump, verbunden war.
Es war nicht das erste Mal, dass er für das Präsidentenamt kandidieren wollte. 1987, 2000, 2004 und 2011 zog Trump öffentlich eine Kandidatur für das höchste Amt der Nation in Betracht. Im Jahr 1999 trat er offiziell als Kandidat der Reformpartei in das Rennen ein, testete seine Plattform und bewertete die Reaktion, um schließlich zu entscheiden, dass er nicht die nötige Bodenhaftung für den Sieg bekommen konnte. Nach seiner erfolglosen Kampagne 1999 stellte Newsweek fest, dass es im Land einfach nicht genug Ärger gab, um einen unabhängigen Kandidaten zum Sieg zu befördern.
Sein Tonfall hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten kaum verändert. Was also war zuletzt anders an den Vorjahren? Ein wichtiger Unterschied war, dass die Medien früher nicht für die Art von Empörung optimiert waren, die man für einen Kandidaten wie Trump brauchte.
Dies war der Mechanismus, der zur Ausgestaltung der Kampagne 2016 führte: Je empörender seine Worte, desto mehr Berichterstattung erhielt er. Je mehr Berichterstattung er erhielt, desto tragfähiger wurde seine Kandidatur. Das Analytikunternehmen Mediaquant schätzte, dass Trump zwischen Oktober 2015 und November 2016 kostenlose Berichterstattung im Wert von insgesamt 5,6 Milliarden Dollar aus dieser Strategie erhielt, dreimal so viel wie sein unmittelbarer Konkurrent.
In der Politik ist es ein gewaltiger Vorteil, über Medienplattformen zu verfügen. Bei jeder Wahl ist es eine der größten Herausforderungen, sich von den Konkurrenten abzusetzen und beachtet zu werden.
Die Geschichten über die Kandidaten verbreiteten sich auf Social Media schneller und weiter als anderswo. Facebook und Twitter – ebenso wie CNN – sahen massive Traffic- und Umsatzspitzen dank der sensationsgeladenen Nachrichten, die auf ihren Plattformen verbreitet wurden, und der Aufmerksamkeit, die sie erregten.
Trumps Ideologie, Haltung und Aussagen zielten auf die Angst vor globalen Bedrohungen ab. Die Glaubwürdigkeit seiner Kandidatur war teilweise davon abhängig, dass viele dieser Bedrohungen als real wahrgenommen wurden.
Wir haben die profitgetriebene Propaganda demokratisiert
Es ist unmöglich, das Mediensystem von einer funktionierenden Demokratie zu trennen. Unsere Meinungen werden immer von den Nachrichten beeinflusst, und unsere Abstimmungsentscheidungen spiegeln dieses Wissen wider. Wenn man die Gesellschaft als einen großen kollektiven menschlichen Organismus betrachtet, sind die Nachrichtenmedien so etwas wie ein zentrales Nervensystem. Es hilft uns, auf Bedrohungen zu reagieren, Informationen auszutauschen und herauszufinden, was korrigiert werden muss.
Wie dieses Nervensystem gesteuert und beeinflusst wird, sagt eine enorme Menge darüber aus, wie die Gesellschaft funktioniert – worum es uns geht, wen wir schützen, wen wir bekämpfen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wussten Politiker, Medienmogule und Akademiker um den Wert dieses Einflusses. Er hatte einen Namen: Propaganda.
Propaganda brauchte Geld, Talent und Infrastruktur, um Inhalte zu kreieren und zu verteilen. Sie war ein teures und stumpfes Instrument für die Kontrolle von oben nach unten.
Heute haben wir Propaganda demokratisiert – jedermann kann diese Strategien verwenden, um Aufmerksamkeit zu ergattern und eine irreführende Erzählung, eine übertriebene Geschichte oder eine ungeheuerliche Ideologie zu fördern – solange sie Aufmerksamkeit erregt und einen Profit für Werbekunden erzielt.
Der Journalismus – der historische Gegenpol zur Propaganda – ist zum größten Opfer in diesem Algorithmuskrieg geworden. Ohne ihn löst sich die gemeinsame, ausgewogene Wahrnehmung der Realität auf.
Dieses System wird nicht wieder verschwinden
In vielerlei Hinsicht sind diese Algorithmen ein Spiegelbild von uns. Sie bilden natürliche menschliche Verhaltensweisen und Tendenzen ab – was wir anklicken, worüber wir uns empören, was wir lieben werden. Sie sind ein Teil von uns. Doch zeichnen diese Karten einige unserer schlimmsten Vorurteile, irrationalen Ängste und schlechten Gewohnheiten nach. Wir müssen Algorithmen entwickeln, die das berücksichtigen.
Wir haben versehentlich ein Mediensystem geschaffen, das viele unserer Fehler monetarisiert. Es wird nicht verschwinden – wir können es nicht einfach wieder in die Kiste stecken.
Das Wissen darum, wie man das menschliche Gehirn zuverlässig für Aufmerksamkeit missbraucht, ist einer der bedeutendsten neuen Trends des 21. Jahrhunderts. Wie jede große Erfindung der Geschichte, hat diese Entdeckung unerwartete Folgen, die schwer vorherzusagen sind.
Wenn wir weiterhin in einer gemeinsamen Realität leben wollen, müssen wir bereit sein, diese Erkenntnisse mit einem klaren Kopf zu betrachten. Um die größten Probleme der Menschheit anzugehen – vom Klimawandel über Pandemien bis hin zur Armut –, müssen wir ein gemeinsames Narrativ der wirklichen Probleme haben, mit denen wir konfrontiert sind: echte Bedrohungen, echte Gründe für Empörung.
Ohne dies untergraben wir unsere größte Stärke – unsere einzigartige Fähigkeit, zusammenzuarbeiten und die wichtigen Lasten des Menschseins zu teilen.
Mein ganz besonderer Dank geht an Nemil Dalal, Pablo Boczkowski von der Northwestern University und Ev Boyle von der USC Annenberg, die Daten und Erkenntnisse zur Verfügung gestellt haben, die ich in diesem Artikel verwendet habe.
Dieser Artikel ist zunächst auf Englisch bei Medium.com erschienen. Mit Erlaubnis des Autors hat Vera Fröhlich den Text übersetzt. Schlussredaktion machten Rico Grimm und Theresa Bäuerlein. Das Aufmacherbild hat Martin Gommel ausgesucht (iStock / PeopleImages).