Mitten in der Stadt zeigt sich Berlin von seiner traurigsten Seite. In der Kurfürstenstraße laufen Prostituierte den Bürgersteig auf und ab, bewegen sich auf Autos zu, warten auf Kundschaft. Nach wenigen Meter spricht mich eine junge Frau an: „Na, Lust auf Ficken oder Blasen?“ Ich frage mich, wie alt sie wohl ist. 19, vielleicht 20? Oder doch erst 16? Ich kann es nicht sagen.
Berlins berüchtigter Straßenstrich ist nur ein kleiner Ausschnitt einer dunklen Welt. Drei bis vier Millionen Kinder und Jugendliche prostituieren sich nach Schätzungen von UNICEF weltweit. Die Fälle werden hierzulande in der Kriminalstatistik unter dem „sexuellen Missbrauch von Kindern“ oder dem „sexuellen Missbrauch von Jugendlichen“ aufgeführt. Doch wie hoch der Anteil der Prostitution hierbei ist, das lässt sich nicht nachvollziehen. Zu viel liegt im Verborgenen.
Bei meinen ersten Recherchen stieß ich auf die Dortmunder Mitternachtsmission, eine Beratungsstelle für Prostituierte. Ich vereinbare einen Termin mit Andrea Hitzke, der Leiterin des Projekts.
Dortmund. Man kann diese Stadt lieben und man kann sie hassen. Diese raue, harsche Art, der bröckelnde Putz, der Dreck, ein Bild, das eine Geschichte der Vergänglichkeit erzählt, das herzlich-harte Gesicht Dortmunds. In manchen Berichten wird die Stadt als eine Art „Hotspot“ der Kinderprostitution beschrieben. „Hotspot“. Das klingt so dramatisch, so als gebe es belastbare Zahlen, die einen Vergleich zulassen. Doch die gibt es nicht. Ich laufe die Straßen entlang und frage mich, ob es sich aufdrängt, Dortmund so zu bezeichnen, einfach nur, weil es hier nicht glänzt und blitzt, weil die Stadt in Teilen heruntergekommen ist und einen düsteren Eindruck vermittelt? Ich weiß es nicht.
Andrea Hitzke ärgert es, dass einige Medien Dortmund pauschal als einen Brennpunkt abstempeln. Natürlich kommen dort, wo effektiv gegen die Prostitution gearbeitet wird, auch die Fälle zum Vorschein. Es geht darum zu differenzieren. Das fängt bei den Begrifflichkeiten an. Der Begriff „Kinderprostitution“ sei an sich schon falsch, meint Hitzke, als sie mich in ihrem Büro begrüßt. Denn es seien nicht nur Kinder, die in die Prostitution gerieten, sondern vor allem Jugendliche.
Es braucht Zeit, Vertrauen aufzubauen
Seit 15 Jahren beschäftigt sich die Dortmunder Mitternachtsmission in einem eigenen Projekt mit dem Problem. Denn damals kamen die Mitarbeiterinnen immer öfter mit jüngeren Prostituierten in Kontakt – während sie im Jahr 1996 noch 18 Kinder und Jugendliche betreuten, waren es 2002 schon 66, die Hilfe suchten. Kontinuierlich versuchen Hitzke und ihr Team deswegen über die Gefahren aufzuklären. Sie gehen an Schulen, in Kneipen und auf die Straße, um gezielt nach Betroffenen zu suchen.
Zu diesem Team gehört auch Meike Serger. Sie ist Diplom-Pädagogin und Streetworkerin bei der Mitternachtsmission. Ein schwieriger Job, denn oft braucht es sehr viele Versuche, bis ein Kontakt zu den jungen Frauen entsteht. 2011 wurde der Straßenstrich in Dortmund verboten. Seitdem ist die Prostitution dort zwar illegal, sie findet aber dennoch statt. Und die Prostituierten stehen oftmals unter Beobachtung ihrer Zuhälter, sind einer andauernden Gefahr ausgesetzt. „Es dauert lange, bis man Vertrauen aufgebaut hat“, sagt Serger. Irgendwann, wenn dieses Vertrauen da ist, dann können die Mitarbeiter der Mitternachtsmission mögliche Perspektiven aufzeigen. Eine Wohnung, eine Ausbildung, solche Dinge. Das alles braucht Zeit. Ich frage die Streetworkerin, ob ich auf solch eine Tour mitkommen kann. Keine Chance – niemand wird mitgenommen und erst recht kein Mann.
Doch es ist nicht nur der Straßenstrich, auf dem diese Verbrechen ablaufen. Häufig ist der Ort noch viel schwieriger zu ermitteln, das Meiste läuft im Dunkeln ab, abgeschnitten von der Außenwelt. In Wohnungen, die niemand kennt, die extra angemietet werden, um dort Mädchen anzubieten. Wer soll diese Orte schon finden? „Wohnungen ausfindig zu machen, in denen diese Taten stattfinden, ist sehr schwierig“, sagt die Mitternachtsmission-Chefin Hitzke.
Wie alt sind die Opfer wirklich?
Ich frage mich, ob man irgendeinen Vergleich zwischen der Situation in deutschen Städten ziehen kann und fahre nach Berlin. Hier treffe ich mich mit Tabea Dorka, sie leitet das Netzwerk gegen Menschenhandel und kennt sich gut mit Jugendlichenprostitution aus. Dorka hat in Dortmund als Streetworkerin gearbeitet, später in Hannover und Berlin. Ich möchte wissen, wer die Opfer sind. Über wen sprechen wir da eigentlich? Wie geraten sie in diese Situation?
Wege in die Prostitution gibt es viele. Doch während meiner Recherche begegnet mir einer immer wieder, das Loverboy-Phänomen. Auch Dorka berichtet mir davon. Junge Männer nehmen Kontakt zu Mädchen auf, die häufig im Teenager-Alter sind. Vorab informieren sie sich über die Musik, die die Mädchen hören, über ihre Hobbys und ihr soziales Umfeld.
„Ach, wir hören ja dieselbe Musik, das ist ja toll.“
So fängt es an.
„Soll ich dich mal in meinem Auto von der Schule abholen?“
So geht es weiter.
Die Männer umgarnen die Mädchen, sie gaukeln ihnen Liebe vor, versprechen ihnen das Blaue vom Himmel. Wenn möglich, erzählt Dorka, dann suchen die Männer nach Opfern, die anfällig dafür sind: Schlechte Noten in der Schule oder Probleme in der Familie können ausschlaggebend sein – doch letztlich kommen die Jugendlichen aus allen sozialen Schichten. Gleichzeitig reden die Loverboys immer schlechter über die Eltern und Freunde, um ihre Opfer von ihrem Umfeld abzunabeln. Irgendwann kommt der Punkt, an dem die Mädchen fast vollständig isoliert sind. Der Loverboy ändert sein Gesicht, zwingt sie zum Anschaffen.
Erst seit wenigen Jahren ist bezahlter Sex mit Jugendlichen immer strafbar, bis zu einer Gesetzesänderung 2008 galt im zuständigen § 182 des Strafgesetzbuches noch eine Altersgrenze von 16 Jahren. Die Zuhälter trichtern ihren Opfern daher von Anfang an ein, dass sie nicht ihr wahres Alter nennen dürfen. Sie sind über 18, das ist die Ansage. Und tatsächlich ist es für die Streetworker schwierig zu erkennen, ob jemand nun 16 oder 19 Jahre alt ist. Wenn die Mädchen dann auch noch keine Papiere haben, dann steht auch die Polizei vor einem Problem.
Dorka erzählt mir von einem vielversprechenden Forschungsprojekt, bei dem mit einem Handscanner das genaue Alter einer Person bestimmt werden soll. Ich kontaktiere die Organisation Hope for Freedom, die daran arbeitet, doch viel weiter komme ich nicht. „Da sich der Handscanner immer noch in der Entwicklung befindet und wir Geheimhaltungsverpflichtungen unterliegen, ist es uns leider noch nicht möglich darüber mit der Presse zu kommunizieren.“ Ich soll mich in einem Jahr wieder melden.
Zweifelhafte Angebote auf Dating-Plattformen
Doch was sagen eigentlich die Städte dazu? Die Polizei Berlin teilt mir mit: Man habe bereits 2007 beim Landeskriminalamt Berlin einen speziellen Fachbereich gegründet, der sich mit den Ermittlungen im Bereich der Kinder- und Jugendlichenprostitution beschäftigt. Im Jahr 2015 wurden 30 Fälle in Berlin erfasst. In die Kriminalstatistik werden jedoch keine Fälle von Jugendlichen aufgenommen, die sich ohne einen Zuhälter prostituieren. Und das ist einer der Gründe, weshalb solche Statistiken kaum aussagekräftig sind. Denn auch das ist häufig der Fall: Die bewusste Entscheidung, den eigenen Körper zu verkaufen. Dorka erzählt mir, dass sie immer mehr zweifelhafte Angebote auf Dating-Plattformen finden. „Da werden dann Taschengeldtreffen vereinbart“, sagt sie. Taschengeldtreffen. Klingt so gar nicht nach Prostitution, ist es aber. So summieren sich die Fallzahlen und keiner hat einen Überblick, denn ohne Zuhälter fällt man statistisch durch das Raster.
Es läßt es sich schlichtweg nicht beziffern, wie viele jugendliche Prostituierte es in den einzelnen Städten wirklich gibt. Menschen wie Tabea Dorka arbeiten gegen ein Phänomen an, das in Zahlen nicht greifbar ist – und dadurch in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion oft sehr diffus bleibt. Das ist auch für die Finanzierung der Organisationen problematisch, die sich direkt um die Opfer kümmern. Die Vereine sind auf Spenden angewiesen, hangeln sich von Jahr zu Jahr. Falls es öffentliche Gelder gibt, dann stellt sich immer die Frage: Wie lange noch?
Greifbar machen lässt sich das Problem eigentlich nur an Schicksalen. Ich hätte gerne mit Betroffenen gesprochen und Tabea Dorka versuchte, für mich einen Kontakt herzustellen. Einmal zu einer Frau, die Opfer eines Loverboys wurde. Einmal zu einem Vater, dessen Tochter Opfer wurde. Beide Versuche scheiterten.
Deswegen gehe ich in die Kurfürstenstraße in Berlin. Ich möchte sehen, wie jung die Prostituierten wirklich aussehen. Aus meinen Gesprächen habe ich gelernt, dass ich vorsichtig sein muss, wenn ich mich einfach nur umsehe. In einer Szene, in der Gewalt an der Tagesordnung ist, seien die Zuhälter nur schlecht berechenbar, sagte Serger. Und auch Tabea Dorka erzählte mir, dass es selbst für sie als Frau schwierig sei, Kontakt aufzunehmen. Das Café gegenüber, der schwarze Mercedes auf der anderen Straßenseite, die Mädchen stehen häufig unter Beobachtung ihrer Zuhälter. An sie heranzukommen ist nahezu unmöglich.
Viel Testosteron auf der Straße
Als ich aus der U-Bahn an der Bülowstraße steige, kann ich nichts von einem Straßenstrich sehen, doch als ich nach 200 Metern in die Kurfürstenstraße einbiege, bin ich mittendrin. Ich sehe mir die vielen Männer an, die sich an der Straße aufhalten. Hier läuft viel Testosteron herum. Ob einer von ihnen wohl ein Loverboy ist? Einer der Zuhälter? Auf einer Straßenseite sitzt ein Mann in einem Klappstuhl auf dem Bürgersteig und beobachtet die Frauen durch seine Sonnebrille hindurch. So offensichtlich werden sie es doch wohl nicht machen? Mir fällt auf, dass es wirklich schwierig ist, das Alter der meisten Frauen hier einzuschätzen. Oder sollte ich besser von „Mädchen“ sprechen? Ich drehe um und gehe zurück zur U-Bahn. Auf dem Weg kommt die junge Frau, die mich vorher bereits angesprochen hatte, nochmal auf mich zu: „Na? Jetzt Lust? Aber warum nicht? Bisschen Kabine, Blasen, Sex machen.“ Ich verschwinde.
Der Zugang zu dieser Welt ist schwer zu öffnen. Wie groß ist das Problem in Deutschland wirklich? Wie viele Kinder und Jugendliche verkaufen ihre Körper, gehen anschaffen für junge Männer, die ihnen das Blaue vom Himmel versprechen? Man kann es nicht sagen, sondern sich dem Problem nur annähern. Aber wenn sich allein die Mitternachtsmission in Dortmund jedes Jahr um Dutzende von ihnen kümmert, dann wird klar, dass die dunklen Geschichten dieser Welt auch vor der eigenen Haustür stattfinden. In Deutschland. In Dortmund, Berlin, Hamburg. Vielleicht in der Bar nebenan.
Illustration: Sibylle Jazra für Krautreporter