Der 8-Stunden-Tag ist eine der ältesten Forderungen der Arbeiterbewegung. Er ist Kern ihrer Gründungsidee. „Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Erholung, acht Stunden Schlaf”, forderte der britische Unternehmer und Frühsozialist Robert Owen im Jahr 1830, zur Hoch-Zeit der Industrialisierung. Das bedeutete zu jener Zeit eine deutliche Verkürzung des täglichen Arbeitspensums. Denn in Deutschland standen die Arbeiter Ende des 19. Jahrhunderts an sechs Tagen die Woche jeweils elf Stunden an der Werkbank. Und obwohl sich Owen mit seinem Vorschlag vorerst nicht gegen den Widerstand der Fabrikanten durchsetzen konnte, war sein Verdienst, diese radikal neue Idee in die Welt gesetzt zu haben.
Die Arbeitszeiten und die Arbeitswelt haben sich in den letzten hundert Jahren fundamental gewandelt. Gerade stecken wir wieder in einer Phase des grundlegenden Umbruchs. Und die Frage ist berechtigt: Was würde passieren, wenn man flächendeckend bei gleichem Lohn den 6-Stunden-Tag als Norm einführen würde? Würde die Wirtschaft zusammenbrechen? Oder wäre das für alle ein Gewinn?
Das wollte die schwedische Stadt Göteborg wissen und hat ein Pilotprojekt in öffentlichen Unternehmen gestartet. Das Experiment sollte die Frage beantworten, ob Menschen, die kürzer arbeiten, ihren Job wirklich besser und effektiver machen. Der Autobauer Toyota und ein großer Autohändler hatten das in Schweden schon erprobt. Städtische Unternehmen sollten nachziehen. Deshalb arbeiteten 89 Pfleger des staatlichen Svartedalen-Altersheims gut zwei Jahre lang nur sechs statt acht Stunden und bekamen trotzdem weiterhin das gleiche Gehalt. Mit welchen Konsequenzen?
Ergebnis: Das Personal meldete sich seltener krank und war deutlich produktiver. Das Wohlbefinden stieg, denn die Menschen waren weniger gestresst und hatten mehr Freiraum. Das kam auch den Bewohnern des Altersheims zugute. Die beteiligten Arbeitgeber waren sich einig, dass die verkürzten Arbeitszeiten große Vorteile hatten. Dennoch gilt das Experiment für die Stadt Göteborg letztlich als gescheitert, denn, so ließ einer der Verantwortlichen, Daniel Bernmar verlauten: „Wir können uns das langfristig nicht leisten.“ Es brauche mehr Arbeitskräfte (im Heim waren es 14 zusätzliche Pfleger) und dafür fehlt anscheinend besonders den öffentlichen Arbeitgebern das Geld. Anders beim Autohändler: Er hat den 6-Stunden-Tag beibehalten (bei vollem Lohnausgleich), weil es sich für ihn auszahlt.
Acht Stunden sind das Maß der Dinge
In einer nicht-repräsentativen Umfrage habe ich die KR-Leser nach ihren Arbeitszeiten und ihrem Berufsalltag gefragt. Mehr als 600 Leser haben sich daran beteiligt und geschildert, wie ihr Arbeitsleben aussieht. Die Spannbreite eurer Erfahrungen spiegelt ziemlich gut die Arbeitswelt in Deutschland wider. Da ist zum Beispiel Karo, Social Media Managerin in einem Versandunternehmen. Sie hat eine 4-Tage-Woche und findet die „absolut ausreichend, um die Aufgaben zu schaffen. Weniger unnötige Meetings, weniger Kaffeepausen und Surfen.“ Stephan hingegen arbeitet in der Baubranche. Er schreibt: „Ich werde monatlich pauschal bezahlt. Grundlage sind 40 Stunden pro Woche. Real arbeite ich aber mehr.“ Für KR-Leser Reinhard sind seine 40 Stunden in der Automobilbranche genau richtig („bin ausgefüllt und baue keine zusätzlichen Überstunden auf“). Während Cornelius als Polizeibeamter eigentlich eine 41,5-Stunden-Woche hat, aber tatsächlich mehr arbeitet.
Ich muss 40 Stunden absitzen, aber oft würden auch 25 bis 30 Stunden ausreichen für den Job. Es tun aber alle so, als wäre waaaahnsinnig viel zu tun.
KR-Leserin Laura
Dass wir acht Stunden heute überhaupt als Maß eines Arbeitstages betrachten, hat seinen Ursprung in der Arbeiterbewegung. Sie bildete sich im frühen Industriekapitalismus heraus, der durch einen rasanten technischen Aufschwung und gesellschaftlichen Wandel geprägt war. Die selbstbewusster werdenden Lohnarbeiter in den Fabriken forderten bessere Bedingungen für sich. Dazu gehörten insbesondere kürzere Arbeitszeiten.
Wenn wir heute bezweifeln, dass ein kürzerer Arbeitstag funktionieren kann, vergessen wir, dass Fabrikanten vor hundert Jahren schon den 8-Stunden-Tag unerhört fanden und den Untergang der Arbeitswelt prophezeiten. Der Pariser Arbeiterkongress von 1899 erklärte den 1. Mai zum Feiertag der Arbeiter, an dem sie für die Einführung des 8-Stunden-Tages auf die Straße gehen sollten. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands schrieb die Forderung zwei Jahre später in ihrem Erfurter Programm fest. Die entscheidende Wende brachte die Novemberrevolution 1918, in deren Folge der Kaiser entmachtet und die Republik ausgerufen wurde. Unter der Führung von Reichspräsident Friedrich Ebert wurde der 8-Stunden-Tag gegen den massiven Widerstand der Fabrikanten erstmals vorläufig ausgerufen und bald auch Realität in deutschen Fabriken.
Vorreiter waren damals einzelne Unternehmen wie die Jalousie- und Holzpflasterfabrik von Heinrich Freese in Berlin (1891/92), das Zeiß-Werk in Jena (1900), Bosch in Stuttgart (1906) und das Bayer-Werk (1909). Sie hatten bereits in der Praxis bewiesen, dass die Arbeitszeit ohne Produktions- und Lohneinbußen auf acht Stunden verkürzt werden konnte.
Gleichzeitig begannen Gelehrte und Praktiker, sich wissenschaftlich mit der Arbeit auseinanderzusetzen. Die Wissenschaftler suchten nach Wegen, um Arbeitsprozesse und –abläufe sowie Unternehmen und Management zu optimieren.
Die Stoppuhr hält Einzug in den Fabriken
Der amerikanische Ingenieur Frederick W. Taylor war überzeugt, dass Arbeiter nach ähnlichen Gesetzen funktionierten wie Maschinen. Er versuchte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die menschliche Produktivität mit Zeitmessungen, Bewegungs- und Werkzeugstudien zu verbessern. Taylor stellte sich die Frage, wie man Arbeiter dazu bringen konnte, die ihnen mögliche Leistung vollständig zu erbringen. Er zerlegte die Arbeit in standardisierte Schritte und stoppte bei den einzelnen Vorgängen die Zeit. Sein 1911 erschienenes Buch “Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung” wurde zum Standardwerk des sogenannten Scientific Management. Gegner kritisierten darin vor allem die Monotonie des immer gleichen Arbeitstages und das mechanistische Menschenbild, das den Arbeiter darauf reduzierte, eine einzelne Funktion im Getriebe einer Maschine zu sein, die sich zentral planen und steuern ließe.
Das wichtigste Argument der Befürworter der 40-Stunden-Woche war einige Jahrzehnte lang deshalb, dass die Monotonie der Maschine gerade nicht mit dem menschlichen Arbeitsrhythmus übereinstimmt, sondern im Gegenteil seinem Wesen widerspricht. Bis dahin wurde in deutschen Betrieben weitgehend nach dem mechanistischen Prinzip und Menschenbild gearbeitet.
Das Wirtschaftswunder weckt den Wunsch nach mehr Freizeit
Die deutschen Arbeiter schufteten Mitte des vergangenen Jahrhunderts durchschnittlich 50 Stunden an sechs Tagen in der Woche und waren damit Rekordhalter in den Industrieländern der Welt. Sie verrichteten körperlich schwere Arbeit. Lärm, Schmutz und Hitze sorgten für harte Bedingungen in den Fabriken und Kohleschächten. Nun wollten sie von dem, was sie erwirtschafteten, auch etwas haben. Denn der Aufschwung sorgte für jährliche Wachstumsraten von durchschnittlich 6,3 Prozent und ließ die Arbeitslosenquote von elf Prozent (1950) auf unter ein Prozent (1965) sinken. Die Grundbedürfnisse der Menschen nach dem Krieg waren befriedigt, sie hatten genug zu essen und ein festes Dach über dem Kopf. Nun wollten die Arbeiter mehr vom Leben: Freizeit, Urlaub, Erholung.
„Samstags gehört Vati mir“ – ein kleines fröhliches Kind reckt auf dem Plakat zum 1. Mai auffordernd den Finger in die Höhe. Zahlreiche Arbeiter gehen mit diesem Slogan der IG Metall am 1. Mai 1956 in Westdeutschland für die 40-Stunden-Woche auf die Straße. Vati soll mehr Zeit für die Familie haben, seinen Hobbys nachgehen oder im Garten werkeln können. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) will den Samstag als sechsten Arbeitstag der Woche abschaffen. Die Stimmung Mitte der 1950er Jahre steht dank des neuen Wohlstands auf Wechsel.
Die Gewerkschaften haben bei ihrer Kampagne Mediziner wie den Chefarzt der Münchner Poliklinik Walter Seitz auf ihrer Seite. Der begrüßt den Vorstoß, weil viele Menschen zu ihm kamen, die, wie er sagte, wegen der Monotonie der modernen Arbeit „ihre Spannkraft verloren“ hätten. Ein längeres Wochenende würde dazu beitragen, „die Spannkraft wieder zu wecken“. Jeder könne ein bisschen mehr Persönlichkeit entfalten.
Die Unternehmer aber, allen voran der mächtige Chef der VW-Werke Heinrich Nordhoff, wiesen die neue Arbeitszeitforderung von sich. Angeblich sorgten sie sich, dass der neu hinzugewonnene freie Tag den Arbeitnehmern und deren Familien nicht gut bekommen würde. In seiner Festrede während der Geburtstagsfeier des millionsten Volkswagens argumentiert der Industriemanager sozialphilosophisch:
Sicher wäre ein freier Samstag für viele ein schönes Geschenk, aber für viele auch ein Fluch. Die meisten Menschen leben ohnehin auf der Flucht vor sich selbst. Ihnen wäre ein fehlender Arbeitstag kein Segen, sondern die Leere würde noch vergrößert. Und die trostlose Flachheit, mit der die meisten ihre freie Zeit vertrödeln, würde noch stärker zu Tage treten.
Heinrich Nordhoff, VW-Chef, 1955
Man sieht: Der Mann hatte noch das seltsame Menschenbild aus den Anfängen der Industrialisierung im Kopf, das den Fabrikarbeiter nicht als Individuum, sondern als bloßes Rädchen im Getriebe wahrnahm.
Auch der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) und die Arbeitgeberverbände wehrten die verkürzte Arbeitszeit ab - mit dem Argument, dass sie „in der Regel nicht durch höhere Arbeitsleistung wettgemacht“ wird. Das technische Gerippe sei in vielen Betrieben, zum Beispiel in der Textilindustrie und auf den Werften, noch zu schwach, um die 40-Stunden-Woche ohne Produktionsverluste tragen zu können.
Alle Gegenwehr half jedoch nichts. Letztlich musste auch VW-Chef Nordhoff einsehen, dass seine Ansicht nicht mehr dem Geist der Zeit entsprach. Er lenkte aber erst ein, als VW ein Montagewerk in den USA errichten wollte, wo die 40-Stunden-Woche bereits seit den 1930er Jahren Realität war.
Der freie Samstag für Vati (und später auch für Mutti) war nicht mehr aufzuhalten, auch wenn es noch zehn Jahre dauerte, bis er in Westdeutschland mit dem Homburger Abkommen des DBG selbstverständlich wurde. In zähen Verhandlungen einigten sich Arbeitgeber und IG Metall 1960 darauf, die 40-Stunden-Woche schrittweise einzuführen. Die Zigarettenindustrie machte den Anfang, Druckindustrie, Metallindustrie und Holzverarbeitung folgten 1965. Gut zehn Jahre später setzt sie schließlich der Öffentliche Dienst um, 1983 auch die Landwirtschaft.
Und was taten die Menschen nun tatsächlich mit ihrer neu gewonnenen Zeit? Befragungen ergaben, dass etwa ein Drittel sich wie von den Gewerkschaften gefordert mit seinen Kindern beschäftigte. Knapp die Hälfte ging einem Hobby nach, jeder Fünfte legte zuhause die Beine hoch. Einige machten Gartenarbeit und viele arbeiteten einfach weiter wie gehabt, nur schwarz.
Im Osten wird länger gearbeitet als im Westen
Anders sah es in der DDR aus. Um die Sozialleistungen zu verbessern, führte die SED-Regierung im April 1966 alle zwei Wochen die 5-Tage-Arbeitswoche für die Werktätigen ein und senkte die Arbeitszeit für etwa drei Millionen Menschen auf wöchentlich 45 Stunden. Ein Jahr später folgte die durchgängige 5-Tage-Woche mit 43,75 Stunden. Die DDR orientierte sich in dieser Frage nicht an der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Bruderstaaten, in denen weiter an sechs Tagen gearbeitet wurde, sondern am Westen. Frauen, die im Schichtbetrieb arbeiteten, waren die Ersten, für die ab 1972 40 Stunden gesetzlich verankert wurden. Für alle anderen beschloss man den schrittweisen Übergang zur 40-Stunden-Woche im Jahr 1977 „durch die Verkürzung der täglichen Arbeitszeit ohne Lohnminderung“. Sie war Teil der, wie es so schön hieß, „weiteren planmäßigen Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen“ im Land. Und so konnte die Zeitung „Neues Deutschland“ am 1. Mai 1977 verkünden: „Für 1,1 Millionen Werktätige gilt nunmehr die 40-Stunden-Arbeitswoche.“ Formal ging sie dabei über die Regelung in Westdeutschland hinaus. Denn während es dort eine freie und darum theoretisch revidierbare Vereinbarung zwischen Unternehmern und Gewerkschaften gab, wurde sie in der DDR als erstem Land in Europa gesetzlich verankert. Dennoch hatte sie sich bis zum Ende des Landes 1989 nicht in allen Bereichen durchgesetzt.
Klassische 40-Stunden-Branchen in Gesamtdeutschland sind heute das Baugewerbe, die Chemische Industrie (Ost), Landwirtschaft, Öffentlicher Dienst (mit regionalen Unterschieden), Privater Transport und Verkehr, die Textilindustrie (Ost), der Steinkohlebergbau (West) und das Hotel- und Gaststättengewerbe.
Trotz allem sind tarifvertragliche Wochenarbeitsstunden im Osten des Landes gut 25 Jahre nach der Deutschen Einheit in vielen Branchen höher als im Westen. Ostdeutsche Vollzeitbeschäftigte arbeiten heute noch zwei Wochen mehr im Jahr als westdeutsche, wie der Arbeitskreis Erwerbstätigenrechnung ermittelt hat. Das ist auch auf eine geringere Tarifbindung der Betriebe im Osten, höhere Wochenarbeitszeiten und niedrigere Urlaubsansprüche zurückzuführen.
Seit 1994 sind acht Stunden Arbeitszeit täglich als Höchstpensum gesetzlich festgelegt. Sie gelten als Belastungsgrenze, die nur vorübergehend und in Ausnahmefällen auf maximal zehn Stunden am Tag verlängert werden darf. Auch die Pausenzeiten sind geregelt (Arbeitszeitgesetz von 1994).
Das hindert die Arbeitgeber jedoch nicht daran, zu versuchen, den Achtstundentag auszuhebeln. Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer hat vorgeschlagen, das Arbeitszeitgesetz von einer täglichen auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit umzustellen, um wie er sagte, die Arbeitszeit individueller und flexibler auf die einzelnen Wochentage aufzuteilen. „Um auch mal an einem Tag zwölf Stunden zu arbeiten.“ Um das Wohl der Arbeitnehmer ging es Kramer dabei sicher nicht.
Deutsche Vollzeitbeschäftigte arbeiten durchschnittlich 41,3 Stunden in der Woche
Dabei arbeiten die Deutschen ja heute schon mehr als 40 Stunden. Wie viel genau, ist eigentlich gar nicht richtig erfasst. Viele Bereiche wie Start-ups, Call Center, Freiberufler oder Teile des Dienstleistungssektors kommen in den Statistiken kaum vor. Das Problem ist, dass die Statistiken die unterschiedlichen Wirklichkeiten in der Arbeitswelt nur unzureichend widerspiegeln. Die Arbeitszeiten werden meist nicht mehr wie vor hundert Jahren mit der Stechuhr ermittelt. Zudem ist Arbeiten ohne Tarifvertrag heute der Normalfall. Nur noch gut die Hälfte der Beschäftigten im Westen und ein Drittel im Osten sind tariflichvertraglich gebunden, wie eine Anfrage der Partei Die Linke im Bundestag ergeben hat. Überstunden werden gesondert, teilweise gar nicht ermittelt.
Klar ist, dass die geleisteten Stunden erstmal nicht viel darüber aussagen, wie produktiv jemand ist. Auf der einen Seite können vertraglich vereinbarte Stunden dazu führen, dass Menschen Zeit einfach absitzen, weil sie ihre Aufgaben schneller erledigt haben, aber dazu verpflichtet sind, acht Stunden am Arbeitsplatz zu sein. Denken wir an den Mendener Vermessungsingenieur, der sich mit einer E-Mail an seine Kollegen in den Ruhestand verabschiedete. Darin schrieb der Angestellte im öffentlichen Dienst: „Ich war anwesend, aber nicht wirklich da.“ Geschätzte 23.000 Arbeitsstunden lang tat er nichts.
Auf der anderen Seite würden vertraglich vereinbarte Stunden in vielen Branchen helfen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und etwa Pizzalieferanten, Paketfahrer oder Call Center-Agenten vor (Selbst-)ausbeutung zu schützen. Nicht alle Jobs funktionieren aber gleich. Während Kassiererinnen im Supermarkt zu festen Zeiten anwesend sein müssen, bedürfen andere Arbeiten dessen nicht unbedingt, wie das Schreiben von journalistischen Artikeln.
Auch die persönlichen Erfahrungen vieler Krautreporter-Leser zeigen, dass die geleistete Arbeitszeit nicht unbedingt geeignet ist, um tatsächlich Produktivität abzubilden. KR-Leserin Laura etwa arbeitet in der Entwicklungshilfe. Sie schreibt, dass sie 40 Stunden in der Woche anwesend sein muss, aber oft auch 25 bis 30 Stunden ausreichen würden für den Job. Alle Kollegen tun aber so, als wäre waaaahnsinnig viel zu tun.
Den Unterschied zwischen tatsächlichem und simuliertem Arbeitsstress hat Volker Kitz in seinem Buch „Feierabend!“ sehr schön beschrieben. Das Leiden ist bei beiden übrigens ähnlich. Doch während Überforderung als schick gilt, ist Unterforderung tabuisiert. Boreout und Burnout sind letztlich krankhafte Auswüchse einer modernen Arbeitswelt, in der man nicht einfach nur arbeitet, sondern „für seinen Job brennen soll.“
Loggt man sich am Montagmorgen bei Facebook ein, gewinnt man nicht den Eindruck, die Nation wäre mit ihrer Arbeit überfordert.
Volker Kitz, Autor von Feierabend!
Die Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern über kürzere Arbeitszeiten und die Frage, ob sie zusätzliche Arbeit schaffen oder eher vernichten, wird auch in diesem Jahrhundert weitergehen. Die Antwort lautet vermutlich: Es kommt darauf an. Im Pflegeheim, wo Menschen nicht ohne Weiteres durch Maschinen ersetzt werden können und Arbeit nicht unendlich verdichtet werden kann, ist das vermutlich so. Viele Arbeitnehmer aber machen die umgekehrte Erfahrung. Das Arbeitstempo wird höher, die Stunden immer mehr.
Unser Arbeitsmodell ist veraltet
Und: Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen. KR-Leserin Marion hat mir geschrieben, dass sie als Beamtin in Teilzeit gewechselt hat, um mehr Zeit für die Kinder zu haben. De facto ist es aber so: „Die wegfallenden Stunden werden nicht durch jemand anderen aufgefangen, so dass ich lediglich das Recht habe, früher zu gehen, aber die übliche Arbeit einfach mit weniger Zeit trotzdem zu schaffen habe.“
Die Intensität und Verdichtung von Arbeit hat in den vergangenen Jahren nach Ansicht von Experten deutlich zugenommen. Man will Lohnkosten sparen. Das geht zu Lasten der Arbeitnehmer, die in ihrer vereinbarten Zeit die Arbeit einfach nicht schaffen (können).
Anders als in den Fabriken zur Zeit der Industrialisierung ist die Menge an Arbeit in den meisten Berufen heute nicht immer gleich und beansprucht nicht täglich acht Stunden. Die Arbeitswelt hat sich grundlegend geändert. Wir arbeiten aber weiter nach einem Modell, das aus der Zeit der Industrialisierung stammt. Warum wird daran festgehalten? Vermutlich weil es schlicht profitabel ist, sonst hätten es die Unternehmen sicher längst aufgegeben.
Neue Studien zeigen, dass ein effektives Arbeiten über den gesamten Zeitraum von acht Stunden nicht möglich ist. Die Menschen können sich tatsächlich nur vier bis sechs Stunden am Tag konzentrieren. Dennoch arbeiten wir mehr.
„Kaum ein Mensch kann acht Stunden lang mit gleich bleibender Energie an komplexer Arbeit sitzen“, schreibt mir KR-Leser Timo. Er arbeitet in der Werbe-/IT-Branche. „Das mag bei simplen Aufgaben noch möglich sein, aber bei dem, was in meinem Job zu tun ist, ist ein regulärer 8-Stunden-Tag aus Effizienzsicht kaum sinnvoll. Ich merke, dass bei mir nach sechs Stunden tatsächlicher produktiver Arbeit Schluss ist. Das Gleiche merke ich bei Kollegen, die während der Arbeit immer viel anderes machen, um mehr Pausen rein zu bekommen.“ Mehr Arbeit kann sogar ernsthafte gesundheitliche Folgen haben. Eine aktuelle australische Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass Menschen über 40 Jahre am leistungsfähigsten sind, wenn sie 25 Stunden pro Woche arbeiten. Bei längeren Zeiten häufen sich kognitive Fehler, chronischer Stress und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Viele Firmen organisieren ihre Arbeitszeit inzwischen flexibel mit Zeitkonten. Am weitesten verbreitet ist die Gleitarbeitszeit. Aber auch Überstundenkonten, Jahresarbeitszeitkonten, Lernzeitkonten (für Weiterbildungszwecke), Flexi-Konten (zum Ausgleich von vor allem konjunkturellen Auftragsschwankungen) oder Langzeit- und Lebensarbeitszeitkonten haben Einzug in deutsche Unternehmen gehalten. Sie bringen dem Beschäftigten zwar mehr Freiheiten und die Möglichkeit, die Arbeit individuell anzupassen. Sie führen aber auch dazu, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit immer mehr verschwimmen. Insbesondere wenn von zuhause oder unterwegs gearbeitet wird. Mehr als Dreiviertel der Beschäftigten ist auch außerhalb seiner eigentlichen Arbeitszeit mobil zu erreichen, liest am Wochenende E-Mails oder telefoniert mit Kollegen.
Im Endeffekt arbeitet die Hälfte (57 Prozent) aller Beschäftigten mittlerweile zumindest hin und wieder entweder nachts, im Schichtsystem oder am Wochenende. Der Slogan „Samstag gehören Vati und Mutti mir“ ist also keineswegs veraltet. Sondern im Gegenteil aktueller denn je.
Der Beitrag bildet den Auftakt zu meinem neuen Schwerpunkt „Wie wir künftig arbeiten wollen“. In einer Reihe von Artikeln sollen unterschiedliche Dimensionen von Arbeit vermessen werden, Arbeitswelten untersucht und Zukunftskonzepte vorgestellt werden.
Beim Erarbeiten des Textes hat Theresa Bäuerlein geholfen; Esther Göbel hat am Schluss - hoffentlich - auch die letzten Fehler beseitigt; Martin Gommel hat das Aufmacherbild herausgesucht (unsplash / Christopher Burns).