Wieso „sozial schwach” die kleine Schwester von Scheiße ist
Geld und Wirtschaft

Wieso „sozial schwach” die kleine Schwester von Scheiße ist

Wer benutzt eigentlich noch diese zwei Wörter, um Arme zu betiteln? Mehr Menschen als gedacht. Das muss sich ändern, denn das Wortpaar ist falsch und erniedrigend. Aber bei einer Sprachänderung kann es nicht bleiben.

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Politik- und Klimareporter

Die zwei Wörter müffeln schon. Nach Peter Hartz und seinen Reformen, nach leeren Sozialkassen und Neiddebatten. Sie riechen nach einer anderen Zeit und nach einem anderen, rückwärtsgewandten Deutschland: „sozial schwach“. Keiner kann so richtig sagen, was diese Wörter eigentlich bedeuten sollen. Niemand hat sie jemals definiert, aber sehr viele verwenden sie.

Journalisten von Spiegel Online, taz oder FAZ benutzen sie ohne Scheu. Politiker aller Parteien sprechen davon und die Arbeitgeberverbände sowieso. Die Beispiele habe ich wahllos herausgegriffen. Das Wort ist immer noch überall.

Dabei fordern Sozialverbände wie die Arbeiterwohlfahrt seit mehr als zehn Jahren, die Bezeichnung nicht mehr zu verwenden. Sie stigmatisiere Menschen. „Die sozial Schwachen sind alles andere als sozial schwach. Von den meisten [finanzschwachen] Eltern wird eine nur schwer vorstellbare Stärke verlangt, ihre Situation täglich zu bewältigen und für ihre Kinder zu sorgen“, sagte der AWO-Vorsitzende Wilhelm Schmidt. Der Kabarettist Hagen Rether dreht die Bedeutung um und macht einen politischen Kampfbegriff daraus, wenn er sagt: „Da nennt man Leute sozial schwach. Die sind doch nicht sozial schwach; die sind ökonomisch schwach. Meiner Erfahrung nach sind oft die ökonomisch Starken sozial schwach.“ So weit muss man nicht gehen, um sich klarzumachen, dass dieses Wortpaar mit dem Zusatz „veraltet“ in den Duden gehört. (Worin es übrigens gar nicht als eigener Beitrag steht.)

Der Vorgänger von „sozial schwach“ war „asozial“

Die Lehrerin Magda von Garrel zeigt in einem Aufsatz, dass das Wortpaar „sozial schwach“ in direkter Verbindung mit „asozial“ steht. Das wurde 1967 in einem Pädagogik-Wörterbuch so definiert: „Menschen, die sich den Normen und Gesetzen der Gesellschaft gegenüber ablehnend verhalten, entweder aus abnormer Triebveranlagung oder infolge erworbener Schäden […] des Nerven- oder inneren Drüsensystems.“

Ironischerweise wurde „sozial schwach“ als vermeintlich harmlosere, weniger verletzende Bezeichnung für jenes Milieu verstanden, das in diesem Lexikon umschrieben wird. In gewisser Weise ist es das auch, schließlich werden die Menschen jetzt nicht mehr einfach so als krank bezeichnet, und es wird ihnen eine Entwicklungsfähigkeit zugestanden. Dennoch sei es abwertend, so von Garrel, schließlich sei es eine von außen zugeschriebene Eigenschaft, der kein „grundlegender Einstellungswandel zugrunde liegt“.

Die Bezeichnung auf dem Müllhaufen der Sprachgeschichte verschwinden zu lassen, ist richtig und dazu noch ziemlich einfach. Niemand muss für Dinge, die sich nie geändert haben, komplett neue Wörter lernen. Wo aus der Friseuse die Frisörin und aus der Krankenschwester die Pflegekraft geworden ist, reicht es im Falle der „sozial Schwachen“ einfach genau hinzuschauen: Haben sie die Schule vorzeitig verlassen, sind sie auch nicht „bildungsfern“ (noch so ein Unwort), sondern haben einfach keine Schulabschlüsse. Haben sie wenig Geld, sind sie arm. Und fügen sie sich nicht den Erwartungen der herabblickenden Gesellschaft – das ist die dritte Dimension von „sozial schwach“ – gilt es die Erwartungen zu ändern und nicht die Menschen zu stigmatisieren.

Zu oft werden die Zuschreibungen von Bürokratie und Wirtschaft kritiklos übernommen

Dadurch, dass wir in der Öffentlichkeit beginnen, die Dinge beim Namen zu nennen, fangen wir an, die Zusammenhänge zu verstehen. Das lässt sich leicht veranschaulichen: „Die soziale Schieflage ist ja auch bei Wahlen zu beobachten. Da ist die Wahlbeteiligung in sozial schwächeren Stadtteilen überdurchschnittlich niedrig“, sagte etwa ein Politiker der SPD (ausgerechnet). Nun ersetzt den Begriff! „Da ist die Wahlbeteiligung in armen Stadtteilen überdurchschnittlich niedrig.“

Letztlich ist „sozial Schwache“ nur ein weiterer Begriff in der langen Reihe der verschleiernden Wörter des Spätkapitalismus (zum Beispiel „Flexibilisierung“), in denen sich nicht die Wahrnehmung der Mehrheit der Bürger durchsetzt, sondern die der Spitzen in Bürokratie und Wirtschaft. Für sie sind arme Menschen „Fälle“, die es zu behandeln gilt. Für die Bürger sind es Nachbarn.

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Deswegen darf es auch nicht bei einer bloßen Umetikettierung bleiben, sie ist nur der erste Schritt, um jene, die aktuell profitieren, daran zu erinnern, dass sie eine Verantwortung für ihre Mitmenschen haben. Der zweite Schritt ist aber wichtiger; wer den Armen wirklich helfen will, darf nicht die Fehler wiederholen, die bei anderen Minderheiten in Deutschland gemacht wurden. Es kann nicht darum gehen, nur die Wörter zu ändern und dann darauf zu hoffen, dass sich so in einem ewig langen Prozess auch die Gesellschaft ändert. Armut und fehlende Bildung sind ein Produkt staatlicher, politischer Entscheidungen – die nicht erst in Jahrzehnten, sondern morgen schon geändert werden können.

Armut ist kein individueller Defekt – sie ist Folge politischer Entscheidungen

Dass es falsch ist, Armut nur als die Folge eines irgendwie gearteten individuellen Defekts zu sehen, zeigt die jüngste Forschung. Arme haben es schon deswegen schwerer, weil es erstaunlich teuer ist, arm zu sein. Das hatte ich schon einmal beschrieben. Rutger Bergman vom niederländischen Magazin De Correspondent beschreibt außerdem eine wegweisende Studie. Darin haben Psychologen untersucht, wie sich die Eröffnung eines Casinos auf eine verarmte Gruppe von Ureinwohnern in den USA ausgewirkt hat. Die Annahme war klar und Ausdruck gesellschaftlicher Vorurteile: Die Menschen würden spielsüchtig werden und ihre staatlichen Hilfen verzocken. Der Gouverneur des Bundesstaates wollte das Casino mit allen Mitteln stoppen. Aber das Gegenteil geschah. Das Casino brachte den Menschen Geld und durch einen glücklichen Zufall war eine Psychologin dort, die schon vier Jahre vorher begonnen hatte, Jahr für Jahr die geistige Gesundheit von 1.400 Kindern vor Ort zu untersuchen. Dadurch bot sich die Gelegenheit, eine Frage zu beantworten, die Armutsforscher seit Jahrzehnten hin und her wälzten. Führt Armut zu sogenannten Verhaltensstörungen? Oder führen diese zu Armut?

Das Ergebnis war eindeutig: Armut führt zu Verhaltensstörungen – gerade bei Menschen, die dafür eine genetische Veranlagung haben. Die Forscherin entdeckte aber noch etwas anderes: Weil die Eltern der Kinder sich plötzlich darauf verlassen konnten, regelmäßig Geld mit ihrer Arbeit im Casino zu verdienen, waren sie weniger gestresst, konnten ihre Tage besser planen – und sich so mehr um ihre Kinder kümmern, obwohl sie in der Summe nicht weniger arbeiteten.

Aber nicht nur das: Armsein hat ganz konkrete Auswirkungen auf die Qualität unserer Entscheidungen. Vier Forscher beobachteten indische Bauern, die in der einen Hälfte des Jahres, zur Erntezeit, viel Geld und in der anderen Hälfte wenig Geld zur Verfügung hatten. Sie fanden heraus, dass die Bauern deutlich schlechtere Entscheidungen trafen, wenn sie arm waren.

Die Menschen sind schwach, weil sie arm sind. Nicht andersherum. Es wird Zeit, dass wir das auch so sagen. Und dann ändern.


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