Wenn Markus von seinem alten Job erzählt, werden seine Sätze nebulös, er muss dann viel erklären, oft um den eigentlichen Kern herumreden, weiter ausholen, umschreiben statt konkret benennen. Erklär mal jemandem, was ein Zielfahnder der Bundeswehr nach dem Bosnien-Krieg auf dem Balkan gemacht hat! Naja, Kriegsverbrecher gesucht, sagt Markus dann, aber Details darf er nicht verraten. Geheim. Markus kann sehr lange über seinen ehemaligen Job sprechen, er wirkt dann zwar nicht aufgeregter als sonst, aber man hört aus seinen Worten die Bedeutung dieser Arbeit für ihn heraus. „Ich hab den Job gern gemacht, sehr gern“, sagt er dann, „auf einer Skala von 1 bis 10 war er ’ne 9.“
Wenn Markus von seinem jetzigen Job erzählt, muss er gar nichts umschreiben, die Sache ist so wenig kompliziert wie mitreißend. Nix mehr Ausland, nix mehr Aufregung. Markus arbeitet jetzt als Sachbearbeiter für eine Zeitarbeitsfirma in einem Dienstleistungsunternehmen, das wiederum für eine große Bank tätig ist. Dort organisiert er Schulungen, beziehungsweise: Er meldet Interessenten dafür an oder wieder ab und beantwortet Fragen von Teilnehmern zu den Seminaren. „Ganz reduziert gesagt: Anmelden, abmelden, Administrationsarbeit“, erklärt er.
Markus ist 39 Jahre alt, wohnt im Rhein-Main-Gebiet, hat eine einjährige Tochter, ist verheiratet. All das steht in seinem Lebenslauf. Aus dem wird aber vor allem ersichtlich: Markus ist in seinem Job überqualifiziert. So wie Millionen andere Deutsche. Rund 15 Prozent aller Arbeitnehmer bringen laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg mehr Qualifikationen mit, als sie für den Job brauchen, den sie ausüben.
Wie kann das sein? In einer Wissensgesellschaft, in der die Berufsbilder immer differenzierter werden? Und in der jener sperrige Begriff vom „Fachkräftemangel“ seit Jahren durch die Medien und Fachforen geistert?
Unglückliche Umstände und falsche Entscheidungen = Überqualifizierung
Malte Reichelt vom IAB unterscheidet individuelle und strukturelle Faktoren, die zu einer Überqualifizierung führen können. Ein falsch gewähltes Studium oder eine falsche Ausbildung zählt Reichelt zur ersten Kategorie, dazu gibt es bestimmte Risikogruppen, die eher in einem Job landen, der den eigenen Kompetenzen nicht entspricht, wie beispielsweise Migranten. Zu den strukturellen Faktoren für Überqualifizierung zählt Reichelt die Digitalisierung, den Strukturwandel wie etwa im Osten Deutschlands oder im Ruhrgebiet sowie eine mangelnde Mobilität bei Bewerbern. Reichelt differenziert aber noch weiter: in „formale“ und „gefühlte“ Überqualifizierung. Erstere bestehe dann, wenn jemand etwa trotz Studiums in einem Ausbildungsberuf arbeite. Gefühlte Überqualifizierung hingegen könne auch vorliegen, wenn Ausbildungsniveau und Job formal zusammenpassen, der Arbeitnehmer aber das Gefühl hat, unter den eigenen Kompetenzen zu arbeiten.
Zudem akademisiert sich die Arbeitswelt: Seit Jahren steigt die Zahl der Studierenden in Deutschland. Laut dem aktuellen Mittelstandsbarometer der Wirtschaftsberatung Ernst&Young fühlt sich der Großteil deutscher mittelständischer Unternehmen durch den Fachkräftemangel am meisten bedroht. Dem deutschen Mittelstand fehlen 326.000 Arbeitskräfte.
Markus’ Weg in die Überqualifizierung lässt sich am ehesten aus einer Verkettung ungünstiger Umstände, unglücklicher Entscheidungen und am Ende schlicht Pech bezeichnen: Nach dem Abitur verpflichtet er sich für zwölf Jahre bei der Bundeswehr, durchläuft zunächst eine Offiziersausbildung, bewirbt sich intern aber für die Tätigkeit des Zielfahnders. Er besteht den Eignungstest, macht Schulungen und Fortbildungen – bis er schließlich auf dem Balkan stationiert wird und dabei hilft, international gesuchte Kriegsverbrecher dingfest zu machen.
Er führt Gespräche mit wildfremden Männern in dunklen Kneipen oder mit Mittelsmännern an Flughäfen und trägt so Informationsfetzen zusammen, um irgendwann daraus ein Puzzle basteln zu können. Manchmal ziehen sich die Recherchen über Monate, bis ein Zugriff erfolgt. Er fertigt Bedrohungsanalysen an, schult andere in interkultureller Beratung, verwaltet das Budget für Operationen, landet schließlich in einer Führungsposition. „Da ist natürlich ganz viel Aufregung und Bestätigung im Job“, sagt er rückblickend, „man hat schon das Gefühl, dass man etwas sehr Sinnvolles macht. Auch, dass man einen besonderen Job hat.“ Manche Kollegen, so erzählt er, wären lieber im Einsatz als zu Hause gewesen.
Insgesamt dreimal wird Markus für längere Zeit auf dem Balkan stationiert, parallel zu seiner Arbeit als Zielfahnder macht er seinen Bachelor in Betriebswirtschaftslehre. Er liebt seinen Job, aber nachdem er einige Jahre in Folge an Weihnachten nicht bei seiner Partnerin zu Hause sitzt, sondern in Sarajevo, entscheidet er sich gegen eine Verpflichtung als Berufssoldat. Er verabschiedet sich von der Bundeswehr und startet stattdessen beim Zoll ein duales Finanzwirtschaftsstudium. Bis zur Prüfung läuft alles gut.
Dann gerät Markus ins Schlingern.
Sein Vater erkrankt, seine Ehe scheitert, er vermasselt die Prüfung beim Zoll, auch im zweiten Anlauf. Um 0,43 Prozent. Der Zoll entlässt ihn aus dem Beamtendienst, Markus landet auf Hartz-IV-Niveau. Für einen ehemaligen Zielfahnder in Führungsposition, der einen BWL-Bachelor hat, aber keinen Masterabschluss, ist es schwer, einen angemessenen Job zu finden. 2014 fährt Markus zunächst LKW für einige Monate, macht Airline-Catering auf dem Flughafen, wechselt danach kurz zu einer Kundenberatung im Bereich Altersversorge, bis er schließlich nach mehrmonatiger Suche über eine Zeitarbeitsfirma in seinem jetzigen Job landet. Dort hat er einen unbefristeten Vertrag als Leiharbeiter, fühlt sich unterfordert. Zudem fehlt eine Perspektive, denn das Unternehmen baut Stellen ab.
Früher sollte Arbeit das Leben sichern – heute ist sie für viele das Leben
Was macht es mit einem Menschen, der einmal in seinem Job so viel Prestige und Bestätigung gewonnen hat wie Markus, wenn beides plötzlich ausbleibt? Wenn das Fallen auf eine „untere Stufe“ kein Ausnahmezustand ist, sondern der neue Lebensumstand? Sicher, manch einer tritt freiwillig eine Sprosse zurück auf der Karriereleiter, aber in der heutigen Gesellschaft, die so leistungsbezogen ist wie selten zuvor, ist das eher die Ausnahme.
Früher wurde nach Stechuhr gearbeitet, fünf Tage die Woche, acht Stunden am Tag. Arbeit diente dazu, das Leben zu sichern. Es ging weniger um Selbstverwirklichung und Ansehen als vielmehr darum, Geld zu verdienen. Heute ist die Arbeit für viele das Leben. „Der Beruf wird zum Zentrum des gesellschaftlichen Strebens und individuellen Seins“, schreibt etwa der Soziologe und Journalist Jakob Schrenk. Arbeit soll uns nicht nur Geld erwirtschaften – sie soll uns aufwerten. Doch das ist schwer für jene, die einen Job machen, der weniger verlangt, als das eigene Können bietet.
Als „höchstgradig frustrierend“ empfindet Markus seine jetzige Situation, „ich gehe hart auf die 40 zu und stehe in der Hackordnung wieder ganz unten.“ Er habe lernen müssen, völlig umzudenken. Seine zweite Ehe und die einjährige Tochter geben ihm jetzt viel Halt, das Kind stehe im Fokus, sagt Markus. In den vergangenen Monaten hat er rund 20 qualifizierte Bewerbungen geschrieben, neben Arbeit und Familie. Geklappt hat es bis dato nicht. Wieso, weiß Markus nicht. Er ist eloquent, sympathisch, aufgeweckt; von seinem Bewerbungsfoto blicken einem blaue Augen und ein breites Lächeln entgegen. Er wirkt vertrauenswürdig. „Viele sagen im Gespräch, dass ich ja einen sehr interessanten Lebenslauf hätte – und das war’s dann“, erklärt Markus, „das ist besonders entmutigend.”
Vielleicht wüsste Ute Albrecht Rat. Sie ist Bewerbungsberaterin, hilft beim Verfassen von Unterlagen oder trainiert Vorstellungsgespräche mit ihren Kunden. Seit 2002 macht sie den Job. „Zu mir kommen die Jungen und die Alten“, sagt sie, „im mittleren Alter eher weniger.“ Zu Zeiten der Finanzkrise, also um 2008/2009, sei Überqualifizierung verstärkt ein Thema gewesen, sagt Albrecht, sie glaubt aber auch, dass es für manchen Arbeitgeber heute eine Ausrede ist. Sie erzählt den Fall einer Drogerie-Verkäuferin, die sich auf einen Job anderen Job im Einzelfachhandel beworben und eine Absage bekommen habe. Sie sei überqualifiziert, teilte man ihr mit. „Aber das stimmte nicht“, sagt Albrecht, „denn sie hatte ja eine Ausbildung zur Verkäuferin absolviert.“ Albrecht vermutet viel mehr, dass der Migrationshintergrund der Bewerberin Grund für die Job-Absage war.
Eine Büroleiterin ist gekränkt – weil ihre Qualifikationen zu gut sind
Fest steht: Der deutsche Arbeitsmarkt ist starrer als andere. Zeugnisse, Abschlüsse, Noten: All das ist wichtig, um in Deutschland einen Job zu bekommen. Nur wenige „rutschen irgendwie rein“. Im Vergleich mit dem hiesigen Arbeitsmarkt haben es Bewerber in den USA oder in England leichter. „Es gibt dort keine klassische Ausbildung wie bei uns“, erklärt Malte Reichelt vom IAB, „dafür allerdings auch keinen Kündigungsschutz. Das heißt, für Arbeitgeber ist es einfacher, Leute im Job auszubilden.“ Die Hemmschwelle, Neulinge einzustellen, sei dadurch niedriger, sagt Reichelt. Allerdings: Da der Kündigungsschutz fehlt, rutscht am Ende womöglich auch schneller wieder raus, wer relativ einfach reingerutscht ist.
Olga, 44, weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig der deutsche Arbeitsmarkt sein kann im Vergleich zu anderen Ländern. In Ungarn, ihrer alten Heimat, arbeitete die studierte Wirtschaftsingenieurin an oberster Stelle als Büroleiterin. In Deutschland aber findet die dreifache Mutter keine Stelle, die ihrer Qualifikation entspricht. Sie arbeitet heute als Sachbearbeiterin im Vertriebsinnendienst eines mittelständischen Familienunternehmens, verdient ca. 43.000 Euro im Jahr. Das ist zwar nicht wenig, liegt aber dennoch unter dem, was Olga mit ihrer Qualifikation verdienen könnte.
Vor zehn Jahren kamen sie und ihr Mann, ein Deutscher, zurück in seine Heimat. Der Kinder wegen, die eine möglichst gute Ausbildung bekommen sollten. Kennengelernt hatten sich Olga und ihr Mann in Budapest. Er hatte nach der Rückkehr als Maschinenbauingenieur beste Aussichten in Deutschland – während sie unten ansetzen musste, wenn es um ihre Arbeit ging. „Aber ich wollte immer mehr als nur Etiketten kleben und Ordner sortieren“, sagt Olga. Man spürt schon am Telefon durch die Art, wie sie redet – schnell, klar, aufgeräumt –, dass am anderen Ende der Leitung eine Frau sitzt, die zielstrebig sein muss, etwas erreichen will. Doch einfach ist das in Olgas Fall nicht, trotz Studium und fast 20 Jahren Berufserfahrung.
Ertragen musste sie so einiges. Beispielsweise, dass ein Kollege sie in der Firmen-Hierarchie überholte - mit einem Hauptschlussabschluss als Qualifikation. „Irgendwann habe ich das nicht mehr ausgehalten”, sagt Olga. Sie war tief gekränkt.
Auf der schwierigen Suche nach der Herausforderung im Job
Gerade hat sie wieder Bewerbungsgespräche hinter sich. Sie sucht trotz fester Stelle weiter, nach einer besseren Lösung, nach einer beruflichen Perspektive. Genauso wie Markus es tut. Eine Stelle, für die sich Olga beworben hatte in den vergangenen Wochen, entsprach genau ihren Qualifikationen, „das war ein ganz tolles Angebot “, sagt sie, „ich hab´ mich wahnsinnig gefreut, das wäre eine super Herausforderung gewesen.“ Bis es um ihr Gehalt ging. 28.000 Euro im Jahr bot der neue Geschäftsführer – weniger als ein Anfängergehalt. Olga lehnte ab.
Bei einem anderen Familienbetrieb bekam sie ebenfalls eine Einladung zum Vorstellungsgespräch, wieder Vertriebsinnendienst, wieder Verkauf, Bereich Lagertechnik. Olga entschied sich für den neuen Job, obwohl „den auch eine ausgebildete Industriekauffrau machen könnte“, wie sie sagt. Das Gehalt sei auch nicht üppig, im Gegenteil. Aber die Konditionen rundherum stimmen: ein Tag pro Woche Home-Office, Sechs-Stunden Arbeitstag, 30 Tage Urlaub, die Arbeitsstätte nur 5 Minuten von zu Hause entfernt.
Zum ersten Oktober wird Olga anfangen, sie soll einen eigenen Kundenkreis aufbauen. Sie weiß, dass sie eigentlich mehr kann als der neue Job von ihr verlangt. Aber sie ist trotzdem zuversichtlich; sie muss es sein.
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