Vor dem Einsteigen in meinen Zug von Belgrad nach München treffe ich nur noch ein paar Dutzend Flüchtlinge. In der vergangenen Woche waren es noch tausende. Am Gleis gibt es einen Polizei-Kontrollpunkt. Leute mit dunklerer Hautfarbe werden angehalten. Wer eine Karte hat, kann den Zug aber besteigen. In Győr, nahe der österreichischen Grenze, steigen dann dutzende Flüchtlinge ein. Der Zug ist überfüllt, und die Leute stehen in den Gängen. Einzelne Männer lesen ruhig auf ihren Smartphones. Auch Familien sind hier, ab und zu weint ein kleines Kind. Alle sehen sehr müde aus.
Andras Petho ist einer der bekanntesten investigativen Journalisten Ungarn. Anfang dieses Jahres gründete er gemeinsam mit einigen Kollegen das auf Korruption spezialisierte Investigativ-Büro Direkt36 in Budapest.
Ich spreche mit Welat, der mit sieben Freunde zusammen reist. Er kommt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Aleppo. Er ist Künstler, er studiert Malerei. Seine Reise aus Syrien dauert nun schon einen Monat. Er kommt über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn, wo er eine Woche verbrachte. Ich frage ihn, wie es in Ungarn war. “So lala”, antwortet er, und lächelt etwas bitter. Seine Ziele sind Deutschland oder die Niederlande. “Wir brauchen einen sicheren Ort”, sagt Welat. “Das ist alles.”
Vergangener Freitag, am Bahnhof von Bicske. Dort sind Flüchtlinge aus Budapest angekommen, die dachten, auf dem Weg nach Österreich zu sein. Die Leute weigern sich, den Zug zu verlassen. Sie rufen “Germany, Germany”. Sie sind sehr wütend auf die Behörden und nehmen kein Wasser oder Essen von der Polizei an. Viele Journalisten aus aller Welt beobachten die Szene da, bis ein Zug zwischen die Reporter und die Flüchtlinge gefahren wird, so dass sie sich nicht mehr sehen. Der Aufstand dauert mehrere Stunden. Schließlich eskortiert die Polizei die Flüchtlinge zu Bussen, die sie ins Flüchtlingslager bringen.
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Ebenfalls am Freitag beschließen hunderte Flüchtlinge, den Hauptbahnhof von Budapest zu verlassen. Sie machen sich zu Fuß auf den Weg nach Österreich. Aus irgendeinem Grund lässt die Polizei zu, dass sie auf einem Streifen der zweispurigen Autobahn laufen, obwohl das sehr gefährlich ist. Der Verkehr läuft zunächst normal weiter; Autos und Lastwagen überholen den Flüchtlingszug.
Um 22 Uhr schaffen wir es, ebenfalls auf die Autobahn zu gelangen. Es sind surreale Szenen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich in Ungarn mal so etwas sehen würde. Es ist komplett dunkel, denn die Autobahnen sind nicht beleuchtet. Die Polizei hat irgendwann die Straße gesperrt. Zu diesem Zeitpunkt sind die Flüchtlinge schon länger als zehn Stunden zu Fuß unterwegs. Es sind die herzzerreißendsten Szenen, die ich als Journalist je erlebt habe. Einige von ihnen laufen an Krücken, Kinder weinen. In einem zivilisierten, europäischen Land, ohne bewaffnete Konflikte diese verzweifelten Leute in der Dunkelheit über die Autobahn laufen zu sehen, macht mich sehr traurig.
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Viele Ungarn kommen aber auch mit ihren Autos und verteilen Essen und Wasser. In der Nacht schickt die Regierung schließlich Busse, die die Flüchtlinge nach Österreich bringen. Dort sind die Behörden ziemlich gut vorbereitet: Dutzende Rettungswagen warten. Einige Flüchtlinge müssen wegen Kriegsverletzungen behandelt werden. Bei manchen Kindern pellt sich die Haut von den Füßen - vom langen Laufen.
Samstag. Nach der angespannten Stimmung am Tag zuvor sehe ich in Österreich vor allem fröhliche Gesichter. Als die Flüchtlinge erfahren, dass der Weg durch Österreich frei ist und sie – statt zu laufen – nun den Zug nehmen können, sind sie sehr erleichtert. Für mich ist es schlimm zu hören, was sie über die Behandlung in meinem Land sagen: “Ungarn ist ein Albtraum” und ähnliches.
Am Sonntag besuchen wir die serbisch-ungarische Grenze. Der erste Teil des neuen Grenzzauns ist bereits fertig: Ein Meter hohe Stacheldraht-Rollen liegen entlang der Grenze. An einer Stelle, in der Nähe von Röszke, gibt es einen Durchgang im Grenzzaun. Die Polizei erwartet die Flüchtlinge zwar, die hier illegal die Grenze überqueren, aber sie versucht nicht, sie zu fangen oder einzukreisen. Nach ein paar hundert Metern gibt es einen Checkpoint. Dort bekommen die Menschen Essen und Kleidung und werden registriert. In den zwei oder drei Stunden, die wir an dieser Stelle der Grenze verbrachten, kamen hunderte von Flüchtlingen.