Fahrt in eine ungewisse Zukunft
Flucht und Grenzen

Fahrt in eine ungewisse Zukunft

Es ist das Flüchtlingsboot, das erlaubt und sicher ist: Jedes Mal, wenn die Fähre aus Lesbos im griechischen Hafen Piräus anlegt, beginnt für hunderte Menschen die Odyssee auf dem europäischen Festland.

Profilbild von Tassos Morfis

Es ist ein typischer Sommerabend im Hafen von Piräus. Immer, wenn die Fähre abfährt, wuseln dort Familien, Lastwagen und Touristen mit Rucksäcken umher. Am Gate E1 macht sich die „Blue Star 2“ bereit, das Festland mit Ziel Rhodos zu verlassen.

Kurz bevor die Fähre ablegt, stehen am Nachbarpier bereits ausländische Nachrichtenagenturen, Fotojournalisten und Hafenbehörden bereit. Es ist 21.30 Uhr, als das Passagier-Schnellboot „Tera Jet“ eindrucksvoll im Hafen dreht und andockt. Aus dem Bauch des Schiffes strömen mehr als 1.700 Passagiere, fast alles Flüchtlinge, die über Mytilini auf Lesbos nach Griechenland kommen. Bevor die Menschen das Ticket für die Fähre nach Athen kaufen konnten, mussten sie pro Person rund 1.000 Euro an einen Schmuggler zahlen, damit er sie nach Lesbos bringt.

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Aufgewühlt verlassen sie das Schiff, in der einen Hand das Smartphone, in der anderen ein Zelt. An Land machen fast alle Neuankömmlinge das Gleiche: Kaum sind sie ein paar Schritte weg von Rampe der Fähre, legen sie das Zelt auf den Boden und beginnen sofort zu telefonieren, drehen Videos oder schreiben auf Facebook. Direkt vor der Rampe der Fähre treffe ich Maisanah, eine junge Frau, die mich mit einer seltsamen Mischung aus Erleichterung und Besorgnis anlächelt. Sie hält ein Baby in den Armen. Wie fängt man ein Gespräch an? Vielleicht mit einem herzlichen „Willkommen!“.

Ihr Lächeln wird breiter, und sie zeigt mir Yusef, ihren sechs Monate alten Sohn. Ihr Mann steht ein paar Meter entfernt und telefoniert mit dem Handy. Maisanah, Ozzbayunus und Yusef sind vor vier Tagen in Mytilini angekommen und haben im Freien in einem Park geschlafen. Jetzt haben sie keine Ahnung, wo sie ihre erste Nacht in Athen verbringen sollen.

Die Überfahrt Mytilini - Piräus dauert neun Stunden.

Die Überfahrt Mytilini - Piräus dauert neun Stunden. (c) mapz.com

„Weißt du ein Hotel in der Innenstadt?“, fragt sie mich, sichtlich unwohl bei dem Gedanken, wieder auf der Straße schlafen zu müssen. „Um ehrlich zu sein, mochte ich Mytilini. Ich könnte dort leben, wer nicht? Es ist eine wunderbare Insel, aber die Situation jetzt ist unerträglich. Später will ich da mal hin in den Urlaub fahren“, sagt Maisanah. Wie werden sie eine so lange Reise mit einem Kind im Arm schaffen? “Mit Gottes Hilfe, wie sonst?”

Die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge, die nach Piräus kommen, sind Syrer. Es gibt mehr Männer als Frauen und Mädchen, aber auch die in stattlicher Zahl. Man sieht Menschen aller Altersgruppen, vom Neugeborenen bis zu Alten. Mehrere ältere Männer und Frauen helfen ihren Enkelkindern, Flüchtlinge wie sie, die Rucksäcke aufzusetzen, damit sie zu dem Bus gehen können, der sie zum Bahnhof bringt und dann in die Innenstadt von Athen.

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„Wenn man fünf verschiedene Busse braucht, um Syrien zu verlassen und die türkische Küste zu erreichen, dann ist die Busfahrt hier wie eine Kreuzfahrt“, sagt Wassem. Der 27-Jährige war Apothekenhelfer in Aleppo. Er spricht sehr gut Englisch und will nach Holland gehen, um englische Literatur zu studieren. Er macht Scherze, er ist fröhlich. “Das Scheußlichste, was ich auf dieser Reise und in meinem Leben überhaupt gesehen habe, sind die Toiletten in Mytilini“, sagt er. “Bitte schreib das auf.“

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Wer es sich leisten kann, nimmt ein Taxi nach Athen. Die Fahrt kostet rund 40 Euro, also etwas mehr als der Normalpreis. Mit dem Taxi kommen die Flüchtlinge auch direkt in Stadtteile, in denen einige ihrer Freunde wohnen. Wer sich schon eingelebt hat, kommt, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Sie werden zu Fremdenführern, die Hunderten von Vertriebenen helfen können.

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Doch in all dem Trubel lungern auch Syrer am Hafen oder am Bahnhof herum, die seit einigen Jahren in Griechenland leben und Zimmer sowie Kontakte zu Familien oder Einzelpersonen verkaufen. Auch Mitarbeiter von griechischen Mobilfunkunternehmen wickeln ihre Geschäfte ab: Sie verkaufen SIM-Karten mit 10 Gigabyte Datenvolumen und 600 Minuten auf eine Handynummer, eine Stunde nach Syrien und 100 Minuten zu allen griechischen Nummern, alles für zehn Euro.

Neben den Flüchtlingen, die SIM-Karten kaufen, stehen vier Frauen – drei Schwestern und ihre Mutter -, ein Mann und vier Kinder. Die 31-jährige Amel ist die einzige, die Englisch spricht. Sie erklärt, dass morgen eine weitere Schwester, die schon lange in Ungarn lebt, nach Athen kommen wird. Sie wollen gemeinsam zu Fuß bis nach Deutschland laufen.

Amel hat ihren Mann Khalil im Krieg verloren, obwohl er Zivilist war. Plötzlich war sie mit ihren beiden Kindern - Ibrahim und Salua, fünf und sechs Jahre alt – auf sich allein gestellt. Sie ist Hausfrau wie ihre Schwester Tahani, deren beiden Babys in einem einzigen Kinderwagen schlafen. Tahanis Mann Ahmed, 27, ist Ingenieur, und sie wollen nach Deutschland, weil er gehört hat, dass dort sein Beruf gefragt ist. Dann wird alles gut: „Mit Gottes Hilfe.“

Zuletzt beobachte ich die kleinere Schwester Sali und die Mutter, Khallifa, die mich beide ansehen und zaghaft versuchen herauszufinden, was ich für ein Mensch bin. “Das tun sie immer“, sagt Amel. Sogar in Mytilini, mit den Freiwilligen des Roten Kreuzes. Sie malt ein Kreuz auf ihre Handfläche, damit ich verstehe, wovon sie redet.

Jeder macht Druck am Pier, jeder will weg, die Hafenbehörden geleiten die Menschen zu speziellen Bussen, die sie zum Bahnhof bringen sollen. Neben der Warteschlange für den Bus hat eine Gruppe junger Männer offensichtlich Spaß. Elf Personen haben sich hintereinander aufgereiht wie eine Schlange Pfadfinder. Der elfte Mann zieht ein teures Smartphone aus der Tasche und filmt die Wartenden.

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Der Filmemacher ist Miral. Der 26-Jährige macht Filme in Syrien, auch und vor allem aus Amude - einer Stadt in der Nähe der de facto kurdischen Siedlungsgebiete. Er drehte die ganze Flucht von Syrien mit seinem Smartphone, weil er einen Film darüber machen will. Sein Freund, der 25-jährige Jamil, sieht uns plaudern, und er kommt zu uns. Auch er ist Journalist, war ein Social-Media-Manager für einen TV-Kanal in Kurdistan. Der Bus fährt ab, wir werden Freunde auf Facebook und verabreden uns für den nächsten Morgen auf einen Kaffee.

Am Mittag kommen die beiden Freunde schließlich zu unseren Büros bei „Popaganda“, zusammen mit einem anderen Freund namens Ahmed. Sie stammen alle aus Amude und sind Freunde seit Kindertagen. Sie konnten nicht früher weg, weil sie erst das Geld für die Reise verdienen mussten. Ihre Eltern ermutigten sie zu gehen, aber sie sind nicht verzweifelt. Die Männer sehen diese Reise als das größte Abenteuer ihres Lebens. Das Leben ist voller Abenteuer, und ihr Abenteuer ist noch nicht vorbei, natürlich nicht, denn jetzt müssen sie zu Fuß durch halb Europa.

In der Türkei mussten sie nicht laufen, sie nahmen den Bus. Doch seitdem sie europäischen Boden betreten haben, geht es zu Fuß weiter. Auf Lesbos mussten sie 60 Kilometer laufen, um die Stadt Mytilini zu erreichen. Miral will nach Schweden gehen, dort weiterhin Filme machen oder Schauspieler werden. Jamil will nach Deutschland und in Düsseldorf oder Bremen Politikwissenschaften studieren. Der Jüngste, Ahmed, will in Holland studieren.

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“Wir konnten nicht in Syrien bleiben, denn wir hätten kämpfen müssen. Und wir wollen nicht gegen irgendjemand kämpfen. Wir wollen einfach nur leben und das tun, was Europäer in unserem Alter tun“, erklären sie. Zwei der drei glauben nicht an Gott, keiner vertraut einer politischen Partei, sie wollen Europa erkunden, und die wenigen Stunden in Athen scheinen sie zu verzaubern. In etwa zwei Stunden werden sie mit dem Bus zur griechisch-mazedonischen Grenze aufbrechen und dann durch Mitteleuropa laufen. Es ist eine neue Generation von Flüchtlingen, die nach Europa kommt – bereit das umzusetzen, was Europa so viele Jahre lang versprochen hat.

Maisanah, Ozzbayunus, Wassem, Amel, Tahani, Sali, Salua, Ibrahim, Ahmed, Kaliffa, Miral, Ahmed, Jamil – Willkommen in Griechenland, in Europa, in eurem neuen Leben!


Aufmacherbild: FOS Photos

Tassos Morfis schreibt für das Athener Online-Magazin Popaganda und arbeitet als Journalist für internationale Medien. Als Producer der Foto- und Video-Agentur FOS Photos produziert er Dokumentarfilme, auch für den bekannten britischen Journalisten Paul Mason (Channel Four). Für Krautreporter berichtete er im Rahmen der Themenwoche Griechenland .