Rufen Sie bitte nicht gleich die Polizei! Die Herren, die unten an der Haustür stehen und Notizen in ihre Elektronikklötze tippen, wollen Ihnen höchstwahrscheinlich nicht die Wohnung ausräumen. Im Gegenteil: Sie bringen sogar was vorbei. Zumindest, wenn der Kofferraum ihres Mini-Lieferwagens voll mit Kartons von Amazon ist. Der Handelskonzern baut in Deutschland gerade seinen eigenen Paketdienst auf – und hat damit in München, wo Fahrer seit Oktober unterwegs sind, schon für Wirbel gesorgt. Weil die Leute nicht verstehen, was es beim Ausliefern von Paketen zu notieren gibt.
Bernd Schwenger, Amazon-Logistics-Director für Deutschland, musste deshalb schon am Telefon der Polizei erklären, dass seine Mitarbeiter nicht die Nachbarschaft ausspionieren. Sondern dafür sorgen sollen, dass Pakete in Zukunft gleich dort ankommen, wo sie hingehören: bei denen, die sie bestellt haben.
„Wir wollen, dass der Kunde sich möglichst wenig damit beschäftigen muss, wie das Paket zu ihm kommt. Bei Briefen denkt darüber ja auch niemand nach“, sagte Schwenger Ende Juni in Berlin.
Nie mehr nach der Klingel suchen?
Bislang funktioniert das eher mittelgut. Über ihre Plattform Paket-Ärger.de hat die Verbraucherzentrale NRW in den vergangenen Monaten bereits mehrere tausend Beschwerden von Kunden gesammelt, die sich darüber ärgern, dass ihre Pakete regelmäßig sonst wohin verteilt werden, obwohl sie zum Zeitpunkt der Zustellung zu Hause waren: zum Nachbarn, in den Paketshop, ans andere Ende des Stadtteils. Ein Großteil der Beschwerden betreffe die Deutsche-Post-Tochter DHL, bestätigt die Verbraucherzentrale gegenüber Krautreporter.
Amazon will es besser machen. „Unsere Aufgabe muss sein, dass wir den Kunden finden – und nicht der Kunde das Paket“, sagt Schwenger. Funktionieren soll das wie fast alles bei Amazon: über die Auswertung von Daten. Mit dem kleinen Unterschied, dass die diesmal erst aufwändig gesammelt werden müssen – und zwar nicht im Netz, sondern draußen auf der Straße.
Bis Ende 2016 sollen sich im Berliner Verteilzentrum 148 Mitarbeiter um die Sortierung von Amazon-Paketen kümmern. Foto: psr
Dafür hat sich Amazon quasi sein eigenes DHL gebaut. In dieser Woche ist in Berlin-Reinickendorf das zweite deutsche Verteilzentrum eröffnet worden: eine 6.000 Quadratmeter große Halle, in die jede Nacht Bestellungen der Berliner Kunden aus den europäischen Logistikzentren von Amazon gebracht werden. Etwa 90 Mitarbeiter verteilen die Pakete dort über Förderbänder in graue Rollwägen, anschließend in schwarze Plastikkisten, die wiederum in metallene Gitterwägen gestapelt werden. Regionale Kurierdienste (Liefery, Go! Logistics, Interkep und andere) bringen sie anschließend zu den Kunden.
Paket-Rucksäcke mit Reißverschlussdeckel sollen den Kurieren die Arbeit erleichtern, weil dann die Hände frei bleiben, wie Amazon-Logistics-Chef Bernd Schwenger (Foto) erklärt. Foto: psr
Die etablierten Lieferdienste bleiben außen vor. Für Amazon hat das den Vorteil, die Strecken der Fahrer selbst planen zu können, ohne dass Pakete der Konkurrenz dazwischenkommen.
„Am effektivsten wäre es, die Route mathematisch so zu planen, dass immer der kürzeste Weg durch die Stadt gewählt wird“, erklärt Schwenger. „Der Fahrer hat dann zwar weniger Kilometer gefahren. Aber er kennt sich nirgends richtig gut aus und muss im Zweifel länger nach der Klingel suchen.“ Der Amazon-Logistics-Chef will aber genau das Gegenteil erreichen. Dafür hat er die Stadt in unterschiedlich große Zonen aufteilen lassen. „Unsere Erfahrung ist: Wenn jemand vier Wochen im selben Gebiet unterwegs ist, stimmt auch die Performance.“ Das heißt: Dann wissen die Fahrer, welche Kunden immer vormittags zu Hause sind, wer problemlos Pakete für den Nachbarn annimmt, und wo man am besten den Wagen parken kann.
Die Nachbarschaft in Geodaten
Dieses Wissen haben zwar auch die Mitarbeiter des Paket-Marktführers DHL, wenn sie ihren Job gut machen. Amazon will allerdings einen Schritt weitergehen und die Informationen aus den Köpfen der Fahrer rausholen. Rein in den Computer.
Das System soll den exakten Punkt speichern, an dem der Fahrer dem Kunden sein Paket übergeben soll. Bis auf den Meter genau. Deshalb sind auch die Haustüren so wichtig. Weil die bei manchen Wohnblocks gar nicht dort sind, wo es die Lieferadresse vermuten ließe, sondern um die Ecke oder auf der anderen Seite. „Das heißt: Wir parken vielleicht an der völlig falschen Stelle und der Fahrer muss weiter laufen als nötig“, sagt Schwenger.
Sowas soll es bei Amazons eigenem Paketdienst künftig nicht mehr geben. „Wenn ein Kunde will, dass wir seine Bestellung an der Hundehütte ablegen, will ich die Geodaten der Hundehütte haben“, sagt der Logistics-Chef. Zumal dann auch ein Ersatzfahrer dorthin gelotst werden kann und nicht aufs Neue suchen muss. Außerdem können die Fahrer die Öffnungszeiten von Firmen mit ihren Smartphone-artigen Geräten abfotografieren, das System liest sie automatisch aus. Theoretisch ließen sich auch Fotos vom Ablageort machen, der mit dem Kunden vereinbart wird – erst muss aber noch geprüft werden, ob das überhaupt erlaubt ist und gewünscht wird.
Für die Kunden klingt das alles erstmal nicht schlecht. Dass der frühere Buchhändler permanent in neue Geschäftsfelder vordringt, führt aber auch dazu, dass Amazon immer stärker zu einem geschlossenen System wird. Das hat nicht nur Vorteile für alle, die sich dauerhaft an Amazon binden.
Wer zu viel gefragt wird, bestellt nicht
Aber genau auf diese Kundenbindung zielt das Unternehmen und gibt viel Geld dafür aus. Die notwendigen Daten für den eigenen Paketdienst zusammenzutragen ist kostspielig, zumal sich die Voraussetzungen von Stadt zu Stadt unterscheiden. „Die Münchner achten sehr genau darauf, dass ihr Name korrekt auf der Klingel steht. In Berlin ist das völlig anders“, weiß Schwenger. Manchmal muss man sich erst durchklingeln, um rauszukriegen, wo der Empfänger wohnt. Und der Bote muss sich in den komplizierten Hinterhofstrukturen zurechtfinden. Das kostet Zeit.
Warum erkundigt sich Amazon nicht direkt bei den Leuten, wo geklingelt werden soll? Schwenger erklärt: „Wir haben gelernt: Je mehr Fragen wir den Kunden stellen, desto eher brechen sie den Bestellprozess ab“ – und das will der Konzern natürlich vermeiden. Allerdings wolle man demnächst fragen, ob der Versand an eine Wohn- oder Geschäftsadresse erfolgt und welche Öffnungszeiten beachtet werden müssen. Damit der Fahrer nicht ankommt, wenn die Firma längst geschlossen hat.
Derzeit läuft in Berlin noch die Testphase (auf Amazonisch: „Ramp-up“), an sechs Tagen pro Woche werden mit 15 Fahrzeugen jeweils 10.000 Pakete ausgefahren. Bis zum Weihnachtsgeschäfte will der Konzern die Zahl der Fahrzeuge mehr als verdoppeln. Dann sollen bereits 350 Kuriere unterwegs sein.
Berlin-Reinickendorf ist nach München-Olching der zweite Standort für Amazons eigenen Paketdienst. Foto: psr
Für die etablierten Paketdienste ist das ein harter Schlag, auch wenn Schwenger bei jeder sich bietenden Gelegenheit erklärt: „Unsere Intention ist nicht, DHL oder Hermes zu verdrängen. Wir wollen zusätzliche Kapazitäten im Markt zur Verfügung stellen.“ Zum Beispiel, um mehr Bestellungen am gleichen Tag auszuliefern. Etwa ein Drittel der Stadt kann Amazon aus dem Verteilzentrum im Norden versorgen. Spekulationen über weitere Zentren weicht Schwenger aus. Dabei ist eine Ausdehnung der Logistics-Sparte sehr wahrscheinlich. In London ist der Konzern ähnlich vorgegangen. Händler berichten davon, dass die Zustellmengen über fremde Dienstleister drastisch eingebrochen sind.
Aktuell werden in den Berliner Bezirken, die Amazon nun selbst beliefert, nur noch 10 bis 15 Prozent der Pakete mit externen Partnern zugestellt, erklärt Schwenger auf Nachfrage. Auch wenn das aufs Gesamtgeschäft bezogen für DHL, Hermes und die übrigen Dienste noch nicht ins Gewicht fällt: In der Hauptstadt dürften die Auswirkungen enorm sein. (Vor allem, wenn Amazon demnächst auch noch eigene Abholstationen, genannt „Locker“ aufstellt, wie Schwenger bestätigt.)
DHL und Hermes äußern sich auf Krautreporter-Anfrage nicht konkret zu den Auswirkungen in Berlin. Hermes-Sprecher Martin Frommhold erklärt lediglich salopp: „Wir haben gut zu tun.“ Eine DHL-Sprecherin sagt: „Da der Onlinehandel in Deutschland insgesamt weiterhin stark wächst, gehen wir auch von einem anhaltend soliden Wachstum unserer Paketvolumina aus – ungeachtet möglicher Volumenverlagerungen durch Amazon.“
Ein selbst verursachtes Problem
Derweil müht sich Amazon, das eigene Image zu verbessern. Die Kurierdienste verpflichteten sich, ihre Fahrer festanzustellen, außerdem achte man peinlich genau auf die Einhaltung der Arbeitszeiten, um Überlastungen zu vermeiden. „Wir bezahlen die Fahrer auch nicht nach Paket, wie das oft üblich ist“, sagt Schwenger.
Das ist in der Tat erfreulich. Allerdings sind die problematischen Arbeitsbedingungen in der Branche, die zunehmend auch von Kunden kritisiert werden, das Ergebnis des Konkurrenzdrucks im Markt. Und den nutzen große Online-Händler wie Amazon für sich, um möglichst gute Lieferkonditionen zu verhandeln, was dazu führt, dass die Paketdienste Kosten zu drücken versuchen. Anders formuliert: Amazon verspricht, mit seinem eigenen Transportunternehmen ein Problem aus der Welt zu schaffen, das der Konzern selbst mitverursacht.
Bislang stößt Amazon außerdem auf dieselben Hindernisse wie die Mitbewerber: Viele Paket-Empfänger sind tagsüber nicht zu Hause. An Berliner Haustüren kleben deshalb seit einigen Wochen neben gelben, blauen und weißen Empfangs-Benachrichtigungen der Konkurrenz auch die orangefarbenen von Amazon.
Manche Schwierigkeiten kriegt halt auch der größte Online-Händler der Welt nicht so einfach in den Griff.
“Wo ist Ihre Sendung jetzt?“Auch Amazon muss Zettel aufhängen, wenn die Empfänger nicht zuhause sind. Foto: psr
Aufmacherfoto: Peer Schader.