Die Limmerstraße in Hannover ist eine beliebte Straße voller prächtiger Altbauten, in denen Geschäfte und Cafés ihre Waren und Dienste anbieten. Sie ist so beliebt, dass sie ihr eigenes Verb hervorgebracht hat. Hier flaniert man nicht, hier „limmert“ man. Aber über den Dächern der Altbauten ragen Hochhaustürme in den Himmel. Sie sind im Stil des „Brutalismus“ gebaut. Das heißt wirklich so und sagt alles über die Aura dieser Gebäude, die offiziell „Ihme-Zentrum“ heißen.
Das Ihme-Zentrum polarisiert in Hannover. Viele Hannoveraner nennen es Schandfleck der Stadt. Gerüchte über Kriminalität, Prostitution und Drogenhandel im Zentrum kursieren. Die Stadt Hannover ließ sogar mal heimlich Abrisspläne anfertigen. Manchmal kommen japanische Touristen und machen Fotos. Niemand weiß, ob sie das Haus besonders schön oder besonders hässlich finden. Aber: Fast alle Wohnungen im Ihme-Zentrum sind belegt. Den Bewohnern gefällt ihr Zuhause. Sie fordern eine Revitalisierung der verfallenen unteren Areale des Gebäudes
Berlin-Gropiusstadt, Leipzig-Grünau oder Kölnberg in Köln. Berüchtigte Hochhaussiedlungen wie das Ihme-Zentrum gibt es in vielen deutschen Städten. Die Gebäude unterscheiden sich in Architektur und sozio-ökonomischer Sicht voneinander. Allen gemein ist aber ein schlechtes Image. Soziologen bezeichnen die Diskriminierung der Wohnform als „soziale Stigmatisierung“. Sie glauben, dass allein diese Stigmatisierung zu sozialen Problemen führen kann. Das ist paradox: Denn oft gefallen diese Hochhaussiedlungen ihren Bewohnern sehr gut. Schließlich bieten sie bezahlbaren Wohnraum und gute Lebensqualität.
Die Stadt in der Stadt: Prestigeobjekt der 1970er Jahre
Thomas Ganskow, 48 Jahre alt, ist Sprecher der Wohnungseigentümer und Vertreter der Bürgerinitiative Linden-Ihmezentrum. Er erinnert sich an Zeiten, als die Geschäfte noch um 18 Uhr schlossen. Oft fiel ihm damals kurz vor sechs ein, dass er noch eine Packung Milch brauchte. Dann stieg er in den Fahrstuhl, fuhr in die Tiefgarage, lief 20 Meter über das Parkdeck. Hier stieg er in einen weiteren Fahrstuhl und stand mitten in einer Einkaufspassage. So war das Leben im Ihme-Zentrum Anfang der 1990er Jahre, sagt er.
Seine Eltern kauften ihm 1990 eine 1,5-Zimmer-Wohnung im Zentrum, als er zum Studium hierherkam. Die Wohnung hatte er sich selbst ausgesucht, denn die Lage war perfekt: nur zehn Minuten von der Universität und 15 Minuten von der Innenstadt entfernt. In der Einkaufspassage gab es alles, was man zum Leben brauchte, und der Preis für die Wohnung war günstig. Ganskow wohnt hier bis heute, feiert dieses Jahr sein 25. Jubiläum.
Die Planungen für das Ihme-Zentrum begannen in den 1960er Jahren. Die Stadt Hannover riss damals viele der Fabriken in dem traditionellen Arbeiterviertel Hannover-Linden ab, um den Bezirk neu zu gestalten. Die Altbauten in Linden waren heruntergekommen und unbeliebt. Attraktiver Wohnraum sollte entstehen.
Das Ihme-Zentrum war als Stadt in der Stadt mit Wohnungen, Büros und Geschäften geplant. Dieses Konzept stammt aus den 1920er Jahren, erklärt der Hannoveraner Nachhaltigkeitsberater Constantin Alexander. Die Idee hinter solchen autarken, in sich geschlossenen Stadtvierteln war, dass man mit dem Auto reinfährt und dann nie wieder raus muss. Das war damals ein revolutionäres Konzept. So stellte man sich die Städte der Zukunft vor. Ursprünglich sollten in ganz Linden solche Gebäudekomplexe entstehen. Tatsächlich errichtet wurde jedoch nur das Ihme-Zentrum. In den 860 Wohnungen sollten 2.400 Menschen unterkommen.
Die Einkaufspassage, von der Thomas Ganskow erzählt, steht heute leer. Statt Geschäften findet man hier Graffitis, kaputte Fenster, Pfützen und Baustellen. Dabei sei die erste Generation der Bewohner Professoren, Doktoren, Fernsehmoderatoren und Von und Zus gewesen, sagt Ganskow. “Es war einfach schick, im Ihme-Zentrum zu wohnen. Das war das Highlight der Städteplanung Anfang der 70er Jahre.”
Der Verfall begann nach einem Hubschrauberabsturz
Ein junger Mann steht im Eingang eines Hochhausturms und hält einer Nachbarin die Tür auf. “Man kennt sich hier, grüßt sich”, sagt Omar Bahram. Er ist 27 Jahre alt, trägt ein Baseballcap und einen Parka.
Das Ihme-Zentrum ist sein Zuhause, sagt Omar. Er vergleicht das Nachbarschaftsverhältnis mit einer Fabrik, in der man alle Mitarbeiter kennt und sich regelmäßig im Pausenraum trifft. Aber die Bewohner sind sich des schlechten Rufs ihres Wohnorts bewusst. “Von innen sieht es wirklich sehr gut aus, aber von außen… halt wie im Kriegsgebiet”, sagt Omar. Das nervt ihn und die anderen Bewohner. Aber deswegen wegziehen? Nein.
1996 besuchte Omar zum ersten Mal eine Tante, die im Ihme-Zentrum wohnte. „Da war wirklich Leben. Geschäfte, Brunnen, Menschen, mehrere Restaurants.“ Anders als in Zwickau, wohin ihn und seine Familie das Asylverfahren verschlagen hatte. Sobald sie konnte, zog die Familie Bahram um. Seinen guten Ruf hatte das Ihme-Zentrum da schon längst verloren.
Von Anfang an war der Lebensmittelmarkt Huma ein Teil des Zentrums. Aber 1982 kam der Sohn und designierte Nachfolger des Huma-Inhabers Jost Hurler zusammen mit fünf Top-Managern bei dem Flugunglück ums Leben. Hurler schloss daraufhin die Huma-Filiale in Hannover und verpachtete die Handelsflächen. Jede Einkaufspassage hat sogenannte Ankergeschäfte, die groß und wichtig genug sind, um einen regelmäßigen Strom von Kunden anzulocken. Der Lebensmittelmarkt Huma war eines von zwei Ankergeschäften.
Auch Kaufhof verließ Mitte der 1980er das Ihme-Zentrum. Dafür zog die erste hannoverische Filiale von Saturn-Hansa in die Räume ein. Der Elektrohändler war nun der einzige Kundenmagnet der Einkaufspassage. Nachdem auch diese Filiale 2004 in die Innenstadt Hannovers zog, gingen viele der kleineren Geschäfte im Ihme-Zentrum kaputt.
Wohnen über Hannovers Bauruine
Karin Menges läuft schnell durch ihre Drei-Zimmer-Maisonette-Wohnung im Ihme-Zentrum und öffnet die Tür zu einem Balkon. “Hier sitzen wir gerne abends und genießen die Aussicht”, sagt sie. Dann geht sie die Treppe zur oberen Etage ihrer Wohnung hinauf, durchquert einen Flur und öffnet die Tür zu einem weiteren Balkon: Eine Sauna steht hier. Der Händler habe Schwierigkeiten gehabt, Käufer für die Sauna zu finden, sagt sie. Die meisten Leute fürchteten, dass man durch die große Panorama-Glasscheibe in die Sauna reinschauen könnte. Darüber muss sich Menges keine Sorgen machen. Denn ihre Wohnung liegt im fünften Stock. Der Ausblick ist fantastisch.
Karin Menges zog erst 2011 in das Ihme-Zentrum. Davor wohnte sie in einem Dorf im Umland von Hannover. Der Ruf des Zentrums war zu der Zeit, als Menges sich nach Wohnungen im Stadtzentrum Hannovers umsah, so schlecht, dass die Preise für die Immobilien günstig waren.
Nachdem die Einkaufspassage lange Zeit in der Krise gesteckt hatte, kaufte der Investor Frank-Michael Engel im Jahr 2000 einen Großteil der Geschäftsflächen in der Einkaufspassage. Bis zu 70 Millionen Euro sollten seine Umbaupläne kosten. 2006 verkaufte er seine Anteile jedoch an die amerikanische Carlyle Group. Diese führte den Umbau weiter, bis sie in finanzielle Schwierigkeiten geriet und die Bauarbeiten abbrach. Abrupt verließen die von Carlyle beschäftigten Umbaugesellschaften das Ihme-Zentrum. Und hinterließen eine Bauruine.
Nach mehreren Jahren Zwangsverwaltung durch die Landesbank Berlin sind die insolventen Gewerbe-Areale des Ihme-Zentrums im Februar 2015 zwangsversteigert worden. Für 16,5 Millionen Euro erwarb die „Steglitzer Kreisel Berlin Grundstücks GmbH“ die Flächen. Nach Informationen der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ) will der Investor das Gebäudeensemble an der Ihme umfangreich sanieren. Bisher hat sich in der Einkaufspassage aber noch nichts getan.
Die ungewisse Zukunft des Ihme-Zentrums ist - abgesehen von der verfallenen Einkaufspassage - der einzige Nachteil, findet Frau Menges. Als Miteigentümerin leidet sie mit, sollte die Revitalisierung des Gewerbes wieder scheitern.
Wie eine verrufene Wohnanlage erfolgreich aufgewertet werden kann, zeigt das Pallasseum in Berlin-Schöneberg. In den 1990er Jahren galt es als „Sozial-Palast“, in dem nur Arbeitslose wohnten. 1998 standen 136 der 514 Wohnungen leer. Situation heute: Vollvermietung mit Warteliste.
Das gelang nur, weil alle Akteure, Bewohner, Quartiersmanagement und Vermieter zusammenarbeiteten. Das Gebäude wurde saniert und renoviert, man ergriff Maßnahmen zur Reduzierung der Kriminalität. Außerdem beteiligte das Quartiersmanagement die Bewohner an der Gestaltung des Pallasseums. Ziel der Maßnahmen war nie Gentrifizierung, eine Erhöhung der Mietkosten, sondern Vollvermietung.
Im Vergleich zum Pallasseum vor der Renovierung hat das Ihme-Zentrum viele Vorteile: Fast alle Wohnungen sind belegt, von Mietern oder Eigentümern. Die Bewohner sind mit der Wohnqualität zufrieden. Die Kriminalitätsrate ist nicht sonderlich hoch. Nur die verfallene Einkaufspassage und der schlechte Ruf sind problematisch. Aber auch in Hannover haben sie Ideen.
Ein Leuchtturmprojekt für Hannover?
Mit dem „Hipster, der in das Ihme-Zentrum zog und die Gentrifizierung begann” stehe ich auf einer mit Graffitis beschmierten Brücke, die über die Ihme in das Zentrum führt. Constantin Alexander trägt eine schwarze Hornbrille und schwärmt von der Aussicht. Die Ihme fließt unter der Brücke durch. Enten schwimmen im Wasser. Auf einer Seite des Flusses wachsen Bäume, auf der anderen die Fassaden des Ihme-Zentrums in die Höhe. Hochhausromantik.
Am Ende der Brücke führt ein Tunnel in die verlassene Einkaufspassage. Der Gang ist lang und dunkel. Überall sind Pfützen, Graffitis und Scherben. Constantin sagt: “Stellt euch vor, ihr lernt jemanden kennen und ladet euer Date hierher ein.”
Seit über einem Jahr wohnt Constantin im Zentrum. Er ist Nachhaltigkeitsberater und beschäftigt sich seit mehreren Monaten intensiv mit dem Gebäudekomplex. In Gesprächen mit Bewohnern und Experten sammelt er Ideen, wie man das Ihme-Zentrum wieder aufwerten könnte. Seine Erfahrungen teilt er auf einem Blog und auf kostenlosen Rundgängen durch das Gebäude.
Am Anfang war das Ihme-Zentrum eine Vision. Heute klingt das Konzept von der Stadt in der Stadt komisch. Dabei hat es eigentlich ganz gut funktioniert. “Es ist schon ein normaler Stadtteil. In meinem Eingang, da wohnen vom Arbeiter bis Akademiker ganz normale Menschen. Das ist jetzt nicht so, dass hier nur Reiche oder nur Arme wohnen”, sagt Constantin.
Er schlägt vor, mit sozialen und kreativen Konzepten die gescheiterte Utopie wieder zu einer Stadt der Zukunft machen. So wie in dem spanischen Bilbao, das sich mit seinem Guggenheim-Museum als Kreativstadt wieder erfinden konnte. Das Ihme-Zentrum könnte zu einem Energie-autarken Gebäude oder sogar zu einem Plusenergiehaus umgewandelt werden, sagt Constantin. Das heißt, dass mehr Strom erzeugt als verbraucht wird.
Die leeren Räume in der Einkaufspassage könnten so umgestaltet werden, dass Galerien und Ateliers Platz finden. Die alte Fläche von Saturn-Hansa könnte ein Skatepark werden. Pläne für einen Uni-Campus existieren auch schon. Als Sprecher der Bürgerinitiative sagte Thomas Ganskow zu den Ideen, dass alles, was für die Belebung und Attraktivität des Komplexes gut ist, auch im Sinne der Initiative sei.
Constantin steht auf einem leeren Platz des Ihme-Zentrums. Hinter ihm eröffnet sich ein Ausblick auf den Fluss. “Stellt Dir vor, hier wäre ein Restaurant”, sagt er.
Das kann ich mir sehr gut vorstellen.
Aufmacherbild: Ihme-Zentrum in Hannver; Foto: Amina Rayan.