Die Alten sagen, der Jugend gehöre die Zukunft. Als ich jung war, hatte ich aber nicht einmal genug Platz zum Skateboard fahren.
Meine Freunde und ich hatten damals im Wesentlichen zwei Ziele. Das erste Ziel im Leben eines 15-Jährigen können Sie sich sicher denken. Das zweite Ziel lautete: Diesen verdammten Kickflip die Treppe runter stehen. Wir prüften jeden Straßenzug auf dessen Eignung, als wären wir pfiffige Immobilienentwickler. Was für den Immobilienhai die Eins-A-Lage ist, ist für den Skateboarder ein geiler „Spot“. So ein geiler Spot hat einen feinen, ebenen Bodenbelag, Handgeländer, Treppen und genug Platz, um Schwung zu holen. Wir fanden solche Spots; aber kaum hatten wir uns damit vertraut gemacht, brüllten die Rentner, wir sollten uns verpissen. Gelangweilten Polizisten reichten wir unsere Schülerausweise. Und weil wir trotzdem wiederkamen, tauchte irgendwann stets dieses Schild auf: „Skateboard fahren untersagt. Privatgelände.“
Die Enttäuschung, die hilflose Wut angesichts dieser dummen, starren Verbote, die Wut der Jungen auf die Alten, die Bevormundung und Gedankenlosigkeit einer übermächtigen Generation, habe ich seitdem noch oft gespürt.
Mama, Papa – wir lieben euch, aber ihr haut uns übers Ohr
Mit meinen 29 Jahren bin ich Teil einer Minderheit in Deutschland. Manche mögen das für eine Übertreibung halten, aber die Fakten sind eindeutig: Von den Jungen unter 35 gibt es in Deutschland nicht mehr viele. Was weniger schlimm wäre, wenn es nicht gleichzeitig so viele Alte gäbe. Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich zu Beginn für meine ganze Generation festhalten: Mama, Papa, Oma, Opa, wir lieben euch. Aber: Ihr haut uns übers Ohr.
Jeder Einzelne von euch meint es gut; das meine ich nicht. Es ist Deutschlands politisches System, das seine Jugend benachteiligt. In unserer repräsentativen Demokratie sind die Jungen seltsam unterrepräsentiert. Ich habe einen Vorschlag, wie wir das ändern können.
Eine Untersuchung der beiden Ökonomen Ronald D. Lee und Andrew Mason zeigt: In Ländern wie den USA oder Frankreich ist es normal, dass der Wohlstand von Alt zu Jung fließt. Die Eltern- und Großelterngeneration bezahlt mehr für die Ernährung, Kleidung und Ausbildung der Jungen, als diese jemals wieder zurückzahlen könnten. Kinder zu kriegen ist deswegen fast überall ein selbstloser Akt. In Deutschland ist genau das anders. Hier fließt das Geld von Jung zu Alt. Die deutschen Kinder versorgen ihre Elterngeneration schon jetzt, obwohl diese noch arbeitet.
Geld fließt in Deutschland von Jung zu Alt, normalerweise ist es andersherum
Deutschland müsste diesen Wohlstandsabfluss stauen und in die andere Richtung lenken. Aber als sich 2013 Union und SPD auf eine Regierungskoalition einigten, beschlossen sie eine Rentenreform. Wer bestimmte Bedingungen erfüllt, kann seitdem ohne Abschläge schon mit 63 Jahren in den Ruhestand gehen; Mütter bekommen höhere Renten. Um das zu finanzieren, geht die Regierung an die Reserven der Rentenkassen. Dabei hat der WDR kürzlich ausgerechnet, dass selbst Normalverdiener, die nach 2030 aufhören zu arbeiten, kaum mehr als eine Hartz-IV-Rente bekommen werden. Ökonomen fordern schon die Rente mit 70, um das jetzige System weiter finanzieren zu können. Hätte die Regierung so auch entschieden, wenn mehr Menschen aus meiner Generation mit am Verhandlungs-Tisch gesessen hätten?
Während die Jungen also mehr für die älteren Generationen zahlen und mehr für sich selbst vorsorgen müssen, verdienen sie gleichzeitig weniger Geld. Während das Haushaltseinkommen für Rentner zwischen 1978 und 2010 um 7 Prozent gestiegen ist, ist es für Menschen zwischen 25 und 29 gefallen. Das dürfte eng damit zusammenhängen, dass junge Deutsche doppelt so häufig als Leiharbeiter, Solo-Selbständige, Teilzeit-Arbeiter oder Mini-Jobber arbeiten wie die Älteren. Die Sozialversicherungen sind trotzdem noch auf ein System der unbefristeten Vollzeitarbeit ausgerichtet. Folgerichtig hat keine andere Altersgruppe ein so hohes Armutsrisiko wie jene unter 35.
Ich könnte diese Reihe noch beliebig fortsetzen: Dass die Regierungsparteien eine effektive Klimaschutzpolitik verschleppen. Oder mit der Unsinnigkeit einer Schuldenbremse, wenn Schuldenmachen nichts kostet. Oder mit dem Umstand, dass junge Familien in Großstädten keine geeigneten Wohnungen finden, weil die kinderlosen Alten die – für sie persönlich völlig nachvollziehbare – Entscheidung treffen, nicht in kleinere Wohnungen umzuziehen, die durch die Mietpreis-Rallye teuer geworden sind. Oder damit, dass Deutschland keine Kinderrechte im Grundgesetz verankert, obwohl es sich in einer UN-Resolution genau dazu verpflichtet hat. Damit, dass die Jungen in vielen Fragen liberaler sind als die Älteren, sich aber nicht durchsetzen können gegen die Phalanx der Grauhaarigen.
Selbst, wenn mehr Junge wählen gehen, würde das nichts ändern
Soweit die Fakten. Meine Generation klemmt in einer heimtückischen Presszange, aus der wir uns wohl nur mit radikalen Maßnahmen befreien könnten. Ich mag zwar Leute nicht, die immer „Revolution!“ rufen und das System stürzen wollen. Die Geschichte unserer Spezies hat gezeigt, dass das Schmiermittel solcher Übergänge Ströme von Blut sind. Ich sehe aber – wie es alle in meiner Generation müssten – die Wände auf mich zukommen. Ich verstehe jeden, der schreit: „Mir reicht’s!“ - und endlich selbst etwas unternehmen will. Wenn die Älteren klug sind, ebnen sie dieser Energie einen Weg: hinein in die Institutionen der Republik.
Nach dem Brexit herrschte seltene Einigkeit bei den Alten: Wenn die Jungen gehört werden wollen, müssen sie halt wählen gehen, nörgelten sie. Tatsächlich ist die Wahlbeteiligung junger Menschen niedrig, egal ob es um Bahnhöfe, Bürgermeister oder den Bundestag geht.
Ich habe mir aber die Zahlen genau angeschaut: Die Gruppe der Wahlberechtigten über 60 ist insgesamt deutlich größer als die Gruppe der Wahlberechtigten unter 35. Sie ist so groß, dass es rechnerisch ausgeschlossen ist, dass die Jungen jemals die Alten überstimmen. Wäre bei der Bundestagswahl 2013 jeder einzelne junge Mensch zur Wahl gegangen, hätte die Gruppe der Jungen immer noch zwei Millionen Stimmen weniger als die der Alten, wenn diese wie bisher zu 77 Prozent an einer Wahl teilnehmen würden.
Die bisherigen Vorschläge, das zu ändern, untergraben unsere Demokratie
Es gibt Ideen, dieses Problem anzugehen. Nach dem Brexit hat eine Schweizer Parlamentarierin vorgeschlagen, die Stimmen junger Menschen stärker zu gewichten als die Stimme von alten. Seit Jahren kursiert zudem die Idee, ein „Familienwahlrecht“ einzuführen, durch das die Eltern für ihre Kinder mitstimmen können. Es wurde nicht nur einmal, sondern schon zweimal in den Bundestag eingebracht, nicht von Hinterbänklern, die keine große Rolle spielen, sondern von profilierten Politikern aller Parteien. Trotzdem ist der Gesetzesvorschlag zweimal gescheitert.
Das Problem beider Vorschläge ist, dass sie ein ehernes Gesetz der Demokratie aushebeln: ein Mensch, eine Stimme. Dass das Wahlrecht an Geschlecht, Steueraufkommen oder Klassenzugehörigkeit gekoppelt ist, hat Deutschland zum letzten Mal im Kaiserreich erlebt. Das ist 100 Jahre her, und wenn es nicht schon der Respekt vor den Kämpfen der frühen Demokraten verbieten würde, dieses Prinzip aufzuheben, so doch der Pragmatismus. Denn irgendwann vielleicht, gibt es wieder genügend Junge, dann müsste das Gesetz wieder geändert werden. Zudem, das wiegt schwerer, säßen trotz dieser Gesetze immer noch überdurchschnittlich viele Alte in den Parlamenten. Circa ein Drittel der deutschen Bevölkerung ist unter 35 Jahren. Trotzdem stellt diese Gruppe heute nur fünf Prozent der Bundestagsabgeordneten. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass einer der beiden Vorschläge daran etwas ändern würde.
Denn wer in die Parlamente kommt, bestimmen die Parteien. Um an jene Stellen zu kommen, an denen sich etwas bewirken lässt, braucht man ein gutes innerparteiliches Netzwerk. In deutschen Spitzenämtern finden Sie weniger Quereinsteiger als Skateparks in den Innenstädten. Um dieses Netzwerk aufzubauen, sollten Sie also schon früh viele Hände schütteln. Am Ende dieser Ochsentour ist ein junger Mensch kein junger Mensch mehr.
Jeder dritte Listenplatz der Parteien müsste für Menschen unter 35 reserviert sein
Wie kommen die Jungen früher in die Parlamente und die Ministerien? Indem die Parteien sich verpflichten, einen Prozentsatz der Plätze auf ihren Wahllisten für Junge zu reservieren. Entsprechend ihres Bevölkerungsanteils müsste ungefähr jeder dritte Platz einer Person unter 35 Jahren gehören. So eine Jugendquote würde die Parteien zwingen, aktiv um junge Menschen zu werben, mit neuen Ideen, Möglichkeiten, Inhalten. Nur wenige würden es so in die Parlamente schaffen, aber viele merken, dass ihre Stimme wieder wichtig ist. Dann werden die jungen Deutschen aktiver in den politischen Parteien – und es wäre der Demokratie geholfen. Diese Quote sollte Deutschland durch einen einfachen Kniff ergänzen: Jedes Gesetz sollte mit einem Hinweis darüber versehen werden, was es für die künftigen Generationen bedeutet: Ist es zu ihrem Vor- oder Nachteil?
Wir Jungen brauchen diese Änderungen, weil wir die erste Generation in der Geschichte der Bundesrepublik sind, der es nicht besser geht als ihren Eltern. Daran haben die Alten ein bisschen Schuld und globale Trends noch viel mehr. Aber eigentlich ist die Schuld-Frage nicht wichtig. Denn die Alten ändern von sich aus nichts, das haben sie bewiesen. Aber wenn die Jungen schon kein Geld haben, dann sollten sie wenigstens eine Chance bekommen, das System selbst zu ändern. Eine faire Chance – so wie jeder andere in diesen Land auch, egal ob männlich oder weiblich, arm oder reich.
Ich selbst fahre kein Skateboard mehr, ich bin auch nicht mehr so ganz jung, aber seit ich denken kann, sind die Aussichten für die Jungen trüber geworden. Das werde ich nicht vergessen, selbst wenn ich alt bin. Ich hoffe, Sie auch nicht.
Aufmacher-Foto: Demonstration gegen die Sparpolitik in Mailand, Oktober 2013/© Eugenio Marongiu.