Linda Oldenburg wurschtelt sich zwischen Menschenbeinen und Hundeleinen durch die Flurmenge, sie will sich gerade zum Gespräch in die Kaffeeküche setzen, da steckt eine Kollegin den Kopf zur Tür herein: „Die Frau Tesch, kriegt die jetzt veggie für ihren Hund oder nicht?“ Oldenburg überlegt kurz, dann muss sie passen; selbst sie als ehrenamtliche Helferin kann nicht alle Tierhalter im Kopf haben, die regelmäßig bei der Berliner Tiertafel vorbeischauen.
Im Flur leuchtet Neonlicht grell von der Decke in die Gesichter der tropfenden Menschen, es riecht nach Hund. Medizini-Katzenposter bekleben karge Wände, Tierpfoten rutschen über Linoleum-Boden. Ein Terrier kläfft. Es ist Samstag, draußen regnet es seit Stunden. Trotzdem reiht sich eine Menschenschlange bis zur Tür. Alle müssen sich anmelden, Raum eins, linke Seite, erst dann geht es zur Futterausgabe einen Raum weiter. Auf der anderen Seite des Ganges sitzen jene Herrchen und Frauchen, die für ihre Schützlinge dringend einen Tierarzttermin brauchen.
Egal ob Hamster, Hund, Katze oder Kanarienvogel: Die Deutschen lieben ihre Haustiere. Auf knapp 80 Millionen Einwohner kommen knapp 30 Millionen Tiere. Aber nicht alle Besitzer haben genug Geld, um ihre Schützlinge auch zu versorgen. Arbeitslosigkeit, Hartz IV, eine lange Krankheit, Scheidung oder auch nur die Rente: Manchmal geht es schnell bis zur Zahlungsunfähigkeit.
Dann reicht das Geld nicht mal für eine Dose Chappi am Tag. Auch nicht für Impfungen, Arztbesuche oder Spezialmedikamente.
In solchen Fällen springt die Tiertafel in Berlin-Treptow ein. Als Verein finanziert sie sich aus Geldgeschenken, Mitgliedsbeiträgen sowie Futterspenden. Alle zwei Wochen werden die gesammelten Spenden an hilfebedürftige Tierhalter weitergegeben, damit die sich nicht aufgrund der finanziellen Not von ihren Tieren trennen müssen. Jeder, der es nötig hat, kann vorbeikommen. Hilfe, so lange der Vorrat reicht. Der Verein versteht sich als Tierschutzorganisation, „aber eigentlich sind wir auch eine soziale Einrichtung für die Leute, die zu uns kommen“, sagt Oldenburg. Etwa 250 Menschen versorgt die Tiertafel mit Futter und Zubehör – und es kommen immer mehr. „Die Altersarmut wird schlimmer“, sagt Oldenburg, „das merkt man schon.“
Wer will, kann die Tiertafel deswegen als Beispiel für eine Kluft innerhalb der Gesellschaft verstehen, die sich an den Rändern aufteilt in Menschen, denen noch nicht mal genug Geld bleibt, um ihre Haustiere zu versorgen. Die deswegen an sich selbst sparen und dennoch für eine Ration Trockenfutter und einen Beutel Leckerlies Schlange stehen bei Linda Oldenburg, der freundlichen Blonden von der Berliner Tiertafel – wohingegen ein anderer Teil der Bevölkerung sich fertig portionierte Menüboxen für die vierbeinigen Familienmitglieder auf Bestellung nach Hause liefern lässt, etwa über die Homepage petsdeli. Getreidefrei und ohne Konservierungsstoffe, Huhn, Karotte und Süßkartoffel, auf Wunsch auch mit anderen Beilagen, ansehnlich verziert mit ein paar frischen Blättern Basilikum. Alles ohne künstliche Zusätze, versteht sich.
Irene, 69, schaut zweimal im Monat mit ihrem Hund Pepsi bei der Tiertafel vorbei, einer Mischung aus Berner Sennenhund und Flat Coated Retriever, Spitzname „Tante Lieschen“. Wie lange sie schon regelmäßig kommt, kann Irene nicht genau sagen. Nur, dass ihre Rente von 472 Euro plus staatlicher Grundsicherung von 532 Euro gerade so reicht. Mehr bleibt ihr am Ende ihres Lebens nicht; nach drei Kindern, zwei Männern, einer durch den Beruf als Mutter unterbrochenen Erwerbsbiographie, Jobs als Arzthelferin, Rezeptionistin und Zimmermädchen. Die Kinder hat sie weitestgehend allein großgezogen, keiner der beiden Väter zahlte. Heute lebt Irene allein, ab und zu schaut der älteste Sohn vorbei. Ansonsten teilt sie ihren Alltag und die Zwei-Zimmer-Wohnung in Neukölln mit Tante Lieschen.
Anfangs kam Irene nur zur Tiertafel, weil sie Futter brauchte. Aber dann wurde bei ihrem Hund an der linken Flanke ein Tumor diagnostiziert. Das Tier wurde operiert, doch jetzt fühlt Irene auch an der rechten Körperseite des Hundes einen Knubbel. „Ich glaub, die Wirbelsäule ist irgendwie verhakt oder verbogen“, sagt sie, „Tante Lieschen bekommt ja auch Schmerztabletten.“ Deswegen ist Irene heute hier und wartet auf die Tierärztin. Zum medizinischen Check-up.
2, 8 Tonnen Futter verteilen Linda Oldenburg und ihre Kollegen jeden Monat an die wartende Kundschaft, in zwei Lagerräumen in der Mörikestraße 15 stapeln sich Vogelhäuschen, Hundezubehör, Katzenstreu und Futtersäcke bis an die Decke. Die meisten Hilfesuchenden, die kommen, halten Hunde oder Katzen zu Hause. Angefangen hatte Oldenburg, 31, bei der Tiertafel im Rahmen eines Studentenprojektes vor fast fünf Jahren. Sie hat längst fertig studiert, geblieben ist sie trotzdem.
Weil sie selbst zwei Katzen besitzt, Muppi und Kurvi. Und weil sie deshalb als Tiernärrin nachfühlen kann, was es für einen Menschen bedeutet, die eigene Katze, den Hund oder den Wellensittich abgeben zu müssen. Wie für viele mit dem Haustier auch der letzte Halt verloren geht. Oldenburgs Job als ehrenamtliche Helferin gilt zuallererst den Tieren, erfordert gleichzeitig aber viel menschliches Feingefühl. „Die Rentner sind oft die Schüchternsten mit den meisten Hemmungen“, sagt sie, „manche kommen direkt von der normalen Tafel zu uns.“
Die Tierärztin verspätet sich heute, Irene tätschelt Tante Lieschen beruhigend den Rücken. Auf den ersten Blick lässt sich nicht erkennen, dass die Seniorin auf finanzielle Hilfe angewiesen ist. In Irenes Gesicht spiegeln sich Schüchternheit und Demut, aus ihrem Äußeren spricht Sorgfalt, so wie sie die Bluse mit der roten Outdoor-Jacke abgestimmt hat, dazu ein Schal in hellem Lila. Irene hat eine Freundin, wohlhabend verheiratet, die ohne große Geldsorgen in den Tag hineinlebt. Die Freundin versteht nicht recht, wieso Irene regelmäßig zur Tiertafel geht. „Was würdest du denn an meiner Stelle machen, wenn du so wenig Geld hättest wie ich?“, fragte Irene ihre Freundin einmal im Gespräch. „Mich aufhängen vielleicht“, antwortete die.
Die Zeiten werden härter in Deutschland. In seinem jüngsten Bericht vom Februar gibt der Paritätische Wohlfahrtverband an, die Armutsquote in Deutschland liege bei 15,4 Prozent. Vor allem gefährdet: Alleinerziehende, Rentner, Erwerbslose. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren lag die Armutsquote noch bei 14 Prozent. Besonders schlimm zeichnet der Bericht die Lage im Ruhrgebiet: Dort ist jeder Fünfte von Armut betroffen.
In Berlin streitet die große Koalition über das gesetzliche Rentenniveau und stimmt sich damit schon mal auf den Wahlkampf ein im nächsten Jahr. Sie debattiert auch darüber, ob die Riester-Rente knapp 14 Jahre nach ihrer Einführung nun als Erfolg zu werten ist oder nicht. Der ehemalige Arbeits- und Sozialminister Walter Riester fordert mittlerweile eine Überarbeitung der in seiner Amtszeit beschlossenen Reform. Nicht, weil er findet, das Konzept der Riester-Rente sei gescheitert, wie er jüngst in einem Interview mit dem Tagesspiegel sagte. Sondern weil bei den Menschen ein falscher Eindruck entstanden sei. Eine Kassiererin dürfe eben nicht davon ausgehen, dass sie nach 40 Berufsjahren auf 450-Euro-Basis eine staatliche Rente erwarten könne, die oberhalb der Grundsicherung liege. Dieser Gedanke sei „eine Illusion“, sagte Riester.
Es mag sein, dass der ehemalige Minister sein Konzept als erfolgreich bewertet. Man kann sein Zitat allerdings auch anders interpretieren: als Beleg für eine Schieflage des bestehenden Systems. Weil dieses Fragen nach Fairness und Gerechtigkeit nur ungenügend beantwortet, wenn lediglich Gut- und Besserverdienende im Alter genug Geld haben, weil sie „riestern“ und privat gut vorsorgen konnten – während eine Kassiererin nach 40 Berufsjahren keine anständige gesetzliche Rente erwarten darf. Zwar können sich Deutschlands Senioren ab Juli über eine Rentenerhöhung freuen. Doch schon jetzt sind 536.000 Rentner in Deutschland auf Grundsicherung angewiesen. Tendenz steigend: Jüngste Berechnungen des WDR gehen davon aus, dass 2030 jedem zweiten Neurentner lediglich eine gesetzliche Rente auf Hartz IV-Niveau bleibt.
„Das Klima unter den Menschen wird kühler, vielleicht auch gleichgültiger“, findet Andrea, 57, den Rücken beim Sitzen leicht gebeugt. Die Knochen machen ihr Probleme, vor allem in der Schulter, aber auch an den Armen und Beinen wurde sie operiert. Normalerweise geht Andrea nicht in die Schillerbar, obwohl das Café, in dem sie gerade sitzt, in ihrer Straße liegt. Treppe runter, direkt auf der Ecke. Zu teuer. Andreas Körper umhüllt eine knallrosa Tunika, dazu eine Jeanshose, die Füße stecken in Spezialschuhen, die aussehen wie extra große Sneakers. Sie hebt sich ab aus der Masse der anderen Gäste, alle jung, alle hübsch, mit einem Ausdruck im Gesicht, als sei das Leben ein einziger Urlaub. Der Kellner hat sich mit zwei jungen Frauen an der Theke festgequatscht. Andrea würde gern etwas bestellen, aber es kommt keiner an ihren Tisch. Tränensäcke hängen tief in ihrem Gesicht, ihre Augen blicken einem in solch hellem Grün entgegen als wäre die restliche Farbe über die Jahre verblast.
„Die Leute gucken mehr nach sich selbst und weniger nach den anderen“, sagt Andrea jetzt. Es stört sie, wenn sie zur Tiertafel geht und manche der Wartenden bei der Futterausgabe meckern, weil sie nicht exakt das bekommen, was sie wollen. Wann immer sie kann, wirft sie einen Euro in die Sparbüchse, die Linda und ihre Kollegen bei der Futterausgabe aufstellen.
Seit vier Jahren besucht Andrea die Tiertafel, jemand bei der normalen Tafel hatte ihr davon erzählt. Manchmal nimmt sie ihre Freundin Gabi mit. Versorgen muss Andrea ihre Hunde Rocky und Tobi sowie die zwei Hauskatzen Tom und Jerry. Seit 2008 bekommt Andrea Hartz IV, momentan also 404 Euro im Monat. Sie gilt offiziell als erwerbsunfähig. In ihrem alten Leben schuftete die Berlinerin als Altenpflegerin, doch nachdem sie wegen langer Krankheit ein Jahr ausgefallen war, kündigte ihr der Arbeitgeber. Seitdem zahlt das Jobcenter ihre Miete.
Seit Anfang dieses Jahres jobbt sie in einem Fahrradladen, fünf Tage die Woche, sechs Stunden pro Tag. Andrea schraubt alte Schrotträder auseinander, putzt Lager, flickt Schläuche, die Teile, die noch brauchbar sind, setzt sie zu neuen Rädern wieder zusammen – all das für einen Stundenlohn von 1,50 Euro. Pro Tag verdient sie neun Euro. Am Abend schrubbt sie ihre Hände, lässt heißes Wasser über sie laufen. Aber der Dreck von den Rädern geht nie ganz ab.
Daran, dass das Geld jeden Monat knapp ist, hat Andrea sich mittlerweile gewöhnt. Sie kauft viel bei Lidl, checkt Angebote. Doch obwohl die Armut Teil ihres Alltags ist: mit der „Menschentafel“ tut Andrea sich schwer. „Es ist schon deprimierend, wenn du dir klarmachst, du kriegst da den Abfall, den andere nicht mehr wollen“, sagt sie. Geschämt habe sie sich zwar nicht, wenn sie sich Lebensmittel holte. „Aber es hat mich traurig gemacht.“
Andrea lebt allein, ihr erwachsener Sohn besucht sie jeden Tag. Dann schmiert die Mutter dem Sohn eine Stulle und sie essen zusammen. Ansonsten bleiben ihr noch die Tiere: Die beiden Katzen, eine grau gestreift, die andere weiß-grau-braun gefleckt. Tobi, der „reinrassige Kuddelmuddel-Hund“, wie ihn Andrea nennt, wenn man sie nach der Rasse fragt. Und Rocky, der sechsjährige Schäferhund, den sie schon im Welpen-Alter bekam und der ihr Lebensretter ist, wie sie sagt. Weil Rocky Andreas Antrieb war, doch nicht aufzugeben. Sondern aufzustehen, egal wie schwer es ihr fiel. Damals, als die Depression sie in die Kissen ihres Sofas drückte, weg vom Leben, immer tiefer in eine narkotisierende Einsamkeit. „Wegen Rocky musste ich ja aufstehen und rausgehen, und so habe ich nach und nach die Leute in der Nachbarschaft kennengelernt“, erzählt Andrea.
Auf keines ihrer Tiere würde sie verzichten wollen. Wenn sie sich zwischen den Hunden entscheiden müsste, würde sie eher Tobi abgeben. Weil Rocky schon länger bei ihr ist. Aber auch das mag sie sich erst gar nicht vorstellen. Tobi brauche sein Frauchen, „der wurde in Polen gefunden und ist extrem traumatisiert“, erklärt Andrea. Sie macht eine kurze Pause. „Nee, ich würde keinen von beiden hergeben“, sagt sie, „würde mir das Herz brechen.“
Andrea wird weiterhin zweimal im Monat bei Linda in der Mörikestraße 15 vorbeischauen; irgendwie muss sie ihre Tiere ja versorgen. Aber zur Menschentafel geht sie nicht mehr. Die ungekühlte Wurst im Sommer konnte sie am Ende nicht mehr sehen, genauso wenig wie die halb verfaulten Erdbeeren. Von denen musste sie sowieso immer fast alle wegschmeißen.
Aufmacherbild: Hund Rocky in Andreas Wohnung; Foto: Frank Suffert für Krautreporter.