1. Warum ist das relevant?
Weil die Auswirkungen enorm sein werden: Wenn wir immer mehr online bestellen, müssen die Waren zu ihren Empfängern transportiert werden. Das hat Auswirkungen auf den Verkehr (wenn Lieferfahrzeuge die Straßen verstopfen) und das Stadtbild (weil neue Zustellformen erfunden werden und Händler verschwinden, die sich nicht anpassen).
Dem Handelsverband HDE zufolge gaben die Deutschen 2014 rund 165 Milliarden Euro im Handel aus (offline und online; ohne Lebensmittel), zwei Milliarden mehr als im Jahr zuvor. Von diesem Wachstum profitierten quasi ausschließlich Online-Händler. Ein Großteil der Konsumentenbudgets verschiebe sich in Richtung Netz, meint der HDE. (Der Online-Anteil an den Ausgaben für Elektronik und Technik lag 2014 bereits bei 31 Prozent, bei Mode waren es erst 16 Prozent.)
2. Wie viele Pakete werden in Deutschland verschickt?
2014 wurden laut Branchenverband BIEK 2,78 Milliarden Paket-, Express- und Kuriersendungen verschickt – eine Milliarde mehr als 2003. Seitdem dürfte die Zahl noch einmal deutlich gewachsen sein. Bis 2019 erwarten die vom BIEK befragten Unternehmen ein Wachstum auf knapp 3,8 Milliarden Sendungen. Alleine der Marktführer DHL bewegt nach eigenen Auskünften aktuell 3,9 Millionen Pakete pro Werktag. Im Geschäftsjahr 2015 sind es 1,12 Milliarden DHL-Pakete in Deutschland gewesen (plus 8,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr; PDF, S. 9).
3. Wer kauft das alles ein?
Kunden in Nürnberg, Fürth, Zirndorf, Mannheim, Schwetzingen, Lampertheim und Viernheim. Zumindest liegen diese Städte in den beiden Postleitregionen (90 und 68), die einer Studie im Auftrag der Bundesnetzagentur zufolge diejenigen mit den meisten Versandhandelspaketen pro Kopf sind – 17 pro Jahr. (Der Bundesdurchschnitt liegt bei 15.) Am geringsten ist die Pro-Kopf-Paketzahl in den Postleitregionen 02 (Görlitz, Bautzen, Hoyerswerda, Zittau), 19 (Schwerin, Ludwigslust, Wittenberge, Parchim) und 98 (Suhl, Hildburghausen, Ilmenau, Meiningen). Die meisten Pakete werden allerdings in den Ballungsräumen Berlin, Essen und Hamburg zugestellt (nur halt nicht pro Kopf): 44, 24 und 22 Millionen.
4. Wer profitiert davon?
Zunächst natürlich die Paketdienste. Die Deutsche Post meldete im März für ihre Paketsparte in Deutschland einen im Vergleich zum vorigen Geschäftsjahr um 9,5 Prozent gestiegenen Umsatz auf 4,37 Milliarden Euro. DHL Parcel nimmt für 2015 rund 44 Prozent des Marktvolumens für sich in Anspruch.
Die deutsche Otto Group erklärte Ende März, das „Segment Service“, „maßgeblich“ von der Zustelltochter Hermes bestimmt, verzeichne nach vorläufigen Berechnungen einen Umsatzanstieg von 16,6 Prozent auf 1,74 Milliarden Euro.
Zu den Herausforderern im Markt gehören DPD, GLS und UPS.
5. Geht das immer so weiter?
Vermutlich nicht. Zum einen arbeitet Amazon, das für einen bedeutenden Teil des Paketaufkommens verantwortlich ist, derzeit daran, eigene Lieferstrukturen zu etablieren. Zum anderen gewinnen kleinere, flexible Kurierdienste wie Tiramizoo und Liefery an Bedeutung, weil sie den Wunsch von Kunden nach immer schnellerer Zustellung erfüllen können, zum Beispiel Same-Day-Delivery. (Das wissen auch die Großen: Hermes hat sich an Liefery beteiligt, DPD an Tiramizoo.)
6. Was ist Same-Day-Delivery?
Die Zustellung am selben Tag. Wer bis zum Mittag sein neues Handy online ordert, kriegt es abends vor der Tagesschau vorbeigebracht. Händler wie Saturn und Amazon bieten diesen Service in großen Städten schon an. In der Regel kostet das einen Aufpreis; bei Amazon müssen Kunden eine kostenpflichtige Prime-Mitgliedschaft abschließen.
Amazon ist fest davon überzeugt, dass Same-Day-Delivery zum Standard wird: Unter anderem in London stellt der Konzern bestimmte Waren mit „Prime Now“ bereits ein bis zwei Stunden nach der Bestellung zu. Der Dienst wird auch in Deutschland starten. Im Berliner Westen hat Amazon eine leerstehende Fläche in einem alten Einkaufszentrum angemietet und baut sie derzeit zum Stadtlager um, aus dem Waren schnell ausgeliefert werden können. (Welt und Berliner Morgenpost hatten die Information zuerst.)
So sieht das aus: ziemlich unspektakulär, mit verklebten Scheiben, damit keiner reingucken kann. (Am Seiteneingang ist das „Prime Now“-Logo aber schon angebracht.)
Amazon äußert sich auf KR-Anfrage nicht zu der Frage, wann „Prime Now“ in Deutschland starten soll.
Weiterlesen: Im Text „Amazon will alles – und noch viel mehr“ steht, wie der Konzern etablierte Händler – und möglicherweise bald auch Lieferdienste – mit seiner Strategie unter Druck setzt.
7. Was ist Click & Collect?
Die Alternative zur Same-Day-Delivery: Wer sich nicht festlegen und auf den Zusteller warten will, holt seine Online-Bestellung einfach selbst ab. Große Elektronikhändler legen die Ware in der Wunschfiliale des Kunden für ihn zurück. Andere Anbieter nutzen ihr Ladennetz als Empfangsstation für Bestellungen: zum Beispiel der Billigschuhanbieter Deichmann oder die Drogeriemarktkette dm. Manche Online-Shops bieten ihren Kunden an, Lieferungen in den Partnershops der Zusteller (zum Beispiel Kiosken oder Blumenläden) abzugeben. Bei Hermes klappt das schon, DHL will mit seinen Paketshops nachziehen. (In die Postfiliale kann man sich Bestellungen schon jetzt liefern lassen.)
Der Schweizer Handelskonzern Migros ist bereits einen Schritt weiter: Wer zum Beispiel im Online-Buchshop des Unternehmens bestellt, kann sein Buch nachher im Migros-Supermarkt, im Migros-Fitnessstudio oder im Migros-Gartencenter abholen. 290 solche „PickMup“-Stationen soll es bald geben.
Bei der britischen Kaufhauskette John Lewis werden 53 Prozent aller Online-Bestellungen schon jetzt von den Kunden selbst in einer Filiale abgeholt. Seit vergangenem Jahr verlangt das Unternehmen eine Aufwandsentschädigung von 2 Pfund, wenn für weniger als 30 Pfund bestellt wird.
So sieht die Abholstation auf der Londoner Oxford Street aus:
Die Alternative zur Lieferung in die Filialen sind Packstationen und Paketkästen, die den Vorteil haben, unabhängig von Öffnungszeiten zu sein.
8. Kommt künftig die Mehrheit der Pakete so zu ihren Empfängern?
Unwahrscheinlich. DHL-Kunden können sich Lieferungen zwar in eine von deutschlandweit 2.750 Packstationen schicken lassen; die Erweiterung des Netzes geht aber nur schleppend voran. Und wer sich einen eigenen Paketkasten in den Garten stellt, muss erstmal ordentlich investieren (die freistehende XL-Classic-Variante kostet bei DHL inklusive Aufbau stattliche 567 €). Das Problem: In Packstationen und Paketkästen werden nur DHL-Sendungen zugestellt. Die Wettbewerber DPD, GLS und Hernes haben sich deshalb zusammengetan, um eigene Kästen unter dem Namen ParcelLock zu bauen, die mehreren Diensten offenstehen. Angekündigt wurde das schon vor Monaten, erst im Juli 2016 soll in Hamburg jedoch die Pilotphase starten.
Außerdem gibt es Anzeichen dafür, dass Amazon eigene Paketstationen plant – wie viele ist aber völlig unklar. Auf die Frage, ob das die Erweiterung des Packstation-Systems beeinflussen könnte, antwortet DHL: „Nein. (…) Wir werden wie bislang unser Packstation-Netz an die wachsenden Nutzerzahlen anpassen.“
9. Sind das alle Alternativen?
Ach was! Denken Sie sich irgendetwas aus – irgendwer testet’s gerade bestimmt. DHL und Amazon probten im vergangenen Jahr gemeinsam mit Audi die Paketzustellung in den Kofferraum abgestellter Fahrzeuge.
Express-Lieferungen von DHL fahren inzwischen gemeinsam mit den Passagieren im konzerneigenen Postbus an ihren Bestimmungsort. Und dann reden ja alle permanent von Drohnen. In Reit im Winkl testete DHL bis Ende März eine umgebaute Packstation als Drohnen-Dock, erklärt jedoch gegenüber Krautreporter: „Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keinerlei konkrete Einsatzpläne für den Regelbetrieb von DHL-Paketkoptern.“
Der Skype-Gründer Ahti Heinla arbeitet mit seiner Firma Starship Technologies daran, Pakete in der Vorstadt von den Nachfahren, Pardon: Vorfahren R2D2s zustellen zu lassen. (Fehlt nur noch ein Aufkleber auf dem kleinen Paketroboter: „Ich bremse auch für Rentner“; siehe Video.)
https://www.youtube.com/watch?v=MEWfsVPqKi4
10. Wäre es nicht sinnvoller, erstmal die direkte Zustellung nach Hause zu verbessern?
Ja, die Paketdienste arbeiten dran: mit Sendungsverfolgungen, die den Empfänger darüber informieren, wann ein Paket voraussichtlich bei ihm ankommt, damit der in dieser Zeit (falls möglich) zu Hause sein kann. So lässt sich den ganzen Vormittag per Smartphone verfolgen, wie der Zusteller erst sämtliche anderen Pakete im Kiez zustellt, bevor er endlich an der eigenen Tür klingelt. Toll!
11. Warum suchen die Unternehmen überhaupt nach Alternativen?
Weil sie vermeiden wollen, dass die Zusteller Pakete wieder zurück ins Verteilzentrum bringen, wenn sie den Empfänger nicht angetroffen haben. Denn dann muss die Sendung das ganze System nochmal durchlaufen. Das schmälert den Gewinn pro Zustellung.
Das ist womöglich auch einer der Gründe, warum so viele Pakete bei Nachbarn abgegeben werden. Bei DHL existiert die Vorgabe, dass ein Zusteller lediglich 5 Prozent seiner Sendungen wieder zurückbringen darf, wenn er den Empfänger nicht angetroffen hat. Wer diese Quote überschreitet, handele sich ein ernstes Gespräch mit dem Chef ein, erklärt ein DHL-Mitarbeiter gegenüber Krautreporter. Wenn der Nachbar für ein Paket unterschreibt, gilt es hingegen als zugestellt – und der Fahrer hält seine Quote niedrig.
DHL widerspricht auf KR-Anfrage: „Regelungen zu einer evtl. Mindestzustellquote oder maximalen Benachrichtigungsquoten gibt es nicht.“ Für das „Qualitätsmanagement“ existierten aber „bundeseinheitliche Ziele für die Dokumentationsquote und die Benachrichtigungsquote“.
12. Weshalb landen Pakete auch dann beim Nachbarn, wenn ich als Empfänger zu Hause bin?
Wenn Sie jeden Tag im Schnitt 170 Pakete ausliefern müssten, würden Sie sich vielleicht auch darum bemühen, rechtzeitig Feierabend machen zu können.
Nachbarn sind ohnehin die liebste Paketabholstation der Deutschen. 78 Prozent erklärten in einer Umfrage der Handelsforscher von ECC Köln (im Dezember 2015), ihnen sei es am liebsten, wenn Pakete nebenan abgegeben würden, sollten sie selbst nicht zu Hause sein. Einen – für die Paketdienste viel aufwändigeren – zweiten Zustellversuch bevorzugen 71 Prozent. Auch Amazon weiß, wie wichtig Nachbarn fürs Geschäft sind.
Im vergangenen Jahr bot der Online-Händler seinen Kunden an, bei der nächsten Bestellung eine „Danke, lieber Nachbar“-Pralinenbox als Geschenk mitzuordern. Die „Limited Edition 2015“ ist selbstverständlich seit längerem ausverkauft.