Große Nervosität am Bahnsteig 10. Es ist kurz vor 17.48 Uhr am Wiener Hauptbahnhof. Gleich kommt wieder ein Zug. Aus Budapest, Richtung München, sagt die Anzeigetafel. Studenten, Schüler, junge Menschen machen sich mit Wasserflaschen und Essenspaketen bereit. Sie wollen helfen. „Welcome Refugees“, steht auf ihren Schildern. Angeblich sollen 300 bis 400 Flüchtlinge aus Ungarn kommen und im nächsten Zug sein. Vermutlich entkräftet, durstig und hungrig, aber voller Freude, endlich in Westeuropa angekommen zu sein.
Gleichzeitig bringen die Helfer 20 Flüchtlinge zum Bahnsteig. Versorgt mit Essen, Trinken, Kleidung und vor allem Bahntickets werden sie gleich den Zug Richtung Deutschland besteigen. Es ist ein Train of Hope, wie er liebevoll im Internet genannt wird, der die Menschen in eine bessere Zukunft bringen soll. Eine Zukunft in Deutschland, dem Land der Träume für die meisten Flüchtlinge hier.
Die Polizei sieht weg
Drei Polizisten schlendern den Bahnsteig entlang. Eigentlich müssten sie einschreiten, die Papiere kontrollieren und die illegal eingereisten Flüchtlinge an der Weiterreise hindern. „Nach den gesetzlichen Bestimmungen her: Ja,“ sagt der Sprecher der Wiener Polizei Roman Hahslinger. „Aber wir können im Moment die Flüchtlinge eh nicht nach Ungarn zurückschieben.“ Denn Ungarn hat offenbar keine Kapazitäten, die Flüchtlinge zurückzunehmen.
Deshalb drückt Österreich gerade beide Augen zu. Geschockt von den 71 toten Flüchtlingen in einem Kühllastwagen hat in Österreich ein stiller Paradigmenwechsel stattgefunden. Doch es ist zu spät, kritisiert Tony Hamsi, selbst ein anerkannter Flüchtling aus Syrien, der seit über einem Jahr in Österreich lebt und nun als Dolmetscher aushilft. „Wenn 71 Menschen nicht gestorben wären, wäre Österreich nicht so. Es kommt zu spät. Eine Million Syrer sind schon gestorben“, sagt Hamsi.
Die Polizei konzentriert sich jetzt auf die Bekämpfung der Schlepperei. Das europäische Dublin-III-Verfahren tritt hinter das Menschliche zurück. Die österreichische Regierung hingegen kann sich noch immer nicht zu einer klaren Haltung durchringen. Statt auch offiziell das Dublin-III-Verfahren über den Haufen zu werfen, mault Bundeskanzler Werner Faymann am Dienstag in Richtung seines ungarischen Amtskollegen Victor Orbán: „Gesetze sind einzuhalten.“ Gemeint sind die hunderte Flüchtlinge, die Ungarn Anfang der Woche durchgelassen hat.
Dann rollt der Zug endlich ein. Letzte Fotos werden gemacht, Hände gedrückt und Umarmungen ausgetauscht. Die kleine Gruppe Flüchtlinge wird von einer viel größeren Anzahl an Helfern begleitet. Sie springen aufgeregt umher und sind in ihrem Element. „Es ist immer das Schönste, wenn man jemand in einen Zug setzt und wegschickt“, sagt mir Florian Matzka, einer der Helfer.
Die Flüchtlinge hingegen kann eine Zugfahrt Wien -München nicht mehr umhauen. Wer in einem Schlauchboot auf eine griechische Insel übergesetzt hat und unter dem Stacheldrahtzaun nach Ungarn gekrochen ist, hat schon zu viel erlebt. Der gefährlichste Teil der Reise liegt hinter ihnen. Jeder Flüchtling hat eine Fahrkarte samt Reservierung, finanziert durch Spendengelder. Die Helfer kaufen stets Gruppentickets, um Geld zu sparen und möglichst vielen die Weiterreise zu ermöglichen.
Helfen statt reden
In drei Tagen haben die jungen Freiwilligen eine funktionierende Infrastruktur aus dem Boden gestampft - ohne viel Erfahrung oder Fachwissen. Zunächst improvisiert in der großen Ankunftshalle, haben ihnen die österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) inzwischen Räume, Trinkwasser und Strom zur Verfügung gestellt. Die Generation Praktikum will nicht mehr zusehen und übernimmt Verantwortung. Es sind vor allem Studenten hier - auffallend viele Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund. Über Facebook und Twitter wird kommuniziert, wer und was gebraucht wird.
https://twitter.com/HBF_Vie/status/639727403653300224
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Firmen stellen Funkgeräte oder Internet-Hotspots zur Verfügung, laufend bringen Passanten Geld oder Sachspenden. Eine österreichische Familie mit zwei Kleinkindern bleibt stehen. Mit Hilfe eines Dolmetschers fragen sie Mahmud Al-Umar, was ihm und seinen Kindern fehlt. Die irakische Familie will nach Finnland, die Töchter brauchen noch warme Schuhe. Zehn Minuten später ist die Familie zurück mit nagelneuen, bunten Schuhen in der richtigen Größe. Die Freude ist unbeschreiblich; auch mir als Reporter kommen die Tränen, ob der Warmherzigkeit.
Es gibt mehr helfende Hände als gebraucht werden. „Ich habe gerade Ferien und sollte eigentlich auf Urlaub fahren, aber das werde ich nicht machen, weil das hier macht viel mehr Spaß hier“, sagt Musikschullehrerin Lucie Bystrońová.
Koordinatoren behalten den Überblick und teilen die Helfer bestimmten Teams zu: Zugtickets, Lager, Spendenausgabe, Bahnsteig oder Kommunikation. Julian Pöschl hat sich das System ausgedacht und kommuniziert laufend mit der Polizei, der Sicherheitsfirma am Bahnhof und den ÖBB. Im richtigen Leben arbeitet er beim Film, aber die humanitäre Katastrophe hat ihn zum Handeln gezwungen. „Politisch bin ich in dem Sinn, dass ich nicht zusehen kann, wenn es Leuten schlecht geht“, begründet der 22-Jährige sein Engagement.
Falsche Gerüchte über ankommende Flüchtlinge
Von den bis zu 400 neu ankommenden Flüchtlingen ist hingegen keine Spur. Mal wieder hat sich das Gerücht als falsch erwiesen. Ungarn hat die Grenze wieder dicht gemacht. An diesem Donnerstag kommen in Wien überhaupt keine direkten Züge aus Ungarn an. Die ungarische Bahn hat alle Verbindungen nach Westeuropa eingestellt. Der Zug kam gar nicht aus Budapest, sondern nur von der Staatsgrenze zwischen Ungarn und Österreich. Die Helfer sind enttäuscht. Nach dem großen Ansturm am Montag haben sie sich auf Hunderte, ja sogar Tausende Ankommende eingestellt. Sogar die Berufsrettung ist am Bahnhof mit einem Katastrophenfahrzeug aufgefahren, weil man nichts Genaues weiß.
Plötzlich stehen sie aber am Bahnsteig. 15 Flüchtlinge aus Syrien kommen mit einem Regionalzug aus dem Grenzgebiet. Zunächst sind sie verunsichert, lassen sich dann aber helfen. Schnell wird ein Dolmetscher geholt, eine Ärztin organisiert, Wasser gereicht. Die zwei Cousins Marwan Haje, 19 Jahre alt, und Arashe Ahmed, 20 Jahre alt, sind den langen Weg aus Kobane in Syrien gemeinsam gekommen. Mit der Hilfe von Übersetzern erzählen sie mir ihre Geschichte. Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn - die übliche Route. Als die ungarische Polizei in einem Flüchtlingslager ihre Fingerabdrücke nehmen will, weigern sie sich. Daraufhin werden die zwei Kurden - laut eigenen Aussagen - von der Polizei geschlagen und misshandelt.
Auf ihrem Weg fürchten die Flüchtlinge kaum etwas mehr, als ihre Fingerabdrücke herzugeben. Denn nur so können sie über die europäische Datenbank identifiziert und nach Ungarn zurückgeschickt werden. Als Haje und Ahmed aus dem Flüchtlingslager entkommen, mussten sie alles zurücklassen. Ohne jeglichen Besitz, nur mit der Kleidung, die sie an ihrem Körper tragen, kommen sie am Wiener Hauptbahnhof an.
Chaotisches System zieht Trittbrettfahrer an
Unter die vielen neuankommenden Flüchtlinge mischen sich auch Menschen, die schon länger in Europa leben. Amir Hussein Oscar kommt aus Pakistan und lebte die letzten fünf Jahre in Griechenland als Tagelöhner ohne Aufenthaltsbewilligung. „Ich bin ein illegaler Einwanderer und versuche nur, ein besseres Leben zu leben“, sagt der 37-Jährige. „Ich nutze die Situation aus.“ Seitdem er elf Jahre alt ist, muss er arbeiten. Nun will er einen Asylantrag wegen ideologischer oder religiöser Gründe in Berlin stellen. Die Aussicht auf Erfolg ist gering.
Hashtag Train of Hope
„Trainofhope“ oder auf Deutsch: „Zug der Hoffnung“ ist der Hashtag dieser spontanen Bewegung auf Twitter. Rechte Parolen, brennende Flüchtlingsunterkünfte, die alltägliche Ausländerfeindlichkeit und rechtsradikale Parteien - all dem wollen die Aktivisten etwas entgegensetzen. Einfach nett sein, ein paar Heimatvertriebenen weiterhelfen, sie ein Stück weit begleiten und ein klein wenig Hoffnung geben. Dafür steht der Hashtag. An diesem Donnerstag sind weniger als 200 Flüchtlinge zu Fuß, mit Regionalzügen oder über Schlepper am Wiener Hauptbahnhof angekommen, die Helfer in Wien sind für viel mehr gerüstet. Doch die ungarische Grenze ist wieder zu.
Als sich der Railjet voller Hoffnung von Wien nach München in Bewegung setzt, bricht Jubel aus. Verdutzt sehen umstehende Fahrgäste zu. Wieder 20 Flüchtlinge, die ihrem Ziel näher kommen. Nicht die Gesetze, nicht das Dublin-Abkommen, nicht Verteilungsquoten zählen hier, sondern lediglich der Wunsch, am Ort seiner Wahl ein neues Leben anzufangen.
Mit am Bahnsteig ist auch Abdullah Mohibbe aus Afghanistan. Vor 16 Monaten endete seine Flucht vor den Taliban in Österreich, heute hat er seinen Deutschkurs geschwänzt, um hier Menschen wie ihm selbst weiterzuhelfen. Er hat einen Wunsch auf einen Zettel geschrieben und damit quasi einen Leitspruch formuliert: „Ich wünschte, es gäbe ein Land der Erde, in das ich gehen kann, um zu leben. Ein Land, in dem keiner nach Religion oder Herkunft fragt und alle glücklich sind, wie Menschen zu leben.“