„Um angemessene Kleidung wird gebeten“, stand in dem Brief. Rosa hat ein Geheimnis daraus gemacht, was sie anzieht, bis sie an diesem Dienstag auf dem Parkplatz des Betriebs nahe Caen in der Normandie ihre Freundinnen trifft. Am Vortag hat es geregnet, jetzt ist der Himmel klar. Es ist noch sehr früh. Aber Rosa ist es gewohnt, mitten in der Nacht aufzustehen, aus den Tagen in der alten Gebäckfabrik.
An diesem Morgen geht die Fünfzigjährige allerdings nicht zur Arbeit. Sie hat die Haube der „Jeannettes“, die ihnen der neue Chef gegeben hat, gegen eine elegante kleine Baskenmütze ausgetauscht. Sie trägt die Haare offen und hat sich geschminkt. Ihre Kolleginnen und sie sind wie an einem Festtag gekleidet und strahlen, als sie in den Bus steigen, der sie zur französischen Nationalversammlung fahren wird.
Heute, am 16. Februar 2016, folgen sie einer Einladung der Abgeordneten. Sie werden einen Vertrag unterschreiben, damit sie künftig ihre Madeleines aus goldgelbem Eierteig im Abgeordneten-Café verkaufen können. Vor allem aber sind sie gekommen, um ihre Geschichte zu erzählen. Die eines hartnäckigen Widerstands, um ihre Arbeitsplätze und die 166 Jahre alte französische Marke „Jeannette“ zu retten. „Ihr seid Heldinnen“, hatte ihnen Franck Mérouze, Sekretär der örtlichen Gewerkschaft CGT, nach der elf Monate dauernden Fabrikbesetzung gesagt.
„Wir sind Prinzessinnen“, hatte Rosa mit vor Rührung bebender Stimme erwidert, als das Handelsgericht von Caen die Fabrik ihrem neuen Inhaber übertragen hatte. „Prinzessinnen, die von einem Traumprinz gerettet wurden.“
„Wir waren alle dabei, zu arbeiten, und auf einmal wurde abgeschaltet. Das war das Ende. Es war ein tiefer Schlag für uns.”
Rosa ist das älteste von sieben Kindern aus einer Familie polnischer Einwanderer. Mit 16 Jahren fängt sie im Jahr 1972 an, in der Fabrik Jeannette zu arbeiten. Die Gebäckfabrik, eine der führenden Verarbeitungsstätten des Landes für Eierteig, produziert im Jahr an die 7.000 Tonnen Backwaren. Rosa ist eine von 300 auf zwei Standorte verteilten Angestellten. Sie arbeitet in der „Früchteausstattung“, dem letzten Schritt, der in dieser großen Produktionskette noch nicht automatisiert ist. „Es ging darum, die kleinen Madeleines mit kandierten Früchten und gehobelten Mandeln zu garnieren“, erzählt sie und begleitet die Worte automatisch mit einer tausendmal wiederholten Geste.
Damals sprach Rosa schlecht Französisch, die Freundinnen halfen ihr. Sie waren alle im selben Alter. Im ohrenbetäubenden Lärm der Fließbänder vertrauten sie sich ihre Geheimnisse und Mädchenträume an. Später feierten sie Hochzeiten und Geburten. „Es war wie eine zweite Familie“, erinnert sich Rosa gerührt. Eine Familie, in deren Kreis sie die französische Kultur und die Sprache entdeckt, der sie noch heute mit ihrem Akzent und erfundenen Ausdrücken ihre persönliche Note verleiht.
Jahrelang führt Rosa ein sorgenfreies Leben. Anfang der 1980er Jahre spucken die Öfen jede Stunde 15.000 Madeleines aus. Die Produktion ist auf ihrem Höhepunkt erreicht. Die Steigerung der Produktivität geht mit einem Preiskampf einher. Im folgenden Jahrzehnt wechselt die Gebäckfabrik mehrmals den Besitzer. Inhaber kommen und gehen, die Fabrik läuft weiter – aber die Mitarbeiter werden weniger.
Teil 2 unserer Frankreich-Reihe: Bis zum Beginn der Präsidentschaftswahl Ende April veröffentlicht Krautreporter jede Woche eine neue Reportage über die Konflikte, Sehnsüchte und Unsicherheiten unserer Nachbarn auf der anderen Seite des Rheins.
In dieser Zeit wird Rosa Mama. Im Jahr 1992 kommt es nach einer umfangreichen Entlassungswelle (56 Angestellte, also die Hälfte des Unternehmens) zu einem ersten Streik. Zweimal droht der Fabrik der Konkurs und wird im letzten Moment abgewendet. Von 2002 bis 2012 sinkt die Produktion von 6.000 auf 3.000 Tonnen im Jahr. Die Zukunft verdüstert sich.
Die Mädels stecken die Tiefschläge ein und halten zusammen. Im Dezember 2013 zählt das Unternehmen nur noch 37 Angestellte. Das Werk und die Maschinen sind am Ende. Kurz vor Weihnachten bricht innerhalb von ein paar Tagen alles zusammen. „Der Eiervorrat war aufgebraucht, und die Öfen haben aufgehört zu laufen“, erzählt Rosa betrübt. Trotz der Anzeichen will sie nicht ans Ende glauben. Doch die Behörden verkünden: „Mit Jeannette ist es aus.“ Rosa und ihre Freundinnen sind da schon über fünfzig.
„Solange wir in der Fabrik waren, hatten wir nicht das Gefühl, arbeitslos zu sein.”
Die Idee kam von Françoise Bacon, der Vertreterin der CGT-Gewerkschaft in der Fabrik. Als sie in einer Lokalzeitung davon erfährt, dass am 20. Februar 2014 die Maschinen versteigert werden sollen, ruft sie in der Gewerkschaftszentrale an. Das Gericht hat bereits einen Monat zuvor die Liquidation der Gebäckfabrik beschlossen. Die Angestellten haben gerade ihre Kündigungsbriefe erhalten.
Franck Mérouze erinnert sich an diesen ersten Kontakt. „Ich habe sie gefragt, was sie wollen: eine hohe Abfindung oder ihre Stelle behalten? Alle haben geantwortet, dass sie arbeiten wollten. Sie haben mich gefragt, ob sie die Fabrik besetzen könnten. Ich habe gesagt: Natürlich werden wir sie besetzen!“
Die Mädels kommen nachts zurück in die Fabrik. Rosa erinnert sich noch, wie sie sich heimlich reingeschlichen haben. „Wir kannten die Räumlichkeiten so gut, wir wären mit geschlossenen Augen reingekommen“, versucht sie sich zu rechtfertigen. Als der Auktionator und das Dutzend Interessenten am Morgen vorfahren, „mit ihren großen LKW mit ausländischen Kennzeichen“, kommen sie nicht auf das Gelände. Das große Tor ist mit einem Vorhängeschloss abgesperrt. Die Besetzung der „Jeannette“ hat begonnen. Zu diesem Zeitpunkt ahnt niemand, dass sie so lange dauern wird.
Die Arbeiterinnen besetzen die Fabrik
Die Fabrik besetzen, das klingt nach der allerletzten Revolte. Die „Jeannettes“ haben instinktiv reagiert, um ihre Arbeitsgeräte zu retten. „Was hätten wir zu Hause tun sollen?“, fragt Rosa. „Solange wir in der Fabrik waren, hatten wir nicht das Gefühl, arbeitslos zu sein.“
Schritt für Schritt läuft die Mobilisierung. Draußen sind die Steinmauern mit Plakaten, farbigen Slogans und von Regen und Wind zerfledderten Flugblättern tapeziert. „Ihr zahlt miese Prämien, wir blockieren die Fabrik“, „Nein zur industriellen Plünderung“, haben die Angestellten darauf geschrieben. Über dem großen Tor wurde ein Rückspiegel angebracht, um zu überwachen, wer an der Tür klingelt. Daneben thront symbolisch eine Gasflasche.
Im Inneren hat sich nichts verändert, jedenfalls fast nichts: Es herrscht Stille, und es riecht jetzt nicht mehr nach warmem Gebäck und auch nicht mehr nach Maschinenöl. Nur der Ton eines Fernsehers ist zu hören. Auf einem großen Anzeigebrett werden die Kontrollgänge geplant. 21 Angestellte wechseln sich Tag und Nacht ab, „die Frauen nur tagsüber“, erklärt Rosa. Eine provisorische Küche wird eingerichtet, mit einem großen Esstisch und Feldbetten, um sich auszuruhen. Jeden Tag werden die Räume gereinigt, denn „die Fabrik muss schön sein, wenn der neue Käufer kommt“. Ständig droht ihnen die Zwangsräumung.
Wenn die Arbeiterinnen einen Durchhänger haben, vertreibt Franck Mérouze ihre Zweifel. Das örtliche Büro der Gewerkschaft CGT ist nur ein paar Schritte von der Fabrik entfernt und der Gewerkschafter, der selbst der Generation der „Jeannettes“ angehört, ist immer ansprechbar.
„Es war legal, weil es unsere Maschinen waren.”
Die Besetzung dauert an, die „Jeannettes“ drohen, in Vergessenheit zu geraten. Rosa verliert den Mut: „Wie sollen wir uns Gehör verschaffen, so klein wie wir sind?“ Die 21 Besetzer treffen eine riskante Entscheidung, die aber alles ändern wird: Sie werfen die Öfen wieder an, nehmen die Produktion wieder auf, um zu zeigen, dass sie nicht auf verlorenem Posten kämpfen.
Die Produktion der Madeleines läuft wieder an
Im fast beruhigenden Maschinenlärm findet jeder wieder seinen Platz, seine Handgriffe. Eine mit Wut und Sorge gemischte Nostalgie hängt über der Fabrik. Rosa schließt die Augen. „Man roch wieder den vertrauten Duft der Madeleines…“ Sie öffnet die Augen wieder, mit leuchtendem Blick. „Es gab keinen Chef mehr, aber wir haben trotzdem produziert.“
Genau in diesem Moment wendet sich das Blatt. Unter gutem Zureden von Franck Mérouze werden sich die Arbeiterinnen ihrer Macht bewusst. „Wir, die Angestellten, haben das Können und wir haben die Geräte. Was hält uns davon ab, die Maschinerie wieder zum Laufen zu bringen? In einer Fabrik hat das meiste Wissen nicht unbedingt der Arbeitgeber oder der Aktionär, sondern der Angestellte. Wenn man das erkannt hat, werden die viele Dinge möglich.“
Der erste „illegale“ Charge kommt im Februar 2014 auf den Markt. 350 Kilo Madeleines sind innerhalb einer Stunde weg. „Das erwärmt das Herz“, erinnert sich Rosa. Die Jeannette hat ihre vereinigende Kraft bewiesen. Ihre Madeleine ist nicht mehr nur die „Madeleine von Proust“, mit deren Duft die Einwohner von Caen aufgewachsen sind, sie wird auch zum Symbol des Kampfes für die einheimische Industrie.
Inzwischen kämpfen die „Jeannettes“ nicht mehr allein. Die Anwohner sind auf sie aufmerksam geworden. Die Medien haben verstanden, wie entschlossen die Angestellten sind. Zeitungen, Radios, TV-Sender, auf lokaler wie auf nationaler Ebene, greifen die Geschichte auf, die sich hinter den Mauern der ehemaligen Fabrik abspielt. Endlich begreifen auch die Politiker das Ausmaß der allgemeinen Begeisterung.
Während die Besetzung weitergeht, wird die Unterstützung immer größer. Die benachbarten Gemeinden liefern ihnen die Überschüsse der Schulküchen, die lokalen Anwohner decken sie mit Produkten des täglichen Bedarfs ein. Die Schauspielerin Audrey Vernon inszeniert zugunsten der „Jeannettes“ zwei Stücke unter den Blechdächern der Fabrik. Kunststudenten kommen, um Skizzen der Madeleines anzufertigen. Drei weitere Chargen werden vor den Toren der Fabrik und auf dem Markt verkauft. Die „Jeannette“ ist reif für die Übernahme.
Retter in Sicht
Im September 2014 gibt es eine erste Anhörung am Handelsgericht. Es stellt sich heraus, dass es 23 potenzielle Käufer gibt. Sofort folgt die Ernüchterung: nur neun davon sind „ernsthafte“ Interessenten. Und nur ein einziger davon ist bereit, in Frankreich zu produzieren und einen Teil der Angestellten zu übernehmen.
Er heißt Georges Viana, ist 49 Jahre alt, sieht ein bisschen aus wie Luc Besson und hat sich auf die Sanierung von gefährdeten Unternehmen für internationale Konzerne spezialisiert. Es ist das erste Projekt, das er im Alleingang durchzieht: Er hat sich in den Kopf gesetzt, die Fabrik quasi von Null wieder aufzubauen, mit nichts als ihrem guten Ruf und der Begeisterung der Angestellten.
Rosa erinnert sich kaum an den ersten Besuch von Georges Viana in der Fabrik. Aber er kommt wieder, ein zweites Mal, ein drittes Mal. Nicht wegen der Maschinen, von denen er weiß, dass ihre Zeit abgelaufen ist, sondern um sich von der Energie der „Jeannettes“ mitreißen zu lassen.
Ihr Kampf hat in ihm die Erinnerung an seine eigene Vergangenheit geweckt: daran, wie in seiner Kindheit der Vater, ein portugiesischer Arbeiter, seine Arbeit verloren hat. „Sowas vergisst man nicht, wenn man ein Kind ist“, meint er. Er nimmt sich deshalb vor, Geld aufzutreiben, und findet in Franck Mérouze einen unerwarteten Verbündeten. Auf dem Papier sind sie Gegner, aber die beiden Männer teilen dieselben Werte und einen pragmatischen Blick auf die Situation. Zusammen werden sie sich bemühen, die Arbeitsplätze zu retten. „Wir hatten zwei Chefs“, lächelt Rosa, einen Unternehmer und einen Gewerkschafter.
Monatelang versuchen die beiden Männer gemeinsam, die Verwaltungsräte, die Abgeordneten und die Justiz zu überzeugen, ihnen zu helfen. Georges Viana ist einer der ersten Unternehmer, der angesichts des Misstrauens der Banken über die Plattform Bulb in Town eine Crowdfunding-Kampagne ins Leben ruft. Im November 2014 haben über 2.000 Spender zusammen über 100.000 Euro gegeben. „Die Leute haben sich solidarisiert, weil sie sich mit den ‘Jeannettes’ identifizieren“, glaubt Georges Viana. „Sie haben sich gesagt, dass sie selbst helfen können, Arbeitsplätze zu retten, wenn die Behörden und die Banker es nicht tun.“
Am 24. November spricht das Handelsgericht von Caen die Marke „Jeannette“, die Rezepte und die materiellen Vermögenswerte Georges Viana zu. Das finanziell schlechteste, aber sozialste Angebot hat gewonnen. Die „Jeannettes“ weinen vor Freude.
Als Diebe verdächtigt
Hier eine Tastatur und eine Maus, da ein Schrank. Im Januar 2015 führt Anwalt Rivola, der Auktionär, der ein Jahr zuvor vor verschlossenen Türen stand, in der Fabrik Inventur durch. Die „Jeannettes“, ihre Anwältin Elise Brand und die Vertreter der CGT folgen ihm auf Schritt und Tritt, während er akribisch bis in die hintersten Ecken der Fabrik vordringt. Die Vertreterin der Gewerkschaft Françoise Bacon kennt zwar das Verfahren, schimpft aber trotzdem: „Man verdächtigt uns, Diebe zu sein, das ist ja wohl das Letzte!“ Die Stimmung ist angespannt.
Anwalt Rivola droht, die Inventur abzubrechen und die Fabrik zu verlassen. „Ich mache meine Arbeit, und wenn Sie mit meinen Schätzungen nicht zufrieden sind, machen Sie es selbst.“ Die Gewerkschafterin ergreift entschieden das Wort: „Dieses Arbeitsgerät gehört seit mehreren Monaten den Angestellten, sie arbeiten seit Jahren damit. Ich glaube, daraus ergeben sich schon gewisse Rechte.“
Am anderen Ende der Fabrik ist ein Tisch gedeckt. Ein letztes Mal stimmen die Ex-Angestellten ihre Kampfhymne an.
Das geplante kleine Fest geht daneben. Statt Worten gibt es Tränen. Rosas Stimme versagt, als sie sich an diesen letzten Tag erinnert. „Ich hab mich heimlich davongeschlichen, durch die Hintertür.“
Nach 344 Tagen der Besetzung kehren die Arbeiterinnen nach Hause zurück, allein und mit schweren Herzen. Die Zeit des Wartens fängt an. Für Rosa wird es neun Monate dauern. „Es war die schwierigste Zeit meines Lebens. Obwohl ich das Vertrauen in Georges Viana nicht verlor, hatte ich Angst. Ich schaute auf das Telefon und wartete. Ich wartete und hoffte …“
Neue Finanzierung und neue Madeleines
Im Februar 2015 wird die vereinfachte Aktiengesellschaft „Jeannette 1850“ gegründet. Der neue Inhaber verlässt das Département Seine-et-Marne und zieht mit seiner Frau und seinen drei Kindern nach Caen. Die allgemeine Begeisterung hat noch nicht die Banken erreicht, die sich immer noch nicht auf das Projekt einlassen wollen. Um das Eigenkapital zu ergänzen, mit dem er die neue handwerkliche Produktion aufnahmen will, versucht Georges Viana es mit einer partizipativen Beteiligung: 150 Investoren werden Aktionäre und erhöhen das Kapital um 330.000 Euro. Im April findet sich in Démouville, vor den Toren von Caen, eine neue Produktionsstätte. Die Liste der Partner wird länger: die Biscuiterie de l’Abbaye, auch sie eine Institution in der Normandie, entscheidet sich, die potenzielle Konkurrenz logistisch zu unterstützen.
Philippe Parc, ein gefeierter Konditor, der zum „Weltmeister der Desserts“ gekürt wurde, erklärt sich bereit, auf der Grundlage von Aromen und Gewürzen neue Rezepte für „Jeannette“ zu kreieren. Die neue Madeleine hat die Form einer Jakobsmuschel und ist ein französisches Luxusprodukt, das auf die Karte regionale Erzeugnisse und Authentizität setzt.
Marie-Claire ist die erste, die im Mai 2015 wieder eingestellt wird. Die frühere Teamleiterin der „Jeannettes“ arbeitet seit dem Alter von 16 Jahren in der Fabrik und ist zur Werkstattleiterin aufgestiegen. Georges Viana kann auf sie zählen. Sie vergisst nichts, vor allem nicht „ihre Mädels“. „Ich habe immer zwischen allen vermittelt: zwischen Georges Viana, der Anwältin, dem Gericht, der CGT … Alle haben immer Marie angerufen. Ich bin ein bisschen die Mama bei ‘Jeannette’, so ist das halt.“ Während die anderen noch darauf warten, wieder eingestellt zu werden, erkundigt sie sich, wie es ihnen geht, baut die auf, die besorgt sind. „Er hat es versprochen, eure Zeit wird kommen.“ Ein paar schnuppern mal in den neuen Betrieb rein. Person um Person setzt sich die „Familie“ wieder zusammen.
Rosa muss bis zuletzt warten
Rosa wird mit dem letzten Schwung eingestellt, am 7. September 2015. Sie findet alles wieder: ihre Kolleginnen, die Gerüche aus den Öfen, die vertrauten Gesten und Arbeitszeiten. Die alten Gewohnheiten nach einem Leben, das 20 Monate lang auf Eis gelegt war. „Es ist das pure Glück …“ Genau genommen ist die Tätigkeit nicht mehr genau das, was sie einmal war. Die „Fabrik“ heißt jetzt „Werkstatt“. Die industrielle Produktion hat sich in eine handwerkliche verwandelt, mit zwei Knetmaschinen und einem Ofen. Die „Jeannettes“ arbeiten neuerdings zu Musik, manchmal deuten sie einen Tanzschritt an, und sie müssen nicht brüllen, um den Maschinenlärm zu übertönen. Als wäre sich alles näher gekommen: die Werkstatt, das Produkt, die Frauen …
Der offizielle Neustart findet Mitte September 2015 auf der Internationalen Messe in Caen statt. Das Unternehmen zählt zu diesem Zeitpunkt 18 Angestellte, davon 11 „Ex-Jeannettes“. Seit einer Woche läuft die Werkstatt auf vollen Touren, um massenweise Madeleines zu produzieren. Die neuen Rezepte werden begierig erwartet. Zehn Tage lang pendeln die Arbeiterinnen zwischen der Werkstatt und der Messe hin und her, auf dem Rücksitz des Motorrads von „Monsieur Viana“. Zahllose Menschen sind gekommen. Die Arbeiterinnen, die wieder die traditionellen Kostüme der „Jeannette“ tragen, sind die Stars.
Lieferantinnen der Nationalversammlung
Auf dem offiziellen Foto schüttelt Rosa die Hand von Laurence Dumont. Die sozialistische Abgeordnete des Département Calvados und Vizepräsidentin der Nationalversammlung unterstützt die „Jeannettes“ seit Beginn des Konflikts, moralisch und politisch. „Es gab eine Wut in diesem Kampf, die mich erstaunt hat.“ Im Mai 2015 stellt sie den Fall im Plenarsaal vor und richtet einen Appell an Banken und Staat. Ein Jahr später lädt sie die Frauen in die Nationalversammlung ein, um „ein Scheinwerferlicht auf diesen symbolischen Kampf zu richten, auf die Rolle des Aufkäufers, der gewerkschaftlichen Organisationen und des Produkts. Denn heute müssen sie Madeleines verkaufen, und dafür müssen wir welche essen.“ Die Madeleines, mit denen das Café der Abgeordneten und das der Journalisten versorgt werden, sind am Vortag geliefert worden. Aber für die Abgeordnete geht es um mehr als nur um das Schicksal des Unternehmens, nämlich um die Menschen.
Bei strahlendem Sonnenschein empfängt Laurence Dumont die aus dem Bus steigenden „Jeannettes“. Als die Reihe an Rosa ist, umarmen sich die beiden Frauen. Rosa fühlt sich an diesem Tag an der Nationalversammlung „wie im Märchen“.
Der Zauber wirkt auf beiden Seiten. Die Parlamentarier kommen in den Genuss der Madeleines, die „Jeannettes“ in den der staatlichen Gelder. Claude Bartolone, der Präsident der Nationalversammlung, holt zu einer Gratulationsrede aus, bevor er die Gäste umarmt. Unter ihrer kleinen wollenen Baskenmütze lächelt eine „Jeannette“, ihre Augen funkeln. Rosa ist heute wirklich ein bisschen eine Prinzessin.
Fotos: Mathias Benguigui; Übersetzung: Luisa Marie Schulz; Bildredaktion: Martin Gommel; Produktion: Vera Fröhlich.
Unser Partnermagazin „Le Quatre Heures“ in Paris verfolgt das Konzept der „Slow Info“. Einmal im Monat veröffentlicht ein Team junger Reporterinnen und Reporter ausgeruhte Reportagen über Themen, Orte und Menschen, die sonst nicht häufig in den Medien vorkommen. Wie Krautreporter ist der Journalismus von „Le Quatre Heures“ werbefrei und nur von den Lesern finanziert. Wer möchte, kann hier Mitglied werden.