Lieber Rico,
ich habe mich über deinen Artikel “Die Jungen brauchen eine Quote” zunächst sehr geärgert. Über deine nassforsche Behauptung: “Mama, Papa, Oma, Opa, wir lieben euch. Aber: Ihr haut uns übers Ohr.” Wie bitte, das stimmt doch nicht! Tun wir nicht alles für euch Jungen? Haben wir nicht immer ein offenes Ohr und ein offenes Portemonnaie?
Dann habe ich den Text nochmal in Ruhe gelesen. Und gemerkt: Du hast in Vielem recht. Allerdings hätte ich – mit aller Gelassenheit meiner 62 Lebensjahre – ein paar Fragen, Ergänzungen und Anmerkungen.
Lass mich mit Herrn Müller beginnen.
Herr Müller kam immer zum falschen Zeitpunkt. Sobald in der Redaktion Stress angesagt war, tauchte der Versicherungsvertreter neben meinem Schreibtisch auf. Er kümmerte sich um meine private Altersvorsorge. In zwei Dutzend Jahren unterschrieb ich - oft genervt - ebenso viele Policen. Weil ich, wie alle meine Kollegen, Müller vertraute, und weil mein früherer Arbeitgeber mit einzahlte. Ja, so etwas gab es im vergangenen Jahrhundert.
Inzwischen, Jahrzehnte später, habe ich zwei Policen ausbezahlt bekommen. Die anderen Policen kosten mich richtig viel Geld, das ich früher locker abzweigen konnte. Heute nicht mehr, da geht es mir wie den Jungen. Ich habe immerhin Ersparnisse, die sich plündern lassen. Und die Zeit bis zur Auszahlung ist absehbar. Ich habe, Müller sei Dank, für mein Alter vorgesorgt. Und das lange, bevor Riester und Rürup in der Rentenversicherung auftauchten.
Die Vorfreude auf ein abgesichertes Altenteil verdirbst du mir seit dem Votum Großbritanniens für den Brexit. Die jungen Briten sind wütend, weil ihnen die alten Briten, die in der Überzahl sind, mit ihren Vorbehalten gegen die EU die Zukunft verbaut haben. Du sagst, auch Deutschland hat ein Jung-Alt-Problem. Aber werden die Jüngeren wirklich übervorteilt?
Nach Studium deines Artikels habe ich, wie viele Journalisten-Kollegen und Gesprächspartner, erst einmal zynisch lächelnd auf die Briten verwiesen. Schienen doch die ersten Zahlen zu zeigen, dass von den bis 45 Jahre alten Wahlberechtigten nur rund 35 Prozent zu den Urnen gegangen seien.
Leider blieb mir das Lächeln im Hals stecken, als neuere Zahlen nachgeschoben wurden. Danach beteiligten sich immerhin 64 Prozent der Wahlberechtigen zwischen 18 und 24 Jahren an dem Referendum. Aber in der Gruppe über 65 Jahre waren es eben 90 Prozent. Von den jungen Leuten haben 70 Prozent für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt. Bleibt die Tatsache, dass die jüngeren Wahlberechtigten den älteren zahlenmäßig unterlegen sind.
In Deutschland sieht es ähnlich aus. Bei der Bundestagswahl 2013 stellte die Generation ab 60 Jahren mehr als doppelt so viele Wähler (21,3 Millionen) wie die jüngere Generation unter 30 Jahren (9,8 Millionen), die nur knapp ein Sechstel aller Wahlberechtigten ausmachte.
Auch hier lohnt ein Blick auf die Wahlbeteiligung. Am niedrigsten war sie mit 60,3 Prozent bei den 21- bis 24-Jährigen, am höchsten mit 79,8 Prozent in der Altersgruppe der 60- bis 69-Jährigen. Auf Grundlage der aktuellen Bevölkerungsvorausberechnung könnten ab 2040 ungefähr 45 Prozent der Wahlberechtigten mindestens 60 Jahre alt sein, davon 30 Prozent über 70 Jahre.
Fazit: Deine Diagnose stimmt, Rico, auch in Deutschland sind die alten Wähler in der Überzahl und überaus aktiv.
Nüchterne Zahlen lassen mich kalt, aber das Thema Rente regt mich auf. Ihr Jungen (auch du, Rico), habt ihr schon mal was vom Generationenvertrag gehört? Der besagt: Die Jüngeren zahlen ihre Beiträge in die Rentenversicherung ein. Davon werden die Renten der heute Älteren ausbezahlt.
Aber jetzt, das ist mein Eindruck, wollt ihr Jungen mich über den Tisch ziehen. Seit 1980 habe ich brav Monat für Monat das Geld abgedrückt, damit zunächst Opa und Oma, dann Papa und Mama ihre Rente erst per Brief und dann aufs Konto bekamen. Denn bald komme ich an die Reihe, und ihr dürft zahlen. Und wenn heute zwei Beitragszahler einen Rentner füttern müssen, dann muss natürlich eine grundlegende Reform her, das muss jedem klar sein, der die Zahlen kennt. Aber keine Totalverweigerung.
Kritik an den Rentenbeschlüssen der Koalition halte ich für legitim. Aber plündert sie wirklich die Rentenkasse, wie du schreibst? Wer bitte geht denn heute schon mit 63 Jahren ohne Abschläge in den Ruhestand? Das ist die Ausnahme und nicht die Regel. Das waren nur die Jahrgänge 1951 und 1952. Für die Jahrgänge danach steigt diese Altersgrenze stufenweise an. Okay, künftig muss bis 67 gearbeitet werden, damit die Beiträge bezahlbar bleiben. Aber die Lebenserwartung steigt doch auch kontinuierlich.
Und was bitte, Rico, hast du an der Mütterrente auszusetzen? Bei Frauen, die vor 1992 Kinder geboren haben, werden seit 1. Juli 2014 statt nur einem - wie bisher - zwei Jahre an Kindererziehungszeiten angerechnet werden. Zwei Jahre! Das ist doch nur gerecht. Denn Frauen mit jüngeren Kindern können schon lange drei Jahre geltend machen.
Und was mich noch aufregt: Warum kümmert ihr euch nicht selbst um die Alterssicherung, sondern überlasst das Thema den Bundestagsabgeordneten? Die brauchen sich doch über ihre Bezüge im Alter wenig Gedanken zu machen. Aktuelle Stunden im Parlament zum Thema Rente sind gegenseitige Schuldzuweisungen, mehr nicht.
Ich fand es erfrischend, als SPD-Chef Sigmar Gabriel jetzt damit drohte, die Rente zum Wahlkampfthema auszurufen. Leider hatte er offensichtlich übersehen, dass Sozialministerin Andrea Nahles in derselben Partei ist und noch in dieser Wahlperiode die Altersbezüge von Geringverdienern aufstocken, die Betriebsrenten ausbauen und die Renten in Ost und West weiter angleichen will. Es wäre keine gute Idee von Gabriel, das Thema öffentlich anzuprangern und der SPD-Ministerin Versagen vorzuwerfen.
Nahles erklärt schon einmal: “Das Rentensystem ist stabil und funktioniert.” Und die Kanzlerin stößt in selbe Horn: Angela Merkel verkündet, das Rentensystem in Deutschland sei bis 2029 sicher und zukunftsfest. Norbert Blüm, reloaded.
Da fühle selbst ich mich verarscht. Aber warum melden sich die Jungen nicht zu Wort, protestieren und fordern eine wirkliche Reform?
Ist die Schuldenbremse unsinnig?
Kommen wir zur zu den Staatsschulden: Wer von “guten Schulden” schreibt oder eine Schuldenbremse für unsinnig hält, wenn Schulden nichts kosten - wie du das machst, Rico - den verstehe ich nur zum Teil. Zwar leuchtet es mir ein, dass es billiger ist, jetzt Schulden für eine Brückenrenovierung aufzunehmen, statt abzuwarten und sich eine Komplettsanierung in Zeiten hoher Zinsen aufzuhalsen. Aber Schulden müssen von (jungen) Menschen zurückgezahlt werden, die meistens nicht darüber entscheiden können, wofür das Geld aufgenommen wird. Ja, Schulden müssen zurückgezahlt werden!
So stellt sich Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) den Verlauf der deutschen Staatsschulden vor:
Wie kommen wir aus dem Alt-Jung-Dilemma heraus?
Lieber Rico, auch ich halte es für erforderlich, ein System zu ändern, das nach dem Motto funktioniert: Die Alten entscheiden, die Jungen baden es aus. Ich bin auch bereit, Privilegien abzugeben. Aber viele Vorschläge sind entweder symbolisch - Kinderrechte ins Grundgesetz - oder hebeln gleich das Grundgesetz aus.
Ich stimme dir auch zu, dass es keinen Grund gibt anzunehmen, dass Kinderrechte oder Familienwahlrecht etwas daran ändern würden, wie alt Bundestagabgeordnete in Zukunft sein werden. Heute ist etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung unter 35 Jahren, aber nur fünf Prozent der Parlamentarier. Da hat sich im Laufe der Zeit nicht viel geändert. In der ersten Wahlperiode des Bundestags lag der Altersdurchschnitt bei genau 50 Jahren, seitdem liegt er ziemlich konstant bei rund 49 Jahren.
Hilft eine Quote für junge Menschen?
Deine Forderung: Jeder dritte Listenplatz der Parteien müsste für Menschen unter 35 reserviert sein. Nun, von Quoten halte ich nicht viel. Sie können dazu führen, dass Plätze mit unterqualifizierten oder überforderten Menschen besetzt werden. Aber ich sperre mich auch nicht dagegen. Überzeugt mich, dass die Quote für Junge wirkt - zumindest psychologisch. Setzt die Parteien unter Druck, jeden dritten Platz zu quotieren.
Aber wie bekommen wir mehr junge Menschen in die Parteien? Zwar belegt die Shell Jugendstudie, dass immer mehr Junge politisches Interesse zeigen. Im Vergleich zu nur 30 Prozent im Jahr 2002 bezeichneten sich 2015 rund 41 Prozent der Jugendlichen als „politisch interessiert“. Allerdings profitieren die etablierten Parteien nicht davon, denn die Politikverdrossenheit bleibt weiter hoch. Jugendliche bringen den Parteien wenig Vertrauen entgegen, genauso wie großen Unternehmen, Kirchen und Banken. Die Jugendorganisationen der Parteien ziehen daraus Konsequenzen und versuchen diejenigen zu ködern, die eher „kurzfristige Happenings“ suchen als beharrliche Parteiarbeit, Stichwort TTIP. Die Bedrohung durch Chlorhühnchen mobilisiert mehr als ein kollabierendes Alterssicherungssystem.
Einer unserer Leser hat in einem Kommentar die Idee einer Jugendpartei ins Spiel gebracht. Er schreibt dazu: „Meines Erachtens würde diese aktuell scheitern, weil Jung-Sein nicht genug Klebstoff ist, um die Partei zusammenzuhalten.“ Das sehe ich auch so. Auch die Alten sind mit ihren Grauen Panthern gescheitert. Außerdem wird der Mensch täglich älter und wächst automatisch aus einer Jugendpartei heraus.
Tipps von einer Fast-Rentnerin
Als Parlamentskorrespondentin habe ich gelernt: Wichtig ist nicht, wer im Bundestag sitzt, sondern wer die Abgeordneten beeinflusst. Solche Menschen nennt man Lobbyisten. Es gibt eine offizielle Liste der Lobbyverbände des Bundestags: Mir erscheinen die Jungen/Jugendlichen darin unterrepräsentiert. Der Kinderschutzbund ist für die Vertretung aller Menschen unter 35 der falsche Verband. Legt euch eine Lobby zu!
Altersbedingt fällt mir auch die 68er-Bewegung ein und das, was als “langer Marsch durch die Institutionen” im Gedächtnis geblieben ist: zum Beispiel Joschka Fischers Aufstieg zum Außenminister. Ihr Jungen könntet ganz gezielt versuchen, strategische Stellen zu besetzen und so im Staat Einfluss zu gewinnen.
Und da wäre noch das Beispiel der FDP: Ende der 90er Jahre versuchten jugendliche Quergeister, die FDP zu kapern. Einige der Sponti-Studenten machten dort Karriere. Andere versuchten ebenfalls diese Strategie: In Berlin-Reinickendorf sah sich die Partei mit einer Eintrittswelle rechter Jugendlicher konfrontiert. Eine Partei zu unterwandern, kann funktionieren, muss nicht.
Und das Wichtigste zum Schluss: Wartet nicht auf uns Alte, dass wir euch den Weg ebnen und freiwillig die Fleisch-/Gemüsetöpfe räumen. Wir haben es endlich geschafft, wir sind Mehrheit. Die eine Hälfte von uns möchte, dass sich gar nichts mehr ändert. Und die andere Hälfte will noch rasch die Umwelt retten oder die Revolution in die Altersheime tragen. Deshalb, Rico und all ihr Jungen: Arsch huh, Zäng ussenander (Arsch hoch, Zähne auseinander!!) Engagiert euch. Kämpft für eure Rechte und eure Ideen. Macht die Rente zu eurem Thema, statt zu resignieren.
Und sucht euch Berater in Sachen Altersvorsorge. Jetzt sofort, nicht irgendwann einmal. Jemand, der informiert und vertrauenswürdig ist wie Herr Müller. Vielleicht klappt das dann ja noch mit der Rente!
Aufmacherbild zeigt Vera Fröhlich; Foto: Sebastian Esser.