Die Finanztransaktionssteuer ist tot – und die Europawahl wird daran nichts ändern

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Geld und Wirtschaft

Die Finanztransaktionssteuer ist tot – und die Europawahl wird daran nichts ändern

Als ich 16 war, habe ich zum ersten Mal vom Kampf der Zivilgesellschaft für eine Finanztransaktionssteuer gehört. Nach der Finanzkrise wollte sie plötzlich die halbe westliche Welt einführen. Was ist nun?

Profilbild von Rico Grimm
Politik- und Klimareporter

Diesen Artikel habe ich komplett aktualisiert am 22. Mai 2019


Es gibt Länder in Europa, die hatten die Einnahmen einer EU-weiten Finanztransaktionssteuer schon fest in ihren Haushalten eingeplant. Es gibt Aktionsgruppen, die seit 20 Jahren nichts anderes machen, als für diese Steuer zu kämpfen. Sie hat Dutzende EU-Treffen beschäftigt, Hunderte Bankenlobbyisten in Bewegung gesetzt, es gibt mehrere detaillierte Gesetzesentwürfe. Sie steht im Koalitionsvertrag der Großen Koalition von 2013 und im aktuellen von 2017. Aber: Bis heute gibt es sie nicht.

Dabei ist die Idee dahinter denkbar einfach: Jede Wertbewegung an den Börsen soll besteuert werden, das heißt: immer, wenn irgendetwas verkauft oder gekauft wird. Die Befürworter hoffen so, Spekulationsblasen schon früh zu vermeiden. Und zu diesen Befürwortern gehörten im Laufe der Jahre eben nicht nur die üblichen Verdächtigen, nicht nur linke Parteien und Gruppen, sondern auch Konservative wie der ehemalige Präsident Frankreichs Nicolas Sarkozy oder der CDU-Mann Wolfgang Schäuble. Und dennoch ist nichts passiert. In den Parteiprogrammen zur Europawahl taucht die Steuer zwar auf, aber echten politischen Fortschritt gibt es nicht (mehr).

Das ist deswegen erschreckend, weil die Finanztransaktionssteuer immer noch von vielen Menschen unterstützt wird. Umfrage nach Umfrage zeigt, dass es für die Idee eine solide Mehrheit in der deutschen Bevölkerung gibt. Als wir bei Krautreporter vor drei Monaten gefragt haben, welche Themen unserer Community bei der Europawahl besonders wichtig sind, landete die Finanztransaktionssteuer auf Platz 5 von 15 Themen. Mehr als 1.000 Menschen haben abgestimmt. Was soll denn noch alles passieren?

Wenn die Finanztransaktionssteuer käme, wäre das ein Zeichen, das Hoffnung macht. Denn zum ersten Mal wäre es gelungen, eine jener großen, utopischen Forderungen auch umzusetzen, die die globalisierungsfokussierte Zivilgesellschaft immer wieder auf die Straße trägt. Deshalb lohnt es sich, zu verstehen, was in den vergangenen Jahren schief gelaufen ist. Das habe ich mir angeschaut.

Die Steuer wurde unter dem Namen „Tobin-Steuer“ 1997 berühmt. Hinter der Idee sammelten sich schnell die linken Parteien. Aber es musste erst die Finanzkrise 2009 kommen und wie kein zweites Ereignis verdeutlichen, dass Finanzmärkte nicht perfekt und deren Akteure nicht immer rational sind. Unterstützt durch das stetige geduldige Werben der kirchlich geprägten Initiative „Steuer gegen Armut“ wurde auch den konservativen Politikern der Bedarf nach einer solchen Steuer klar.

Mit der Steuer sollen die Finanzmärkte gezähmt werden

Ihre Befürworter sehen in Finanztransaktionssteuern ein sehr gutes Instrument, um den automatisierten Börsenhandel in den Griff zu bekommen. Dieser Hochfrequenzhandel setzt darauf, winzige Kursunterschiede, die zum Teil durch technische Beschränkungen zustande kommen, auszunutzen. Er wird für die grotesk großen Kurssprünge verantwortlich gemacht, die von Zeit zu Zeit an den Börsen zu finden sind. „Flashcrash“, Blitzcrash, heißen solche Bewegungen passenderweise.

Aber noch wichtiger ist es den Befürwortern, den Handel mit Derivaten einzudämmen. Derivate, also wortwörtlich „Ableitungen“, sind Werkzeuge, die auf dem Kurs eines bestimmten Werts aufsetzen und vielfältigere Anlagen ermöglichen. Ein Beispiel: Ein Anleger kann direkt in BMW investieren, also Aktien der Firma kaufen. Oder aber ein Derivat der BMW-Aktie. Damit könnte er etwa darauf wetten, dass die Aktie in drei Monaten um 20 Prozent fällt. Kommt es so, bekommt er eine Prämie von der Bank, die das Derivat ausgegeben hat. Kommt es anders, verdient die Bank.

Normale einfache Derivate können schon Sinn haben. Zum Beispiel kann mit der oben angesprochenen Wette ein Portfolio abgesichert werden, das viele BMW-Aktien hat. Das nennt man „Hedging“, daher auch der Name Hedgefonds. Es hilft, Risiken zu minimieren.

Gefährlich wird es, wenn diese Ableitungen „Ableitungen der Ableitungen“ sind. In diesem Fall ist die Basis nicht mehr der Kurs eines ganz normalen Guts, etwa die BMW-Aktie, sondern deren Ableitung. So kann es immer weitergehen – wie eine Treppe bauen diese Anlagen aufeinander auf. Das Problem in der Finanzkrise war: Die Treppe führte ins Nirgendwo. Am Ende kam der freie Fall, weil die zu Grunde liegenden Werte dieser Ableitungen eigentlich wertlos waren.

Gäbe es eine Finanztransaktionssteuer, würden Geschäfte wie diese, die von den Investment-Abteilungen der großen Banken durchgeführt werden und wenig mit dem Kerngeschäft der Kontoführung und der Kreditvergabe zu tun haben, teurer werden. Die Befürworter hoffen, dass durch die Steuer weniger solche Geschäfte durchgeführt werden und damit das Finanzsystem insgesamt stabiler wird.

Die Steuer hat Gegner, vor allem in den USA und Großbritannien – aber auch mächtige Fürsprecher

Die Vorkämpfer für diese Steuer bezeichnen sie als die „vernünftigste Steuer aller Zeiten“, und tatsächlich gibt es nur wenige wirklich schlüssige Gegenargumente, die nicht auf Ideologie („Freie Märkte darf man nicht behindern“) oder Eigeninteresse beruhen. Eine der besseren, weil konstruktiven Kritiken, hat der Finanzpublizist Wolfgang Münchau bei Spiegel Online geschrieben. Er glaubt, dass zu viele der Steuer ausweichen würden, um sie nicht zahlen zu müssen. Sie würden ihre Geschäfte in andere Länder verlegen oder auf andere Art abwickeln.

Nach der Finanzkrise warben die Regierungen Kontinentaleuropas für eine möglichst breite Einführung der Steuer. Aber als Sarkozy sie im Jahr 2010 in der G20-Runde der größten Wirtschaftsmächte der Erde vorschlug, blitzte er ab. Vor allem die USA und Großbritannien sprachen sich gegen die Steuer aus. Sie befürchteten wie Münchau, dass die Steuer erfolglos bleiben würde, weil Investoren sie leicht durch Handel an anderen Börsenplätzen oder mit anderen, neugeschaffenen Instrumenten umgehen könnten. Allerdings sind beide Länder verhältnismäßig stark abhängig von ihrer Finanzwirtschaft.

Als Deutschland und Frankreich merkten, dass sie auf globaler Ebene keinen Erfolg haben würden, verlagerten sie ihre Anstrengungen auf die EU. Zuerst sollte die Steuer EU-weit eingeführt werden. Das scheiterte erneut an Großbritannien, aber auch an Luxemburg, dessen Firmen sehr viel Geld mit Finanzgeschäften verdienen. Weil Luxemburg den Euro hat, war es auch nicht mehr möglich, die Steuer nur in der Eurozone einzuführen. Zudem winkten die Schweden ab, sie hatten in den 1980er Jahren schlechte Erfahrungen mit der Steuer gemacht.

Am Ende des EU-Vorstoßes blieb im Sommer 2012 schließlich eine vergleichsweise kleine Gruppe von elf Ländern, die die Steuer einführen wollten: Belgien, Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland, Italien, Österreich, Portugal, Slowakei, Slowenien und Spanien. Für sie bot sich die sogenannte „Verstärkte Zusammenarbeit“ der EU an, das letzte Mittel, um Kooperation in dem Staatenverbund umzusetzen. Der Clou daran: Mindestens neun Länder müssen dabei sein, sonst kann auch dieses Instrument nicht genutzt werden. Würden mehr als zwei Länder ausscheren, wäre die Finanztransaktionssteuer in der EU tot. Das war 2012 allen Beteiligten klar.

Die elf Länder mussten sich auf zwei Dinge einigen:

  • Die Bemessungsgrundlage – Welche Transaktionen sollen besteuert werden? Was genau zählt als Transaktion? Und wo soll diese Besteuerung stattfinden?
  • Die Höhe der Steuersätze – wie hoch die Steuer ist, ist enorm wichtig. Sie sollte nicht so hoch sein, dass Börsengeschäfte völlig zum Erliegen kommen, aber auch nicht so niedrig, dass sie keinen Effekt hat.

Als die Pläne konkret wurden, setzten sich die Lobbyisten in Bewegung

Als sich die elf EU-Staaten prinzipiell auf die Steuer geeinigt hatten, und die EU-Kommission einen Vorschlag ausgearbeitet hatte – recht zügig, in nur neun Monaten – begannen im Frühjahr 2013 die Vertreter der Finanzwirtschaft mit ihrer ganzen Wucht dagegen zu argumentieren. Alle großen Finanzinstitute (zum Beispiel die Deutsche Bank oder Goldman Sachs) veröffentlichten ihre eigenen Berechnungen, die zeigen sollten, wie schädlich die Steuer angeblich wäre (die Links gehen auf PDFs).

Steuer-Befürworter wie der österreichische Ökonom Stephan Schulmeister machen diese Lobbyanstrengungen dafür verantwortlich, dass bis heute keine Steuer existiert. „Die Vorwürfe der Finanzlobby waren zwar weder neu noch empirisch fundiert, aber ihre schiere Zahl hatte die Wirkung eines Flächenbombardements“, schrieb er in einer polemischen Analyse für Le Monde Diplomatique. Laut Schulmeister ist es der Finanzindustrie außerdem gelungen, die Befürworter-Länder auseinanderzudividieren. Denn plötzlich hätten diese die Interessen ihrer Banken für ihre eigenen Interessen gehalten. Ob das so stimmt, ist heute eigentlich nur durch Dutzende Interviews mit den damals Beteiligten nachzuvollziehen.

Sicher ist aber: Danach fiel die Koalition tatsächlich auseinander. Frankreich und Italien führten 2012 und 2013 im Alleingang Finanztransaktionssteuern ein, die aber im Umfang so begrenzt sind, dass sie von Schulmeister als „Karikatur“ bezeichnet werden. In beiden Ländern wird nur der Handel mit den Wertpapieren der großen einheimischen Unternehmen oder ein Teil des Hochfrequenzhandels besteuert. Derivate fallen nicht unter die Regelung.

Der Vorschlag der EU-Kommission sah hingegen Folgendes vor:

  • 0,1 Prozent des Marktpreises bei Aktien und Anleihen sollen fällig werden
  • 0,01 Prozent beim Handel mit Derivaten und „Finanzmarktwetten“
  • „Alle Märkte, alle Produkte, alle Akteure“ sollen besteuert werden
  • Ausnahmen gibt es nur bei typischen Finanzgeschäften von Privatleuten und kleinen Unternehmen

Und plötzlich wackelte sogar die „Ultima ratio“, das letzte Mittel, um die Steuer einzuführen

Mit dieser Grundlage arbeiteten die EU-Staaten weiter, Frankreich und Italien mit deutlich weniger Elan, in verschiedenen Arbeitsgruppen, ohne jedoch konkrete Ziele zu erreichen. Bei einer Rede im Februar 2014 mahnte der zuständige EU-Kommissar Fortschritte an. „64 Prozent der europäischen Bürger unterstützen die Idee. Das sollten die politischen Führer im Hinterkopf behalten“, sagte der Litauer Algirdas Šemeta vor dem EU-Parlament. Interessanterweise erwähnt auch er, dass die Finanzlobby Erfolg mit ihren Anstrengungen hatte.

Und tatsächlich: Am 18. Dezember 2014 konnte der österreichische Finanzminister Hans Jörg Schelling einen „Durchbruch“ verkünden.

Und dann ging Estland von Bord.

Das kleine Ostseeland wollte nicht mehr mitziehen, es widersetzte sich bestimmten Besteuerungsregeln, behielt sich aber vor, später, wenn ein Abkommen steht, wieder mitzumischen. Da waren es nur noch zehn. Drei Monate später sagte der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble: „Ob wir noch zehn sind, wissen wir nicht so genau.” Belgien und die Slowakei machten sich Sorgen wegen der Steuer. Ein Streitpunkt war zum Beispiel die Bemessungsgrundlage (Sollte auch der Handel mit Staatsanleihen besteuert werden?) und die Erhebungskosten. Spezielle Arbeitsgruppen sollten die Probleme lösen. Würden die beiden Länder ausscheren, wäre die Initiative endgültig tot.

Das Treffen der EU-Finanzminister brachte aber echte Fortschritte

Im Oktober 2016 schließlich trafen sich die Finanzminister wieder – und einigten sich tatsächlich auf die „Herzstücke“ (Schelling) der Steuer. Vor allem die schwierige Arbeit zur Bemessungsgrundlage stehe in groben Zügen, sagte mir damals jemand, dem die Einigung der Minister vorlag. Offen sei noch die endgültige Höhe; die EU-Kommission solle aber schon einmal einen Gesetzestext vorbereiten, auf dessen Grundlage weitergearbeitet werden könne. Die Steuer sei „so nahe wie nie“, twitterte zu dieser Zeit der EU-Finanzkommissar Pierre Moscovic.

Dann wählte Frankreich: Im Mai 2017 gewann der ehemalige Investmentbanker Emmanuel Macron die Präsidentschaftswahlen in Frankreich, und der sah nach dem Brexit eine Chance, britische Banken nach Frankreich zu locken. Das wäre mit einer Finanztransaktionssteuer schwierig geworden. Erst verzögerte Macron die Arbeit an der Steuer, dann im Juni 2018 räumte er den Vorschlag bei einem deutsch-französischen Treffen in Meseberg komplett ab. Die Finanztransaktionssteuer, wie sie ursprünglich einmal geplant war, ist tot. Die Gegner haben gewonnen. Denn zwar arbeiten Deutschland und Frankreich weiter an etwas, das sie „Finanztransaktionssteuer“ nennen, aber mit der eigentlichen Idee hat das nicht mehr viel zu tun. Denn der Vorschlag der beiden Länder würde nur Aktien von großen EU-Unternehmen betreffen. Die Derivate, die für die Finanzkrise verantwortlich waren, blieben außen vor.

Was können wir daraus lernen? Wahrscheinlich nur eine Sache: Wenn es einmal eine Mehrheit gibt für eine durchaus tiefgreifende Idee wie die Finanztransaktionssteuer, dann muss sie schnell genutzt werden – sonst können die Gegner der Reform die nationalen Regierungen auseinanderdividieren. Und die Regierungen sind entscheidend, nicht das Parlament.

Als die kirchliche Initiative „Steuer gegen Armut“, die jahrelang für die Finanztransaktionssteuer gekämpft hatte, von dem deutsch-französischen Vorschlag erfuhr, hat sie wohl etwas Einzigartiges gemacht: Die Initiative hat öffentlichkeitswirksam die Arbeit eingestellt. Aus Protest.


Redaktion: Theresa Bäuerlein/Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Martin Gommel.