Fast alle Nachrichten zum Thema Prostitution zeigen diese Bilder: junge, knapp bekleidete Frauen mit einem schwarzen Balken dort, wo wir in ihre Augen sehen könnten. Wie sie einsam an einer Straße stehen, kaum mehr als Netz und Unterwäsche am Körper. Im Hintergrund sitzen die Zuhälter, Männer, die sie zu dieser Arbeit zwingen. Wir hören von den Schleusern, die Frauen aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland bringen, lesen von den Klagen über Deutschland als „Bordell Europas”, wo Menschenhändler und Banden an einer Frau im Durchschnitt 65.000 Euro verdienen sollen.
Die Zahlen, die diese Bilder begleiten, sind erschütternd. Die europäische Kommission schätzt, dass allein zwischen 2010 und 2012 30.000 Menschen in Europa Opfer von Menschenhändlern geworden sein sollen, 80 Prozent davon sollen Frauen und Mädchen sein, die für Sex ausgebeutet werden. Selbst diese Zahlen beschreiben wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs, die Dunkelziffer ist mit Sicherheit höher.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) geht davon aus, dass weltweit fast 21 Millionen Menschen von Menschenhandel und Zwangsarbeit betroffen sind, rund drei Millionen in den 57 OSZE-Staaten. Experten gehen davon aus, dass nur schmale drei Prozent dieser Fälle aufgedeckt werden. Zwangsprostituierte würden ähnliche Schäden davontragen wie Folteropfer, hieß es in der Stuttgarter Zeitung.
Wir wollen Zwangsprostituierte befreien und Freier bremsen
Angesichts dieses Elends ist es kein Wunder, dass wir Prostituierte aus ihrer Situation befreien wollen, und dass wir Prostitution per se für ein Problem halten. Sex gegen Geld, nehmen wir an, passiere grundsätzlich unfreiwillig. Es sei Frauen gar nicht möglich, in einen solchen Handel einzuwilligen, wenn sie nicht dazu gezwungen würden. Und genauso überzeugt sind wir davon, dass nur die Prostituierten unter Zwang handeln – nicht die Freier. Im Gegensatz zur Hure, meinen wir, sei ein Freier mehr als freiwillig dabei und müsse deshalb gebremst, ermahnt und an seinem Begehren gehindert werden.
Genau diese Art des Denkens möchte ich untersuchen. Ich will eine gewagte Frage stellen: Was liegt in der Tiefe von Prostitution, wenn wir unterhalb des Offensichtlichen die Probleme suchen? Mit anderen Worten: Gewalt und Ausbeutung mögen das globale Gesicht von Prostitution sein – aber sind sie auch ihr Herz?
Der Journalist Johannes Böhme verfasste im März 2017 in der Zeit einen offenen Brief, in dem er sich an „die Freier” wendet. Der Text spiegelt besonders deutlich wider, wie viele von uns, vielleicht die meisten, über das Geschäft mit sexuellen Dienstleistungen denken. Der Tenor dieser Haltung ist: Zu einer Prostituierten zu gehen ist unethisch, weil es ein System unterstützt, welches auf Ausbeutung beruht. „Liebe Freier, es gibt keine harmlose Prostitution”, schreibt Böhme.
Und erzählt von seinem Freund René, der zu schüchtern sei, um Frauen anzusprechen, geschweige denn, sie ins Bett zu kriegen. René war so unattraktiv und schüchtern, dass er sexuell unerfahren blieb, und das verstärkte seine Scham. Irgendwann beendete René diesen Teufelskreis, indem er zu Prostituierten ging. Einmal. Und dann immer wieder. Der Sex mit Huren erlöste René von dem lähmenden Gefühl, sexuell ausgeschlossen zu sein.
Alle Freier unterstützen Menschenhändler – stimmt das?
Ist es das wert? Rechtfertigt die Erleichterung von René, dass er in das System Prostitution einzahlt? Böhme sagt Nein. Weil Männer wie René Verbrechern zuarbeiten würden. Die Prostitution sei ein zynisches „Menschenverwertungsgeschäft”, in dem Frauen aus armen Ländern wie Fleisch an den Mann gebracht würden. Selbst sanfte, freundliche Männer wie René würden unweigerlich zu Tätern, weil ihr Geld auch ohne ihre Zustimmung den Zwangsmarkt unterstütze. Auch ein Freier, der niemandem schaden wolle, schade demnach also jemandem, weil sein Geld unweigerlich bei den Menschenhändlern lande, die eben jene Prostituierte zu ihrem Job zwingen würden.
Wie viele Zwangsprostituierte es gibt, weiß niemand genau, was auch daran liegt, dass sich „Freiwilligkeit” schlecht quantifizieren lässt. „Freiwillig Prostituierte sein” übersetzen viele Menschen mit „die Arbeit aus Spaß am Sex machen”. Laut Auskunft von Beratungsstellen für Prostituierte, wie Hydra in Berlin, stimmt das nur für einen kleinen Prozentsatz der Prostituierten. Viele andere machen ihre Arbeit, wie eben die meisten ihren Job machen – Erwerbsarbeit ist in dem Moment nie ganz freiwillig, in dem es ökonomischen Druck und die Notwendigkeit gibt, überhaupt zu arbeiten. Das gilt also für 99 Prozent der Menschen. Natürlich gibt es aber einen Unterschied zwischen ökonomischer Notwendigkeit und Gewalt und Zwang.
Die Forscherin Sabine Grenz sagt in einem Interview mit der Zeit, dass zwischen 2 und 20 Prozent der Prostituierten in Deutschland zu ihrer Arbeit gezwungen würden. Sie sagt aber auch, dass es keine verlässlichen Zahlen gibt. Manche Strafverfolgungsbehörden gehen davon aus, dass der größte Teil der Prostituierten nicht freiwillig arbeitet oder ausgenutzt wird. Auf der anderen Seite stehen die Hurenbewegung und das Bündnis der Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter, die davon ausgehen, dass der größte Teil der Prostituierten selbstbestimmt arbeitet.
Wahrscheinlich hängt diese unterschiedliche Wahrnehmung damit zusammen, welchen Ausschnitt der Prostitutionsrealität die jeweilige Quelle in ihrem Berufsalltag sieht. Anders gesagt: Sozialarbeiterinnen in Beratungsstellen begegnen eher Frauen, die sich den Job ausgesucht haben, Sozialarbeiterinnen in Drogenberatungsstellen und Krisenzentren begegnen eher den Elendsbereichen der Prostitution, und Polizisten stoßen auf die kriminellen Fälle.
„Mich hat niemand gezwungen und niemand ausgebeutet”
Ich möchte diese Annahme entschieden infrage stellen. Ich zweifle den allgemeinen Konsens an, dass der Tausch von Sex gegen Geld grundsätzlich zwischen Täter und Opfer stattfindet – und dass wir genau wissen, wer hier Täter und wer Opfer ist und wo die Achse der Macht verläuft. Tatsächlich gibt es so viele unterschiedliche – und gegensätzliche – Formen von Sexarbeit, dass wir sie unmöglich unter einem einzigen Begriff zusammenfassen können.
Über Prostitution in einer differenzierten Weise zu sprechen, wird schon durch unsere Sprache erschwert. Längst nicht alle Formen von Prostitution gehen mit Zwang und Gewalt einher. Mich zum Beispiel hat niemand gezwungen und niemand ausgebeutet. In den zwei Jahren meiner Prostitution wäre mir nicht im Traum eingefallen, einen Zuhälter zu haben. Menschenhändler? Ich wusste kaum, was das war.
„Und wie viel musstest du abgeben?”, werde ich häufig gefragt, wenn es darum geht, was mit dem Geld im Puff passiert, wenn der Freier es aus der Hand gibt. Meine Antwort ist: „Gar nichts.” Tatsächlich wäre es Zuhälterei, wenn eine Prostituierte von ihrem Geld etwas abgeben müsste. Zuhälterei ist in Deutschland verboten.
Stattdessen habe ich von einem Freier immer zwei Beträge entgegengenommen – meinen eigenen Verdienst, von dem ich selbstverständlich nichts abgab, und einen weiteren Betrag, den ich als Treuhand für die Bordellgründerin entgegennahm und der die Vermietung der Zimmer an uns selbstständige Huren, die Werbung, das Honorar der Hausdamen etc. beinhaltete. Diesen Betrag habe ich vollständig weitergeleitet.
Diese Unterscheidung mag spitzfindig wirken oder unnötig, ist in meinem Empfinden aber essenziell. Nicht nur ist es juristisch die einzige korrekte Form der Beschreibung, es ist auch die einzige Möglichkeit, sprachlich mein Menschenrecht auf sexuelle Selbstbestimmung abzubilden.
Eine Prostituierte, wie ich sie war, ist eine unbedingt selbstbestimmte Frau – niemand hat ein Weisungsrecht ihr gegenüber, und niemand steht in der Hierarchie über ihr. Die Art ihrer Arbeit, Umfang ihrer Arbeit, ihre Arbeitszeiten, mit wem sie arbeitet und wie – all das sind Aspekte, die allein ihrer Entscheidung unterliegen. Jeder Eingriff von außen wäre ein Eingriff in ihr Menschenrecht der sexuellen Selbstbestimmung.
Niemand darf Sex gegen Geld und Sex unter Zwang gleichsetzen
Wenn wir über Sex gegen Geld und Sex unter Zwang reden, muss uns klar sein, dass wir dabei zwei verschiedene Themen behandeln. Häufig setzen wir beides gleich, wir reden über Sex gegen Geld, als sei das grundsätzlich Sex unter Zwang. Während ich nicht bestreite, dass Sex gegen Geld häufig mit Zwang einhergeht, bezeuge ich, dass das nicht automatisch der Fall ist – und damit bin ich keine Ausnahme.
Für eine intelligente und präzise Diskussion über Prostitution ist Klarheit unerlässlich: Sex gegen Geld ist ein Tauschgeschäft – Sex unter Zwang ist ein Verbrechen. Sex gegen Geld verkauft und entwürdigt mich nicht mehr (oder nicht weniger), als wenn ich jemandem die Haare schneide oder seinen Sportwagen repariere oder ihm ein Biobrötchen verkaufe. In unserer Gesellschaft werden Dienstleistungen verkauft.
In unserer Gesellschaft wird auch Lebenszeit verkauft und Lächeln und Zuwendung. Überall. Und es werden Menschen verkauft und versklavt. Nicht nur auf Straßenstrichen und in Bordellen, sondern auch auf Baustellen, in Restaurantküchen und auf Erntefeldern. Sie werden als Haushaltshilfen ausgebeutet, beim Friseur und in Altenheimen.
Etwa zwei von drei Menschenhandelsopfern landen in der Prostitution. Das ist viel. Aber was ist mit dem restlichen Drittel? Kaum jemand empört sich darüber, wie schlimm es ist, dass eine Sklavin in Sizilien unsere Antipasti eingelegt hat, die wir abends beim Lieblingsitaliener verspeisen. Oder dass man kaum an einer Großbaustelle vorbeigehen kann, ohne Männer aus Osteuropa zu sehen, die ausgebeutet werden. Wir hören das Wort „Menschenhandel” und denken sofort an Prostituierte und das Schlagwort von der „Ware Frau”. „Die Frauen erscheinen als willenlose, passive und unwissende Geschöpfe, denen eine extrem gut organisierte, furchterregende und skrupellose Männermacht gegenübersteht”, beschreibt die Soziologin Christiane Howe dieses Bild.
Zum einen liegt das daran, dass Organisationen wie dem Deutschen Institut für Menschenrechte zur Ausbeutung in der Sexindustrie die meisten Zahlen vorliegen. Ein anderer Grund ist, dass unsere Debatten über Prostitution emotionsgeladen sind und von moralischen Vorstellungen über Sex und Täterschaft durchzogen. Eben deswegen hält sich hartnäckig die Idee, es sei ein himmelweiter Unterschied, ob wir uns in einer Bankfiliale, in einem Studium der Medizin oder in einem Puff „verkaufen”.
Ökonomische Zwänge interessieren uns nur, wenn es um Sex geht
Wenn wir ehrlich sind: Wie freiwillig arbeitet eigentlich jede(r) von uns? Wie selbstbestimmt sitzt die Managerin an ihrem Schreibtisch, putzt die Putzfrau unsere Toilette und sitzt der Kassierer an der Kasse? Wie fair sind Ressourcen verteilt, die eine Berufswahl überhaupt möglich machen?
Dass Freiwilligkeit in der Erwerbsarbeit immer eingeschränkt ist, akzeptieren wir täglich. Wir finden es normal, dass wir ökonomischen Zwängen ausgesetzt sind, weil wir unsere Existenz sichern müssen. Und auch, dass immer mehr Menschen prekär beschäftigt sind. Wir haben daran erst in dem Moment ein brennendes Interesse und flammende Kritik, wenn in diesen Arbeitsbereichen Sex vorkommt.
Mit anderen Worten: Uns interessiert nicht wirklich, ob Menschen an sich frei arbeiten dürfen. Aber wir fühlen uns moralisch erhaben genug, um zu wissen, dass Prostituierte nicht frei sein können.
Wir sind uns alle so sicher, wie man über die Prostitution zu denken hat, obwohl doch angeblich niemand von uns je damit in Berührung kommt. Wie können wir so viel wissen über ein Thema, welches wir so weit von uns weisen? Nach und nach wurden mir unsere Behauptungen über Huren verdächtig.
Heute bin ich sicher: Mit unseren Begriffen und Bedenken zum Thema Prostitution lenken wir häufig von uns selbst ab. Ja, wir haben recht damit, dass es Zwangsprostituierte gibt. Wir haben auch recht damit, dass wir dieses entsetzliche globale Verbrechen beenden müssen.
Aber wir lösen dieses Problem erst, wenn wir uns ernsthaft damit auseinandersetzen, warum wir Prostitution erschaffen haben und am Leben erhalten. Unsere medialen Schlagzeilen zum Thema Prostitution sind ein Kulissentrick, damit wir das Offensichtlichste vom Offensichtlichen übersehen. Und dieses Offensichtliche, was ist das?
Dieser Artikel ist ein Kapitel aus dem Buch „Lieb und teuer” – ein weiteres Kapitel daraus könnt ihr in der nächsten Woche lesen. Ilan Stephani, 1986 in Berlin geboren, ist heute als Körpertherapeutin und Autorin tätig. Sie leitet Seminare für Frauen und bloggt über Sexualität und Freiheit. Theresa Bäuerlein hat sie beim Schreiben ihres Buches unterstützt. Es ist im Oktober 2017 im Ecowin-Verlag erschienen.
Illustration: Sibylle Jazra für Krautreporter.