Irgendwann nach Mitternacht war’s dann doch ein Schnäpschen zu viel. Bill Murray sitzt in der Hotelbar neben seinem Kollegen Paul Shaffer am Klavier, brummelt noch die letzte Zeile von „Fairytale of New York“ und kippt dann mit einem dumpfen Schlag vor den versammelten Gästen aus dem Bild ins Reich der Träume. Ist ja auch kein Wunder, so beschissen wie dieser Abend begonnen hat.
Eigentlich sollte Murray an Heiligabend eine Fernsehshow aus dem legendären Carlyle-Hotel in New York moderieren. Weil die Stadt aber von einem Blizzard lahmgelegt ist, steht er alleine da und will nicht mal aus seinem Hotelzimmer rauskommen, wo er schon mit tiefer Stimme den „Christmas Blues“ angestimmt hat. „Ich bin nicht hier“, sagt er, als es an der Tür klopft. Und dann, schon mit dem Kissen vorm Gesicht: „Ich bin schon tot. Die Antwort lautet nein. Gott hasst mich.“
Es muss nicht immer der Papst sein
Dabei hat das alles mit Gott überhaupt nichts zu tun. Bloß mit einer völlig verkorksten Liveshow, zu der Murray von seinen Produzentinnen gezwungen wird, und für die er so tun soll, als lehnten auf den leeren Stühlen vor ihm nicht bloß Pappkartons mit Fotos von George Clooney, Paul McCartney und dem Papst. Sondern die echten Stars.
Erst ein Stromausfall befreit den Komiker aus der Misere, und weil draußen weder Taxis noch U-Bahnen fahren, verzieht sich Murray mit seinem Musikkollegen in die Bar, um dort mit den anderen Gestrandeten sein Restweihnachten zu verbringen. Und mit dem Barkeeper, den französischen Küchenchefs, der attraktiven Bedienung sowie einem zerstrittenen Hochzeitspaar Weihnachtsklassiker zu singen.
Wahrscheinlich wäre „A Very Murray Christmas“ auch als klassischer Tribut an die großen amerikanischen Variety-Shows von früher ganz unterhaltsam geworden. Als Hinter-den-Kulissen-Parodie mit Gesangseinlagen ist der einstündige Minifilm, den Murray selbst geschrieben hat und von Regisseurin Sofia Coppola inszenieren ließ, aber tatsächlich die perfekte Einstimmung auf das Fest, vor dem uns der fiese Dezember noch die drei stressigsten Wochen des Jahres zumutet.
Selbstverständlich muss der Gastgeber auch nicht ohne Stars auskommen. Bloß dass die meisten nicht so Mainstream sind wie, naja: der Papst.
Gleich am Anfang hat Michael Cera (aus der Comedy-Serie „Arrested Development“) einen kurzen Auftritt als nerviger Manager, Comedian Rock lässt sich von Murray in einen Rollkragenpullover zwängen und singt so wenig schief, wie es ihm möglich ist, „Do You Hear What I Hear“. Die französische Indiepop-Band Phoenix improvisiert zu fortgeschrittener Stunde ein Cover des wenig bekannten Beach-Boys-Songs „Alone on Christmas Day“, dem Murray permanent in den Refrain hüpft. (Im wahrsten Sinne des Wortes.) Und Sängerin Jenny Lewis (von der Band Rilo Kiley) warnt er im Duett: „Baby, It’s Cold Outside“.
Seitenhieb aufs klassische Fernsehen
Die musikalischen Episoden, die aus dem Special tatsächlich eine Art Show machen, sind lose durch kleine Geschichten, Gags und Anspielungen verbunden. Murrays Blick aus dem Hotelfenster erinnert an Coppolas „Lost In Translation“. Und an der Bar zitiert er den Geist aus seiner eigenen Weihnachtskomödie „Scrooged“ („Die Geister, die ich rief …“, gibt’s auch bei Netflix), ohne die über die Feiertage seit 26 Jahren kein TV-Programm auskommt.
Nebenbei gibt Murray dem klassischen Fernsehen in Gestalt der abgebrühten Produzentinnen noch eins mit, die sich nicht gescheut hätten, den Applaus der Stars von der letzten Golden-Globe-Verleihung zwischen Murrays Live-Moderationen zu schneiden, um so zu tun, als sei der Saal bestens besetzt. Netflix wird nichts dagegen gehabt haben.
Am tollsten ist aber, wie sehr man allen Beteiligten ansieht, dass sie bei der Produktion (im echten Carlyle-Hotel und – wie Netflix beteuert – tatsächlich in einer Woche mit Blizzard-Begleitung) großen Spaß gehabt haben müssen, wenn sie sich gegenseitig amüsierte Blicke zuwerfen oder mitgrooven.
Und wenn Sie sich den kleinen Überraschungseffekt zum Schluss nicht verderben wollen, müssten Sie an dieser Stelle bitte zu lesen aufhören.
Vermutlich ist es aber auch nicht zuviel verraten, dass Murrays Vision von der Sinatra-haften Weihnachtsshow am Ende doch noch wahr wird. Anders zwar als ursprünglich geplant. Aber zumindest mit George Clooney, der nach seiner Ankunft im Schlitten einen hervorragend choreographierten, nun ja: Gesangsauftritt bei „Santa Claus Wants Some Lovin’“ hat, das Murray im batmanhaft um die Schultern geworfenen Nikolausumhang performt. Und wenn Miley Cyrus für ihre Verhältnisse halbwegs zurückhaltend bekleidet „Silent Night“ singt, muss das doch zwangsläufig geträumt sein, oder?
Nach nicht mal einer Stunde ist der ganze Zauber leider schon wieder vorbei, und wer dann nicht mit sehr guter Laune Lust hat, einen Weihnachtsmarkt zu stürmen und sich dort in Glühwein einzulegen, dem ist auch nicht mehr zu helfen.
Hoffentlich ist, wenn das Fest dieses Jahr rum ist, ganz schnell wieder Weihnachten. Damit sich Bill Murray von Netflix gleich wieder in ein Hotel einschließen lässt, ein Schnäpschen zuviel kippt und zu singen anfängt.
Aufmacherfoto: Ali Goldstein/Netflix