Die Kriege, die Krisen, der ganze Kokolores unserer politischen Debatten - wer bei klarem Verstand die vergangenen zwölf Monate miterlebt hat, kann sich fragen, ob die Welt jemals so kaputt war wie heute. Wer sich das öffentlich fragte, bekam immer öfter die Antwort, auch von uns: „So schlecht geht es der Welt nicht“, verbunden mit Links zu Grafiken und Statistiken, die zeigen sollen: Früher war mehr Krieg, früher starben die Menschen jünger, lebten schlechter, waren ärmer. „Fast jeder Bürger in Europa lebt heute besser als ein König/Fürst im Mittelalter“, schreibt ein unbekannter Kommentator.
Diese Aussagen sind korrekt und fühlen sich trotzdem nicht richtig an.
Wenn es allen so gut geht, warum geht es dann so vielen in Deutschland so schlecht? Menschen, die einen Job haben, deren Gehalt nicht zum Leben reicht, die in einer Spirale der Armut gefangen sind, die zur Tiertafel gehen müssen, weil sie sich das Essen für ihre Hunde nicht mehr leisten können. Dass es der nächsten Generation mal besser gehen wird, hat sich in Deutschland und noch stärker in den anderen Ländern Europas von einer stolzen Gewissheit zu einer bangen Hoffnung gewandelt. Ja, der Menschheit geht es besser. Aber den Menschen des Westens schlechter, jedenfalls, wenn sie der Mittel- oder Unterschicht angehören. Ein Diagramm des Ungleichheitsforschers Branko Milanović verdeutlicht das; es ähnelt zufällig einem Elefanten. Der Arbeiter aus Deutschland, Europa, den USA, er befindet sich ungefähr dort, wo der Rüssel anfängt. Im Minusbereich.
Viele Menschen im Westen sind Verlierer der Globalisierung
Milanović bildet auf der Waagerechten den Wohlstand der Menschheit ab. Indem er die Einkommen der Menschen sortiert, kann er sagen, ob jemand zu den oberen 20 Prozent der Welt gehört oder zu den unteren 20 Prozent. Ganz links befinden sich die Menschen aus Sub-Sahara-Afrika, dem ärmsten Landstrich der Welt, die Ärmsten Indiens und des Rests der Welt.
Rechts davon, von ca. 10 bis 25 Prozent, reihen sich jene Inder und Indonesier ein, die in ihren Ländern zur unteren Mittelschicht gehören. In diesem Segment lassen sich auch ein paar Chinesen finden. Die meisten Chinesen befinden sich aber im Bereich zwischen 25 und 65 Prozent, zusammen mit Indern, Brasilianern und anderen Menschen aus den nicht-westlichen Weltregionen. Ihnen schließen sich die Unter- und Mittelschicht (ab ca. 65 Prozent), die obere Mittelschicht (bis 95 Prozent) und die Oberschichten des Westens an (bis 99 Prozent).
Das letzte Prozent bildet die Klasse der Superreichen. Die Werte dieser Achse zeigen, warum es für viele Menschen attraktiv ist, zu migrieren. Sie können aus der globalen Unterschicht in die globale Oberschicht aufsteigen – einfach indem sie in ein anderes Land ziehen. Wenn ein Bauernsohn aus dem Senegal nach Deutschland kommt und als Putzmann arbeitet, gehört er hierzulande zur Unterschicht. Aber im weltweiten Vergleich ist das deutsche Putzmann-Einkommen immer noch hervorragend.
Auf der senkrechten Ebene hat Milanović den Einkommenszuwachs der jeweiligen Gruppen eingetragen. In der Spitze haben die Menschen bis zu 80 Prozent mehr Lohn bekommen; vor allem die Mittelschichten Chinas und anderer Länder Asiens und Lateinamerikas haben dazu gewonnen. Manchmal sogar verloren haben die Mittelschichten des Westens. Ihre Oberschichten wiederum verzeichneten komfortable Gewinne.
Diese Grafik spiegelt die Entwicklung zwischen 1988 und 2008 wider, also genau jene Epoche, die Neoliberale und Freunde des freien Handels geprägt haben. Experten nennen sie wegen der rasanten weltweiten Verschränkung der Produktionsketten, Informationsströme, Geldkanäle und Menschenschicksale das Zeitalter der „Hyperglobalisierung“.
Dieses Zeitalter hat Milliarden Menschen aus der Armut geholt; zum ersten Mal seit dem Beginn der Industrialisierung vor 200 Jahren dürfte die globale Ungleichheit abgenommen haben. Die größten Fortschritte im Kampf gegen Armut, Krankheit, mangelnde Bildung hat die Menschheit in den vergangenen drei Jahrzehnten erzielt. „Die Globalisierungskritiker haben argumentiert, dass die Öffnung der Grenzen im Zweifel die armen Länder ärmer macht und die reichen reicher“, sagt Milanović in der Wochenzeitung Die Zeit. „Die Ironie der Geschichte besteht darin, dass das Gegenteil passiert ist: Die Mittelschicht in den reichen Ländern ist unter Druck, während in den armen Ländern eine neue Mittelschicht entstanden ist.“
Den Versprechen vom Aufstieg glauben viele Menschen im Westen nicht mehr
Grob gesagt: Die wirtschaftlichen Strukturen unterschiedlichster Länder sind sich in den vergangenen 30 Jahren immer ähnlicher geworden, auch wenn ein Mensch der chinesischen Mittelschicht immer noch viel ärmer ist als einer der deutschen, ungefähr 40.000 Dollar Einkommen pro Jahr ärmer, um genau zu sein. Milanović argumentiert in seinem neuesten Buch, dass wir deswegen eine neue Ungleichheit in den Blick nehmen müssen. Während in den vergangenen 200 Jahren die Ungleichheit zwischen den Staaten immer wichtiger wurde, ist es jetzt die Ungleichheit in den Staaten, die entscheidend ist.
Diese Verschiebung hat in seinen Augen folgende Ursachen:
- Ein immer größerer Teil des Einkommens eines Landes fließt an die Eigentümer von Kapitalanlagen.
- Immer weniger Menschen besitzen immer mehr dieser Kapitalanlagen.
- Wer ein hohes Einkommen hat, verdient auch viel Geld durch Kapitalanlagen.
- Menschen mit hohem Einkommen heiraten vor allem unter sich.
- Reiche haben einen immer größeren politischen Einfluss.
Der Wert der (menschlichen) Arbeit in den OECD-Staaten ist gesunken, während die Finanzbranche als Dienstleister der vermögenden Schicht immer wichtiger geworden ist. Dieser Trend ist in den USA am stärksten, aber auch in Europa zu beobachten. Verstärkt wird er durch die digitale Revolution, die immer mehr Aufgaben automatisiert – ohne dass sicher ist, dass neue Jobs in gleicher Zahl entstehen.
Diese Entwicklungen treffen alle Länder, aber die Länder des Westens besonders hart. Dort haben die Menschen vergleichsweise hohe Löhne und vergleichsweise viel Wohlstand angesammelt. Gerade in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg machten die Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas die Erfahrung, dass es von Jahr zu Jahr besser wird, dass es mehr zu verteilen gibt, für jeden Einzelnen aufwärts geht. Aber Anfang der 1980er Jahre erlebten dies weniger und weniger Menschen, bis sich irgendwann Anfang des Jahrtausends die Großerzählung vom „Niedergang des Westens“ durchzusetzen begann, der eben nicht nur auf die militärische und politische Macht, sondern auch auf die Glaubwürdigkeit seiner zentralen Erzählung abzielte.
Da nützen auch keine abstrakten Zahlen über die vermeintlich positive Entwicklung der Menschheit
Viele Menschen schenken etwas radikaleren Politikern von links wie rechts Gehör, weil sie spüren, dass die zentralen Versprechen der kapitalistischen Demokratien gerade Verhandlungsmasse geworden sind, in Davos, Brüssel, Washington und wo sonst mit der Globalisierung gerungen wird. Die neuen Politiker liefern – mit zum Teil richtigen Problemanalysen, aber zum Teil zu einfachen Lösungsvorschlägen – eine Alternative zu einem System, das nach Wahrnehmung breiter Schichten immer mehr einer Oligarchie zu gleichen scheint.
Dazu kam, zumindest in Europa, die markerschütternde Erfahrung, einen neuen Krieg zu erleben, den man nicht wie die Jugoslawien-Kriege mit „Pulverfass“-Metaphern wegerklären und -schieben konnte. Der von Russland angeheizte Bürgerkrieg in der Ukraine stellte die Nachkriegsordnung Europas in Frage. Eine Nachkriegsordnung, die vor allem eine Friedensordnung war.
Diese Unruhe greifen Politiker von der AfD, Donald Trump oder Bernie Sanders auf. Das ist die Funktion, die sie erfüllen in einem demokratischen System. Sie setzen dem völlig richtigen, aber eben auch völlig abgehobenen Blick der Global-Statistiker den (möglicherweise) konstruierten Blick des „kleinen Mannes“ entgegen. Die Losungen, die sich daraus ergeben, knüpfen an den Alltag der meisten Menschen an. Vor allem im Westen.
Abstrakte Statistiken bilden die Realität ab, die Aussagen des spanischen Fischers oder der niederländischen Krankenschwester aber auch. Die Erfahrungen eines anderen Menschen haben ihre Berechtigungen, auch wenn dieser Mensch in den Augen der städtischen, gut gebildeten Linken „rechts“ oder „dumm“ ist.
Die Stimme dieser Verlierer findet zu wenig Gehör
Die moderne Linke des 21. Jahrhunderts kämpft hart darum, den Erfahrungen von Minderheiten Gehör zu verschaffen. „Diversität“, also die Vielfalt der Erfahrungen innerhalb von Redaktionen, Unternehmen, Parteien wird zu einem Wert an sich. Dahinter steckt die Annahme, dass alleine durch das Beisammensein verschiedener Interessen schon etwas erreicht ist – eine Annahme, die in der Mediendemokratie durchaus Berechtigung hat. Aber wenn wir von Diversität sprechen, meinen wir häufig nur Menschen mit Migrationshintergrund oder aus der LGBT-Community. Wen wir nicht meinen: die Armen.
Initiativen, die sich für mehr Gleichberechtigung der Geschlechter und gegen Rassismus einsetzen, teilen die Bevölkerung im Westen auf in jene, die die Sache unterstützen und jene, die sie ignorieren oder ablehnen. Sie wirken wir kulturelle Codes, mit denen sich Gleichgesinnte verständigen können. Will heißen: Wer sich nicht offensiv für das eine oder andere einsetzt, könnte in Verdacht geraten. So unsinnig es klingen mag: Anti-Rassismus ist ein Statussymbol in einigen Gruppen.
Die kulturelle Vielfalt zu loben, ist die richtige Reaktion auf die Globalisierung der vergangenen 20 Jahre mit ihren Menschenströmen gewesen. Was sollten die Menschen des Westens auch sonst machen? Der ethnisch begründete Bürgerkrieg, den die neuen Rechten, herbeischwafeln ist keine Option. Die Ungerechtigkeiten im Welthandel zu bekämpfen und für Solidarität mit den „globalen Süden“ zu streiten, war eine ebenso natürliche Gegenbewegung der Linken. Aber Milanović‘ Elefant zeigt, dass die Verlierer der Globalisierung nicht nur in Afrika zu finden sind. Sie wohnen nebenan.
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