Serbien, Belgrad. Donnerstag, 17. September.
13.24 Uhr:
Hitze, Hitze, Hitze. Im September. Das kannte ich auch nicht. Bei über 35 Grad gehe ich in den Park neben dem Bahnhof, es ist ein Zwischenstopp für viele Flüchtlinge, die über Mazedonien nach Serbien kommen. Dort verbringen sie ein paar Tage, um dann gen Westen aufzubrechen. Der Park ist nicht so voll wie vor einigen Wochen. Die meisten verstecken sich vor der Hitze in den Zelten oder unter den Bäumen. Leere Wasserflaschen überall. Die gewaschenen Klamotten hängen auf den Parkzäunen.
“Hello”, sagt er und kichert. Ich mache die Kamera aus und kichere zurück, nicht wissend, was ich sagen soll. “Hello, what’s your name?”, fragt er mich ungeduldig, aber mit einem Lächeln im Gesicht. Ich antworte: Rayna. “Aha, ok, do you wanna play football?” Und zeigt auf seinen Freund, der mit dem Ball ein paar Meter weiter weg steht. Ich winke dem angehenden Schweinsteiger zu und gestehe, dass ich ganz schlecht Fußball spiele, er würde verlieren, wenn ich in seinem Team wäre.
Verstanden hat er das nicht, denn: “Do you wanna play football?” Er blinzelt mit den Augen, die Sonne brennt ihm ins Gesicht. “No. Sorry”, antworte ich. Das hat er verstanden, diese klare Antwort hat dem Sechsjährigen aber nicht wirklich gefallen. Sein Freund hat die Situation kapiert und kommt mit zwei Schokokeksen zu uns – den einen kriege ich, den anderen der Junge. Das konnte die Enttäuschung etwas mildern, denke ich. Er sei aus Afghanistan, erzählt er und kaut. In einem kleinen blauen Zelt, in der Nähe des Belgrader Bahnhofs schläft er – zusammen mit seiner Familie. Wie lange er hier bleiben wird, weiß er nicht. Aber dass er jetzt Fußball spielen will, das weiß er schon – und rennt mit seinem Freund davon.
14.14 Uhr:
Ich gehe ein paar Meter weiter, zu Miksaliste. Es ist ein Ort zwischen verschütteten Häusern und kaputten Straßen. Dort haben sich seit drei Monaten Hilfsorganisationen zusammengetan und versorgen die Flüchtlinge mit dem Nötigsten – Essen, Trinken, Medikamente, Internet, Kleidung. In einer Ecke ganz hinten sind ein paar Spielzeuge aufgebaut, die Kinder und die Helfer von Save the Children sitzen auf gestapelten Eierkartons. Ein Schild in Arabisch mit den Worten „Willkommen“ hängt über dem Spielzeug. „Am liebsten malen die Kinder Menschen, also ihre Familien“, sagt die Helferin, während ein Kind mit dem Mikrokabel spielt und grinst. Es weiß ganz genau, dass es das nicht darf, aber wie Kinder so sind, macht es eben weiter.
Flucht vor der Realität: Kind malt in Belgrader Park neben dem Bahnhof. Foto: Rayna Breuer
14.56 Uhr:
Im Container nebenan sind Sanitäter. Ich frage, ob ich sie interviewen darf. Sie sagen, ich soll mich in das „Wartezimmer“ setzen, sie kommen gleich. Das „Wartezimmer“ ist ein Zelt direkt neben dem Containereingang. Dort warten einige Männer, darunter ein Minderjähriger aus Afghanistan. Er hat Atemprobleme und hofft, Medikamente zu bekommen. Der Patient gegenüber zeigt mir sein Bein – es ist ganz angeschwollen. Ich warte mit den Männern. Nach ein paar Minuten darf ich rein – Medikamente in Kisten, ein Schreibtisch, eine Liege, viel Papier. Die Ärztin erzählt, dass die Antibiotika rar werden. Manchmal haben sie nichts mehr auf Lager, dann stellen sie ein Rezept aus, die Menschen müssen sich die Medikamente selber besorgen. Die Menschen seien ihnen sehr dankbar, auch wenn sie manchmal nichts für sie machen können. Das Gespräch dauert nicht lange, ich muss gehen, schließlich warten Patienten draußen.
Beruhigen: In Miksaliste in der Belgrader Innenstadt. Foto: Rayna Breuer
15.53 Uhr:
Ich überquere den Park in Richtung Trg Slavija (Slavija Platz). Ich gehe zu Fuß. Hitze, Hitze, Hitze. Ich höre wie ein Taxifahrer zu einem anderen Taxifahrer sagt: „Wenn Ungarn das kann (die Grenze dicht machen), dann können wir das doch auch.“ Die Antwort des anderen höre ich nicht. Ich gehe weiter, ich habe eine Verabredung …
Gen Westen: Leeres Durchgangslager Kanjiza Foto: Rayna Breuer
Serbien, Kanjiža. Freitag, 18. September.
10.02 Uhr:
Das Flüchtlingslager ist leer. Nur 20 bis 30 Leute sind da. Noch vor wenigen Tagen waren die Zelte überfüllt. Noch vor wenigen Tagen waren hier 1.500 Menschen. Aber als Ungarn den Grenzübergang Röszke dicht gemacht hat, sind alle in Richtung serbisch-kroatische Grenze gegangen. Nur einige wenige hoffen, dass sich die Ungarn anders entscheiden und sie weiter in Richtung Deutschland passieren lassen. Der Weg wäre kürzer. Ihre Zeit vertreiben sich die Jugendlichen mit Fußball, die Kinder spielen mit Wasser, die Älteren rauchen draußen und blicken in die Leere oder liegen in den Zelten und spielen mit ihrem Handy. Es gibt Internet, Ladekabel an jeder Ecke.
Nadem isst gerade Fisch aus der Dose mit Weißbrot. Er ist mit seiner Cousine da, die eine zweijährige Tochter hat. Sie kommen aus Syrien. Er wollte nicht zur Armee gehen, deswegen ist er geflüchtet. Der Mann seiner Cousine sei schon in Deutschland, sagt er, zu ihm wollen sie. Wir tauschen unsere Nummern aus. Zwei Tage später schreibe ich ihm auf Whatsapp, ich will wissen, wo er ist. Er antwortet nicht.
Nadem: Warten im Durchgangslager Kanjiza. Foto: Rayna Breuer
Serbien, irgendwo im Nirgendwo.
12.44 Uhr:
Auf einer Landstraße, mitten im Nichts, neben einer verlassenen Ziegelei verstecken sich etwa 40 bis 50 Menschen vor der Sonne. Eine Frau hält ein sieben Tage altes Baby im Arm, umhüllt mit einem weißen Tuch. Sie kommen alle aus Afghanistan. Wir unterhalten uns, da kommen zwei Taxen. Noch weitere sieben Personen steigen aus. Sie kommen von der mazedonisch-serbischen Grenze. Sie haben „a lot“ bezahlt, sagt einer. Die Taxifahrer hätten ihnen gesagt, dass sie hier abgeholt werden, von einem Bus. Aber da ist weit und breit kein Bus zu sehen.
Über 35 Grad Hitze: Durst im “Dschungel” von Serbien. Foto: Rayna Breuer
Die Gegend hier nenne man umgangssprachlich „The Jungle“, erzählt mir ein Helfer, der an die Menschen Wasser verteilt. „Es gibt hier viele Schlangen, keiner traut sich auf die Weiden, es gibt nichts hier“, sagt er. „Wir sagen es unseren Kollegen in Mazedonien, dass sie die Menschen vor dieser Gegend warnen sollen, sie dürfen sich auf keinen Fall auf die Taxifahrer verlassen. Doch die Menschen wollen einfach nur weiter und zahlen ‘a lot’, um in den Dschungel zu gelangen.“ Die Taxileute machen derzeit das Geschäft ihres Lebens.
Karte als Lebensretter: Auf der Suche nach anderen Fluchtwegen. Foto: Rayna Breuer
Auch heute ist die Hitze kaum auszuhalten. Eine ungarische Helferin verteilt Karten, und etwa zehn Menschen stürzen sich darauf. Sie legt eine Karte auf den Boden und erklärt, welche Übergänge dicht sind. „Wie kommen wir nach Deutschland? Welche Grenze ist offen?“ Die Menschen sind ungeduldig. Aber dankbar.
15.20 Uhr:
Ich fahre weiter nach Bezdan. Es ist der letzte serbische Ort an der Grenze zu Kroatien. Serbien und Kroatien trennt eine Brücke, unter mir fließt die Donau. Von weitem sehe ich mitten auf der Brücke einen Bulldozer, viele Polizeiwagen und Polizisten in voller Montur. Und Menschen, Menschen, Menschen. Hitze! Ich laufe zu den kroatischen Polizisten, die den Grenzübergang versperren. Sie wollen nicht mit mir reden, aber wollen wissen, woher ich so gut Kroatisch spreche. Wenn ich nichts erfahre, dann erfahren sie auch nichts von mir.
Kein Vorwärts: Warten auf der Brücke über die Donau. Foto: Rayna Breuer
Ich mache ein Foto mit meinem Handy. Ein Junge kommt zu mir und fragt, ob er nach Hause telefonieren kann. Seine Familie sei in Syrien, er sei alleine hier - mit seinem Cousin, sagt er und zeigt auf ihn. Ich habe nicht lange überlegt, O2 wird das sicherlich freuen. Ich höre, wie eine Männerstimme spricht, das ist sein Vater, wie sich später herausstellt. Der Junge ist glücklich. Er erzählt, dass er an der Grenze sei, die aber gesperrt ist. Er habe was zu essen und zu trinken, er sei nicht traurig, antwortet er. Inschallah öffnen sie die Grenze.
Doch die Grenze bleibt für heute zu. Am späten Nachmittag kommen Busse auf der serbischen Seite. Die Menschen trauen sich zunächst nicht einzusteigen. Sie wissen nicht, wohin die Busse fahren. Angeblich nach Šid - es ist ein anderer Grenzposten zwischen Serbien und Kroatien. Aber sie wollen weiter, deswegen steigen sie alle ein. Doch der Bus fährt nicht nach Šid. Sondern in eine Notunterkunft. Ein Helfer sagt mir, man wolle nicht, dass die Menschen wegen der Hitze umfallen. Man wolle Szenen, wie vor wenigen Tagen in Tovarnik (Kroatien), vermeiden.
Zurück: Die Menschen müssen umkehren und andere Wege suchen. Foto: Rayna Breuer
Serbien, im Auto auf dem Weg nach Kroatien. Samstag, 19. September.
11.00 Uhr:
Das wird ein sehr langer Tag, aber das weiß ich noch nicht.
Ich fahre von Belgrad los. Ich will nach Tovarnik. Noch vor einem Tag herrschten dort chaotische Zustände. Die Menschenmassen durchbrachen die Polizeikette und stürmten auf den Bahnhof. Sie wollten mit dem Zug nach Slowenien. Es waren keine Helfer da, kleine Kinder wurden in der Menschenmenge von ihren Eltern getrennt. Chaos. Leid. Elend. Trauer.
Was erwartet mich heute? Ich bin etwa zehn Kilometer von dem Grenzpunkt Bajakovo entfernt. Eine riesige Schlange von Lastwagen. Sie nimmt kein Ende. Irgendwann halte ich an und frage einen Lkw-Fahrer, was hier abgeht. Seit zwölf Stunden warte er, sagt er, da Kroatien alle Grenzen zu Serbien mit Ausnahme von Bajakovo dicht gemacht hat, fahren jetzt alle Lkw nur durch diesen einen Grenzposten. Er sei nicht zu, beruhigt er mich. Für Autos sei die Schlange auch erträglich. Wie lange er wohl warten wird. Egal. Ich steige ein und fahre weiter. Grenzkontrolle. Ich bin in Kroatien. Es geht weiter nach Tovarnik über Lipovac und andere von Gott und der Welt verlassene Mini-Dörfer.
Tovarnik, ich bin da. Ein Übertragungs-Wagen nach dem anderen, Polizisten, Autos, Journalisten, Busse, dahinter sind die Menschen. Sie warten. Das Ende der Schlange ist nicht zu sehen. Sie wollen alle weg von hier. Überall Müll. Heute sollen noch zehn Busse kommen. Es wird klar, einige werden die Nacht wieder hier verbringen und hoffen, dass sie morgen in einen Bus einsteigen können. Auch am nahegelegenen Bahnhof warten rund 1.000 Menschen auf den nächsten Zug, beziehungweise auf den einzigen Zug heute. Er soll am Abend kommen. Mal schauen.
Im Gegensatz zu den Tagen davor, gibt es jetzt sehr viele Helfer, die Wasser, Nahrung und Kleider verteilen. Es gibt Nudeln mit Tomatensauce. Es schmeckt, sagt einer. Ich treffe auf einen jungen Mann und eine junge Frau, beide Mitte 20, mit großen Tüten. Sie kommen aus Tschechien, sind freiwillig für vier Tage hierher gefahren. Babynahrung, Hygieneartikel und Bonbons in der Tasche, eine offene Schachtel Zigaretten in der Hand. Sie laufen vom Busparkplatz zum Bahnhof.
Überall auf dem Weg liegen Menschen, ein Junge spielt mit einem Schwert, ein Mädchen macht einen Regenschirm auf und zu, auf und zu und so weiter. Immer wieder kommen Männer und nehmen Zigaretten. Danke, danke, danke, sagen sie. Der Tscheche erzählt, was er hier alles gesehen hat, wie sehr ihn das mitnimmt. Einige hier würden ihn nach dem Weg zurück fragen, sie hätten genug von Europa. So haben sie sich das nicht vorgestellt. Seine Begleitung bestätigt das. Auch sie wurde nach dem Weg zurück gefragt. Doch eine Antwort darauf konnte weder er noch sie geben.
Spielen: Ablenkung in Tovarnik. Foto: Rayna Breuer
Wir sind am Bahnhof. Direkt gegenüber ist das Stadion von Hajduk Tovarnik. Mehrere Flüchtlinge und zwei Jungs aus Tovarnik spielen Fußball. Ich verstehe nicht viel von Fußball, aber ich gucke ganz interessiert zu. Ich frage den Torwart, einer der beiden Kroaten, ob er in der Pause zu mir kommen könnte. Ich warte. Er kommt. Schnappt nach Luft, er ist außer Puste. Diese Syrer spielen ganz gut, sage ich so, als ob ich die Taktik durchschaut habe. Er bejaht. Sie seien starke Gegner. Ich frage ihn, ob er täglich hier ist. Er meint nein. Er ist heute zufällig mit dem Fahrrad hierhergekommen, und als er gesehen hat, dass es eindeutig genug Leute für ein Fußballspiel gibt, wollte er unbedingt kicken.
Fußball verbindet: Syrer und Kroaten spielen Fußball in Tovarnik. Foto: Rayna Breuer
Ich gehe weiter. Menschen lachen mich an. Überhaupt habe ich in diesen Tagen viele mit einem Lachen im Gesicht gesehen. Einer will mit mir reden. Ich bin froh. Er erzählt mir seine Geschichte. Er komme aus dem Iran, habe vier Jahre in der Türkei gelebt. Er wollte eigentlich nicht flüchten, aber als er die Menschenmengen gesehen hat, hat er sich einfach entschlossen mitzugehen. „Now or never“, sagt er. Jetzt oder nie. Okay, danke, sage ich. Ich mache das Aufnahmegerät aus und denke nach. Wie viele von diesen 2.000 Menschen hier haben dasselbe gedacht und wie viele sind knapp dem Tod entkommen. Ich weiß es nicht. Ich habe viele Geschichten gehört. Viele sind glaubwürdig und traurig. Einige bezweifle ich. Aber das ist meine persönliche Ansicht.
17.35 Uhr:
Viele Busse sind schon da, die Menschen steigen ein. Doch das dauert lange. Ich frage die Polizisten, wohin die Busse fahren - keine Antwort. Nach Slowenien, frage ich. Keine Antwort. Nach Ungarn? Keine Antwort. Wissen wir nicht, sagen die Polizisten. Dann muss es doch der Fahrer wissen, denke ich und gehe fragen. Nö, keine Ahnung. Wie, keine Ahnung. Der muss doch wissen, wohin er fährt. Aber gut, ich habe es verstanden. Ich werde es nicht herausfinden, bis ich nicht selber der Kolonne aus zehn Bussen und mehreren Polizeiwagen hinterherfahre. Also warte ich. Und warte. Ich habe Hunger.
Ein Apfelverkäufer will mir für 20 Kuna (2,60 Euro) zehn Kilo Äpfel verkaufen. Ich will aber nur zwei oder drei kaufen. Er habe aber kein Kleingeld. Also müsste ich mich entscheiden. Ich entscheide mich, die 20 Kuna zu behalten und die leckeren Äpfel nur aus der Ferne anzuschauen.
18.36 Uhr:
Neun Busse sind voll, irgendwann mal muss es doch losgehen. Ich muss ja heute Nacht auch schon wieder zurück nach Belgrad. Und das ist in Serbien. Und jetzt bin ich in Kroatien. Und wer weiß, wo ich heute Nacht lande. Bin schon müde.
Kurz nach 19 Uhr:
Es geht los. Polizeisirenen. Es ist ein komisches Bild. Zehn Busse, einer nach dem anderen, dann die Polizeiautos, und ich hinterher. Es wird langsam dunkel. Wir fahren über Landstraßen, durch Vukovar, die anderen Städte habe ich mir nicht gemerkt. Das Blaulicht stört, diese Monotonie macht mich müde. Fenster auf. Luft rein.
21.04 Uhr:
Angekommen. An der kroatisch-ungarischen Grenze. Da sind schon einige Journalisten. Aber für die ist erst mal Ende. Wir dürfen nicht weiter nach Ungarn. Die Busse parken, einer nach dem anderen. Die Menschen steigen aus, sie dürfen weiter. Die ungarischen Polizisten lotsen sie bis zu den Bussen auf der ungarischen Seite. Es bleibt alles ruhig.
Mitternacht. Grenze ist offen: Durchgang an der kroatisch-ungarischen Grenze Foto: Rayna Breuer
Nur die Journalisten machen sich zu Affen. Ich musste mich einige Male für meine Zunft schämen. Kinder schlafen auf den Armen ihrer Eltern, aber das interessiert die Journalisten nicht. Die Kameraleute gehen mit ihren Scheinwerfern so nah ran, dass die Kinder aufwachen, anfangen zu weinen, wissen gar nicht, was abgeht. Ich halte mich distanziert. Ich traue mich nicht, die Menschen zu fragen.
Als ich dann einen jungen Mann, mit Kopfhörern und kurzer Hose frage, ob er reden möchte, sagt er mir: „I am so tired, please“. Ich gehe zwei Schritte zurück und entscheide mich, nur die Beobachterrolle zu übernehmen, während der Kameramann das nächste Kind aufgeweckt hat.
Null Uhr irgendwas:
Alle Busse sind leer, die Menschen sind auf der ungarischen Seite. Keine Zwischenfälle, keine Registrierung, keine Fingerabdrücke. Einfach weiter. Wohin? Das wollten mir die ungarischen Polizisten nicht sagen. Überhaupt sind Polizisten auf dem Balkan sehr wortkarg. Ein Journalist gibt mir den Tipp, zum nächsten Dorf-Bahnhof zu fahren. Dort würden die Menschen auf den Zug nach Österreich gesetzt. Okay, dann los. In Ungarn kenne ich mich wenig aus. Ich spreche kein Wort Ungarisch. Es ist dunkel, keine Menschenseele. Die Busse sind auch weg, von einem Bahnhof weit und breit keine Spur. Ich rufe meine ungarische Freundin an. Auch Journalistin. Die wird den späten Anruf verstehen beziehungsweise verzeihen. Tut sie auch. Sie sagt mir, wie Bahnhof auf Ungarisch heißt. Inzwischen habe ich das Wort schon wieder vergessen. Ich suche und suche. Nichts.
Es ist kalt geworden, also los geht‘s zurück - Ungarn, Kroatien, Serbien. Gegen 4.30 Uhr erreiche ich dann Belgrad. Ich weiß, um 8.00 Uhr gehe ich live auf Sendung (WDR5 „Osteuropamagazin“). Schlafe ich oder schlafe ich nicht? Das ist hier die Frage. Es wird etwas dazwischen - Halbschlaf also.
Telefon klingelt. Köln ruft an. Gehirn noch einmal wach werden lassen, und los geht‘s mit den Fragen und Antworten. Ich erzähle von geschlossenen und offenen Grenzen, von Helfern mit Zigaretten, von Fußball in Tovarnik, von vollen Bussen und Polizisten. Die ganzen Eindrücke konnte ich nicht loswerden, klar. Die Sendezeit hätte nicht gereicht. Handy aus. Erst einmal schlafen.
Rayna Breuer arbeitet als freiberufliche Multimediajournalistin unter anderem für Deutsche Welle, Deutschlandfunk, WDR und n-ost. Ihr Fokus liegt auf Geschichten, die den Balkan in all seinen Facetten zeigen - die Menschen, gefesselt in der Vergangenheit, ihre Hoffnungen für die Zukunft und ihr Ringen um das Heute. Das Thema behandelt sie auch in ihrem Blog balkan perspectives.
Aufmacherbild: „Offroad“ - Wäsche im Durchgangslager Kanjiza. Foto: Rayna Breuer.