Zum 100. Geburtstag schenkte sich Aldi eine bunte Prospektbeilage, in der stand, wie sich das Unternehmen selbst sieht: „Einfach. Erfolgreich.“ Drei Jahre ist das her. Und zumindest die erste Hälfte jener Selbstvergewisserung ist inzwischen gelogen. Aldi mag immer noch einer der erfolgreichsten Lebensmittelhändler der Welt sein. Hunderttausende Menschen gehen täglich in den über 4.000 deutschen Filialen einkaufen. Die Expansion in den USA ist in vollem Gange. In Deutschland hat Aldi sogar Walmart in die Flucht geschlagen. Und die Umsätze sind 2015 schon wieder gestiegen. Schlagzeilen macht Aldi aber längst nicht mehr nur mit seinen Erfolgen.
Die F.A.Z. berichtet an diesem Mittwoch über Erbstreitigkeiten bei Aldi Nord. Dort seien die Nachfahren von Gründer Theo Albrecht darüber aneinandergeraten, wie viel Einfluss die Familie künftig noch auf den Konzern haben dürfe – und wie üppig die Gewinnausschüttung an die Erben ausfallen solle. Es gehe „um Grundsätzliches“, schreibt Mathias Müller von Blumencron, nicht um „konkrete Streitfragen der Unternehmensstrategie“ (Zusammenfassung bei faz.net; ganzen Text für 45 Cent bei Blendle lesen).
Dabei wären gerade die ein vortrefflicher Grund für Diskussionen. Denn Aldi stellt – im Norden wie im Süden – derzeit vieles auf den Kopf, was im Konzern über Jahrzehnte hoch und heilig war. Ob dieses Experiment gelingt, ist noch nicht ausgemacht. Weil ein Unternehmen, das es jahrelang gewohnt war, die komplette Konkurrenz hinter sich herlaufen zu lassen, plötzlich aufpassen muss, nicht den Anschluss zu verlieren.
In seinem 2012 erschienen Buch „ALDI Geschichten“, das sich freundlich-bewundernd wie eine inoffizielle Unternehmensgeschichte liest, schrieb der frühere Aldi-Regional-Geschäftsführer Eberhard Fedtke: „ALDI muss sich nicht neu erfinden, weder hier noch anderswo auf der Welt.“ Das grundlegende Prinzip, qualitativ hochwertige Produkte in überschaubarer Auswahl zu absoluten Niedrigpreisen zu verkaufen, galt ihm als Grundlage des internationalen Erfolgs. Diese Discount-Philosophie hatten sich die beiden Gründer Karl und Theo im Ausland abgeschaut, um in den 60er Jahren den von den Eltern geerbten Familienbetrieb zu retten, der 1913 als Tante-Emma-Laden in Essen gestartet war.
Kurz vor seinem Tod vor fast zwei Jahren hatte die F.A.Z. mit dem 94-jährigen Karl Albrecht gesprochen und berichtete, wie der Aldi-Süd-Chef die Läden einst zu Discountern umfunktioniert hatte: „Kostenträchtige Artikel sortierte er aus, die Einrichtung der Läden reduzierte er, das Sortiment verknappte er radikal, eine Rückkehr zur spärlichen Auswahl der unmittelbaren Nachkriegszeit: Nicht mehr als 350 Artikel sollten es anfangs pro Filiale sein.“
Die Zahl wuchs mit der Zeit auf 900, unter größeren Diskussionen wurden in den 70er Jahren gekühlte Lebensmittel eingeführt, und die Kunden durften mit Aktionswaren und Textilien in die Läden gelockt werden. Aber an den Grundprinzipien der Albrechts traute sich lange Zeit keiner ihrer Nachfolger zu rütteln.
Fedtke schreibt: „Jede Bestandserweiterung galt als Prinzipienversuchung, für Karl Albrechts Leute als Palastrevolution bzw. Verrat an der Firmenphilosophie.“
Und: „Kennzeichen für ALDIs kundenfreundliche Sortimentsstrategie war stets eine ausgeprägte Aversion gegen hochpreisige Markenartikel.“
Und (über die Läden, die alle gleich aussahen): „(…) der ALDI-Pavillon lässt keine exzessive Aufblähung im Sortiment zu; wahrlich kluge Voraussicht der Traditionalisten und Systembewahrer“.
Vier Jahre später liest sich das wie aus einer längst vergangenen Zeit. Von Systembewahrung kann jedenfalls keine Rede mehr sein. Aldi versucht sich neu zu erfinden, weil der Wettbewerb dem Unternehmen keine Wahl mehr lässt.
1. Mehr Artikel
Die ursprüngliche Maxime „Jedes Markenprodukt ist ersetzbar“ gilt zwar weiterhin. Aber jüngere Kunden sehen das im Zweifel anders. Seit knapp dreieinhalb Jahren holt der Discounter deshalb immer mehr klassische Markenartikel in seine Regale, um Leute zurückzugewinnen, die sich von Aldi abgewandt haben. Andere Discounter sind schließlich auch billig, und Marken gibt’s dort trotzdem zu kaufen. Vor allem Aldi Nord hat sein Sortiment zuletzt drastisch ausgeweitet.
In Regalen und Tiefkühltruhen beider Gesellschaften finden sich nun neben den bekannten Eigenmarken auch: Nivea-Creme, Dr. Oetker-Pizza, Leerdamer-Käse, Head & Shoulders-Shampoo, Pampers-Windeln, Ariel-Waschmittel, Krombacher-Bier, Blend-a-Med-Zahnpasta, Milka-Schokolade, Carefree-Binden, Funny-frisch-Chips, Gerolsteiner-Mineralwasser, Mon-Cherie-Pralinen, Hanuta-Waffeln – um nur eine Auswahl zu nennen.
Die Sortimentserweiterung ist praktisch für die Kunden, stellt das System Aldi aber auf eine existenzielle Probe.
2. Mehr Aufwand
Auch Fedtke sah die Notwendigkeit, „sich in der Sortimentszusammenfassung neuzeitlichen Kundenerwartungen anzupassen“. (Neuzeitliche Kundenerwartung ist, wenn Sie zu Ostern wieder den tiefgefrorenen Lammkeulenbraten mit dem Aldi-„Gourmet“-Logo kaufen.) Dass dafür der weitgehende Markenverzicht geopfert werden könnte, hat er aber nicht geglaubt.
„ALDI-Läden eignen sich nicht für ein Vollsortiment“, urteilte der Ex-Aldi-Manager in seinem Buch, denn das wirke „systemzerstörend“. Mehr als 1.000 Artikel seien „nicht nur ein Stellplatzproblem“, sondern würden auch dafür sorgen, „dass Betreuungskosten der Waren überproportional steigen“. Damit wäre das Grundprinzip der Albrecht’schen Discount-Philosophie ein für alle Mal aufgeweicht. Fedtke: „Der massenhaft schnelle Umschlag einer begrenzten Zahl von Produkten ist eines der Erfolgsgeheimnisse des Discounts, nicht die breite Fülle des Angebots.“ Daran hält sich Aldi nur noch zum Teil. Ins Regal kommen zwar nur solche Marken, die sich besonders gut verkaufen. Aber das führt zu:
3. Mehr Platzbedarf
Weil gleichzeitig die Zahl der Eigenmarkenartikel wächst (Aldi Süd wirbt gerade für seine neue „Asia Green Garden Sushi Box“), wird der Platz in den bisherigen Standardfilialen knapp. Anstatt sich zu reduzieren, leistet sich Aldi teure An- und Neubauten. Die erinnern kaum noch an die düsteren Märkte aus den 80er und 90er Jahren, sie sind nicht nur größer, sondern auch heller.
Viel Glas, Licht, Metall: Neu gebauter Aldi-Markt in Fahrdorf bei Schleswig. Foto: Aldi Nord
In vielen fällt Tageslicht in den Verkaufsraum. Neuerdings gibt es sogar Kaffeeautomaten und Kundentoiletten. Für Unternehmen, die dafür bekannt waren, die Notwendigkeit jeder Glühbirne in ihren Läden in Frage zu stellen, ist das eine ungeheure Umstellung. Und führt zwangsläufig zu:
4. Mehr Kosten
Alleine die Schließung der Filialen, die umgebaut werden müssen, kommt Aldi teuer zu stehen. Die Berliner Regionalgesellschaft von Aldi Nord (eine von 35 im Verbreitungsgebiet) nennt in ihrem im Bundesanzeiger erschienenen Finanzbericht für 2014 einen Umsatzrückgang von 1,8 Millionen Euro:
„In 2014 verzeichnete unsere Gesellschaft trotz des gestiegenen verfügbaren Einkommens der privaten Haushalte sowohl im Lebensmittelbereich als auch im Non-Food-Sektor Umsatzrückgänge. (…) Wesentlicher Faktor für diese Ergebnisminderung ist die unterjährige vorübergehende Schließung von Verkaufsstellen.”
Mehr Aufwand bedeutet zugleich: höhere Kosten für Personal. Aldi beschäftigt nur wenige Mitarbeiter pro Filiale, um günstiger als andere sein zu können. Die „Lebensmittel Zeitung“ hat errechnet, dass von 2010 bis 2014 mehr als 7.300 zusätzliche Mitarbeiter (mehrheitlich Teilzeitkräfte) engagiert wurden. Die Personalkosten seien so hoch wie nie zuvor. Das liegt auch daran, dass Aldi sich den längeren Öffnungszeiten der Konkurrenz angepasst hat und Läden bis 21 Uhr offenhält. Um auf den Erfolg von Wettbewerber Lidl mit seinem vielbeworbenen „Super-Samstag“ zu reagieren, gibt es in den Süd-Filialen außerdem einen dritten Aktionstag in der Woche, der Kunden neue Ware verspricht (die in die Läden geräumt werden muss).
Steigende Kosten wären kein Problem, wenn sie über höhere Gewinne aufgefangen werden könnten. Doch während Aldi in vielerlei Hinsicht von seinen bisherigen Überzeugungen abrückt, will sich der Discount-Marktführer in einer Sache keinen Millimeter bewegen: beim Preis.
„Was man erreichen muss, ist, dass der Kunde den Glauben gewinnt, nirgendwo billiger einkaufen zu können“, ließ sich Aldi-Nord-Gründer Theo Albrecht zitieren. Was lange Zeit mit den Eigenmarken geklappt hat, soll nun auch mit Markenartikeln funktionieren. Zahlreiche Produkte, die Aldi ins Regal holt, werden zu niedrigeren Preisen angeboten, als das bislang bei der Konkurrenz der Fall war. Das ist praktisch für die Kunden, setzt allerdings eine Kettenreaktion in Gang, die die Branche (mit ihren ohnehin geringen Margen) und das System Aldi auf eine schwere Probe stellt.
Die Konkurrenz ist sauer, dass Aldi ihr das Geschäft vermasselt und Kunden kaum die bisherigen Preise akzeptieren werden, wenn bekannte Marken bei Aldi regulär günstiger zu haben sind. Den Supermärkten gehen auf diesem Weg Gewinne verloren, mit denen sich zum Beispiel Modernisierungen refinanzieren lassen, um sich im Wettbewerb abzuheben.
Lidl und Kaufland sind besonders aufgebracht, weil sie den Strategiewechsel von Aldi als direkten Angriff auf ihr Geschäftsmodell begreifen: billige Eigenmarken mit einer verhältnismäßig großen Auswahl sehr günstiger Markenprodukte zu ergänzen. Beide fordern Aldi heraus, in dem sie die Preise noch weiter senken. Ein Beispiel: Bevor Aldi Funny-frisch-Chips ins Sortiment aufnahm, kostete eine Tüte im Handel 1,99 Euro; Aldi verlangte 1,29 Euro, Lidl reagierte mit einer Senkung auf 1,19 Euro. Das ist derzeit auch der reguläre Preis am Aldi-Regal – 80 Cent weniger als vor einem Jahr im Handel üblich waren.
Die Hersteller sitzen zwischen den Stühlen: Einerseits ist es verlockend, das eigene Produkt plötzlich in vielen zusätzlichen Läden anbieten zu können und dadurch womöglich mehr zu verkaufen. Andererseits riskieren sie Strafaktionen der übrigen Lebensmittelketten, die Aldi die Stirn bieten wollen (oder im Zweifel lieber Produkte der Konkurrenz bevorzugen).
Wenn ein Hersteller Pech hat, verkauft er zwar mehr als bisher – macht aber wegen des Preisverfalls seines Produkts nur geringe zusätzliche Umsätze.
Die Kunden profitieren zunächst. Der Preiskampf sorgt aber dafür, dass kleinere Lebensmittelketten es schwerer haben, im Markt konkurrenzfähig zu bleiben, weil sie in den Preisschlachten nicht mitziehen können und zu Übernahmekandidaten werden. (So wie Kaiser’s Tengelmann, das per Ministererlaubnis von Marktführer Edeka übernommen werden soll.) Langfristig führt das zu einer stärkeren Konzentration auf wenige Anbieter, die sich für die Kunden negativ auswirken könnte.
Auch für Aldi selbst ist die Situation problematisch: Das Unternehmen muss das Kunststück hinkriegen, bei gestiegenen Kosten und höherem Aufwand mit ähnlich niedrigen Margen wie bisher genauso erfolgreich zu sein.
Im Grunde genommen ist der Umbau des Konzerns ein großer Test, wie sehr sich das Albrecht’sche Discount-Prinzip dehnen lässt, ohne es dabei zu sprengen.
Über die Zeit Ende der 50er Jahre, als Karl und Theo Albrecht den elterlichen Laden zur Selbstbedienungskette umgebaut hatten, schrieb die F.A.Z.: „Die Geschäfte liefen glänzend, (…) es war ein Unternehmen, das die permanente Expansion in sich selbst trug.“ Doch das hatte Konsequenzen: „Die Kosten stiegen, die Margen schrumpften, das Imperium drohte an seinem Erfolg zu ersticken.“ Über sechzig Jahre später ist Aldi wieder am selben Punkt. Damals war der radikale Wandel zum Discounter die Rettung. Und heute? Verkauft Aldi eine eigene Modekollektion von Jette Joop und veranstaltet dafür ein Laufsteg-Event in einer Filiale.
„Einfach. Erfolgreich“ mag für die vergangenen Jahrzehnte gegolten haben. Fürs nächste Jubiläum werden sich die Albrecht-Nachfolger dringend ein neues ausdenken müssen. Wenn sie dann noch miteinander reden.
Mehr über den Wandel bei Aldi steht regelmäßig im Supermarktblog.
Illustrationen: Thomas Weyres für Krautreporter.