Die Mär von Europas Schuld
Flucht und Grenzen

Die Mär von Europas Schuld

Dass so viele Menschen fliehen, ist kaum Europas Schuld. Wie sie es tun müssen, umso mehr.

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Politik- und Klimareporter

Als am Dienstag am Münchener Hauptbahnhof Züge voller Flüchtlinge ankamen, nahmen die Bürger die Sache selbst in die Hand. Sie brachten so viele Hilfsgüter, dass die Polizei sehr schnell meldete: Wir brauchen nichts mehr. Dieses greifbare Problem hatten die Bürger gelöst, wie es tausend Mal auch anderswo in Deutschland geschieht.

Während ganz pragmatisch geholfen wird, spricht Deutschland auch über die großen Ursachen der Flucht. Dabei schleicht sich ein Gedanke ein: Die deutschen Außen- und Entwicklungspolitiker sind schuld, dass so viele Menschen fliehen. Das sagt Georg Restle vom WDR vor Millionenpublikum. Das schreibt Markus Becker, Politikredakteur bei Spiegel Online, in einem umjubelten Artikel. Darum sorgt sich auch Thomas Oppermann, einer, der als Fraktionschef der SPD einen ganz kurzen Draht zu den Menschen hat, die die Leitlinien der deutschen Politik bestimmen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wird nächste Woche einen speziellen Fonds vorschlagen, mit dem die Herkunftsländer stabilisiert werden sollen. Aus der vermeintlichen Schuld Deutschlands ziehen sie den Schluss, dass sich dessen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik ändern müsse, damit weniger Menschen Grund haben zu fliehen.

Dieser Schluss ist gut gemeint, aber moralisch fragwürdig; wirkt klar, ist aber widersprüchlich und zeugt nur auf den ersten Blick von Sachkenntnis.

Becker schreibt:

Die Bekämpfung der Ursachen verlangt nach einer konzertierten Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik, die Überzeugungskraft, einen langen Atem und Geld kostet.

Zuerst geißelt er die Entwicklungshilfe:

Die EU etwa hatte 2005 verkündet, die Ausgaben für Entwicklungshilfe bis 2015 auf 0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung anzuheben. Doch selbst dieses bescheidene Ziel hat sie krachend verfehlt: Der Anteil dümpelt seit Jahren bei rund 0,4 Prozent.

Danach widmet er sich der „Umwelt-, der Außen-, der Wirtschafts- und der Sicherheitspolitik“ und „dem Verhalten der Verbraucher“, die er als widersprüchlich und ausbeuterisch beschreibt, um damit zu schließen, dass Europäer bei „Konflikten vor der eigenen Haustür oft nur zusehen (wie in Syrien) oder sie nach einem kurzen Eingreifen aus den Augen verlieren (wie in Libyen)“. Restle vom WDR kritisiert zudem, dass der „deutsche Außenminister einen Pakt mit den schlimmsten Despoten Afrikas schließen will“.

1. Entwicklungshilfe hilft nicht, Migration zu verhindern.

Dieser Syrer betreibt einen Schubkarrendienst in dem jordanischen Flüchtlingslager Zaatari.

Dieser Syrer betreibt einen Schubkarrendienst in dem jordanischen Flüchtlingslager Zaatari. Foto: Rico Grimm

Im Wort „Entwicklungshilfe“ steckt die einfache Annahme, dass sie helfen würde, etwas zu entwickeln. Typischerweise sind ihre Ziele Wohlstand und Stabilität. Ein Land, das reich und ruhig ist, ist ein besseres Land, keine Frage. Aber es gibt zu wenige verlässliche Anhaltspunkte, dass die Entwicklungshilfe des Westens diese Ziele erreichen kann. Ökonomen gelingt es nicht einwandfrei, Wirtschaftswachstum in den Entwicklungsländern auf Entwicklungshilfe zurückzuführen. Dagegen spricht zudem, dass nicht alle Länder, speziell in Afrika, auch stabile Länder geworden sind, aber fast alle Entwicklungshilfe bekommen haben. Wenn diese wirkungsvoll wäre, gäbe es keine unterschiedlichen Ergebnisse. Der Verdacht liegt nahe, dass jene Länder, die heute reicher und stabiler sind, Länder wie Botswana, Ghana oder Tansania, es nicht wegen der westlichen Entwicklungshilfe geschafft haben – und auch nicht trotz ihr, sondern aus eigener Kraft.

Der Gedanke ist nicht neu. Die sambische Ökonomin Dambisa Moyo nannte das schon 2009 „tote Hilfe“. Inzwischen glauben viele, dass es wirkungsvoller ist, armen Menschen in anderen Ländern einfach Bargeld in die Hand zu drücken, als ihnen komplizierte, potenziell verfehlte und wenig nachhaltige Entwicklungsprogramme überzustülpen. Das heißt aber nicht, dass Entwicklungshilfe abgeschafft werden kann. Es ist ein moralisches Gebot, den Armen zu helfen. Eine Spende hilft auch keinem Obdachlosen dauerhaft, sie symbolisiert aber eine solidarische Gemeinschaft. Das ist ein Wert für sich.

Aber angenommen, Entwicklungshilfe wäre erfolgreich, angenommen, sie könnte Länder reicher und stabiler machen. Was würde in Sub-Sahara-Afrika, in den ärmsten Ländern der Welt passieren, aus denen heute viele Menschen fliehen? Es würden wohl noch mehr fliehen. Im Senegal lässt sich das schon beobachten. Obwohl das Land reicher wird, steigen die Migrantenzahlen. Der Grund ist einfach: Eine Flucht nach Europa kostet mehrere Tausend Dollar, die sehr viele Bewohner von Flüchtlingsländern nicht haben, auch nicht zusammensparen können, wenn sie insgesamt nur wenige Tausend Dollar im Jahr verdienen. Wenn die Länder reicher werden, können sich die Menschen plötzlich eine Flucht leisten, die so lange eine Option bleibt, bis der Einkommensunterschied zwischen dem Heimat- und dem Zielland die lebensgefährliche Flucht nicht mehr rechtfertigt.

Um das in Perspektive zu setzen: Das Einkommen eines Bürgers aus dem Tschad müsste gut 44-mal größer sein, um an das eines Deutschen heranzukommen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Lücke zwischen den ärmsten und reichsten Ländern eines Tages schließen wird, aber wahrscheinlich ist es nicht. Die Einkommensgewinne müssten extrem sein. Es bräuchte im Grunde 50 kleine Chinas in Afrika, China-Kopien auf Speed wohlgemerkt, die noch schneller wachsen als das Original.

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Aber die Europäer können diese Entwicklung fördern, wenn sie ihre Wirtschaftspolitik ändern. Da hat Becker Recht. Viele afrikanische Länder bekommen keine richtige Chance, eigene Industrien aufzubauen. Wenn die europäische Politik fairer wäre, hieße das aber immer noch nicht, dass sich diese Länder entwickeln. Maßgeblich für Stabilität und Wohlstand sind nicht Handelsparagraphen, sondern das Verhalten der eigenen Eliten und die Kultur innerhalb der nationalen Institutionen. Das haben die Wirtschaftswissenschaftler Daron Acemoglu und James Robinson in ihrem Buch „Warum Nationen scheitern“ eindrucksvoll belegt.

2. Außenpolitik hat nicht die richtigen Werkzeuge.

US-Außenminister John Kerry mit seinem deutschen Kollegen Frank-Walter Steinmeier bei einer Pressekonferenz im Januar 2014

US-Außenminister John Kerry mit seinem deutschen Kollegen Frank-Walter Steinmeier bei einer Pressekonferenz im Januar 2014 Foto: U.S. Außenministerium

Syrien und Libyen erwähnen Becker und Restle auch – und bei diesem Argument wird die ganze krude Logik hinter ihrer Forderung klar. Denn im Fall Libyen griff eine fremde Koalition ein, angeführt von Großbritannien und Frankreich. Sie bombardierte die Truppen des Diktators Gaddafi und schaffte so die Voraussetzungen für dessen Sturz. Heute ist Libyen ein chaotisches Bürgerkriegsland und bietet damit hervorragende Bedingungen, um unbeobachtet ein- und auszureisen. Das Land liegt auf einem der wichtigsten Wanderpfade nach Europa. Die Schiffe, die im Mittelmeer versinken, legen von libyschen Häfen ab. Der Eingriff der Koalition hat also den Flüchtlingen den Weg bereitet.

Der Fall Syrien ist anders gelagert. Hier liefert sich die nominelle Regierung unter Bashar al-Assad seit vier Jahren heftige Gefechte mit moderaten, säkularen Rebellen und den fundamentalistischen Fraktionen, allen voran ISIS. Immer mal wieder diskutierten die westlichen Länder darüber einzugreifen, vor allem nach dem Giftgasangriff in Ghuta nahe Damaskus, rückten aber von dem Plan ab, weil keine Nation die Führung übernehmen wollte. Trotzdem flohen vor diesem Krieg Millionen, viele in die Nachbarländer, einige nach Europa.

Becker hat seiner Kritik am libyschen Fall einen Zusatz mitgegeben. Ihm missfällt, dass die europäischen Länder diesen Konflikt aus den Augen verloren hätten. Ich interpretiere das so, dass zu wenig dafür getan wurde, um das Land nach dem Kampfeinsatz zu stabilisieren. Aber der Fall Afghanistan zeigt, dass auch eine lange, intensive und teure Stabilisierungsmission keinen Erfolg bringen muss. 10.500 der Asylbewerber in diesem Jahr kommen aus Afghanistan.

Drei unterschiedliche Handlungen führen zu dem gleichen Ergebnis: mehr Flüchtlinge. Wonach soll sich die deutsche Außenpolitik richten, wenn sie deren Zahl verringern will?

3. Muss Migration überhaupt verhindert werden. Wenn ja, für wen?

Fouad repariert Schubkarren in Zaatari, einem Flüchtlingslager für Syrer in Jordanien. Das Bild stammt vom Herbst 2013.

Fouad repariert Schubkarren in Zaatari, einem Flüchtlingslager für Syrer in Jordanien. Das Bild stammt vom Herbst 2013. Foto: Rico Grimm

Becker und Restle wollen die Ursachen für Migration bekämpfen. Ist das überhaupt das richtige Ziel? Muss Migration verhindert werden? Gibt es nicht andere Ziele für die Außenpolitik?

Viele Deutsche wünschen sich, dass die Außenpolitik ihres Landes wertegebunden ist, also Demokratie, Freiheit und Gleichheit im Ausland fördert. So eine Außenpolitik kann im Widerspruch zu dem Ziel stehen, die Ursachen der Flucht zu bekämpfen. Denn die Menschen flüchten vor Armut und Chaos. Es liegt im ureigensten Interesse von Diktatoren, Chaos in ihrem Land zu vermeiden; sie führen mit harter Hand, um ihre Macht zu sichern. Sie sind im Vergleich zu revolutionären Regierungen recht verlässlich.

Mir liegt es fern, die Diktatur zu loben, aber generell bringt sie Eigenschaften mit sich, die die Flucht von Menschen unwahrscheinlicher machen. Das trifft keineswegs auf alle Bürger zu, klar. Ich habe Iraner getroffen, die fliehen mussten, weil sie als religiöse Minderheit für ihre Rechte kämpfen. Zurzeit fliehen viele Eritreer vor einem Regime, das sich zum Ziel gesetzt zu haben scheint, Nordkoreas Führung als weich dastehen zu lassen. Ich bezweifele, dass es den Außenpolitikern gelingen könnte, diesen Widerspruch aufzulösen - und Stabilität zu fördern, ohne damit gleichzeitig ihre Werte hintenanzustellen.

Zudem schrammen Becker und Restle – ungewollt, davon bin ich überzeugt – an einem rassistischen Argument vorbei. Sie sagen es nicht explizit, aber es scheint, als ob sie in ihren Kommentaren nur von den Wanderungsbewegungen von Süd nach Nord, von Afrika und dem Nahen Osten in die reichen Länder sprechen. Die Ursachen dieser Wanderung müssten bekämpft werden, sagen sie. Aber warum? Mit welchem Recht wollen sie den Menschen absprechen, zu fliehen – selbst, wenn die Ursachen, so unwahrscheinlich das auch ist, nicht mehr existieren würden. Oder wären das dann keine „Flüchtlinge“ mehr, sondern „Auswanderer“? Müsste man dann immer noch die Ursachen bekämpfen? Wenn ja, was unterscheidet – Kriegsflüchtlinge ausgenommen – eine Flucht von einer Auswanderung?

4. An den Toten des Mittelmeers, an den Zuständen auf den Flüchtlingsrouten hat Europa tatsächlich Schuld.

Ein Wachmann an der Einfahrt zum Lager der Helfer im jordanischen Flüchtlingslager Zaatari.

Ein Wachmann an der Einfahrt zum Lager der Helfer im jordanischen Flüchtlingslager Zaatari. Foto: Rico Grimm

Die Forderung, die Ursachen der Migration zu bekämpfen, ist gut gemeint, wurzelt aber in einem falschen Verständnis der Verantwortlichkeit. Europa hat nur wenig Schuld daran, dass viele dieser Menschen fliehen. Es hat jedoch Schuld daran, dass die Flüchtlinge in Lkws ersticken, unter freiem Himmel leben müssen und wochenlang auf die formale Erstaufnahme warten. Darüber ist schon viel geschrieben worden, ich muss das nicht alles wiederholen.

Die Flüchtlingskrise können Deutschland und die EU nicht in Afrika oder Syrien lösen, sondern nur an den Stränden von Kos, am Hauptbahnhof von Budapest und vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin. Denn die Gefahr ist groß, dass auf die famose, überbordende, unerwartet großzügige Hilfsbereitschaft dieser Tage Ernüchterung folgt – aus praktischen Gründen. Weil der Kleiderschrank und die emotionalen Reserven leer sind. Weil das Studium weiter gehen muss. Weil Flüchtlinge Alltag werden und wir vergessen können, dass sie neben uns leben. Diese Gefahr wächst, wenn die Deutschen sich damit beruhigen können, die Ursachen der Migration weit entfernt zu „bekämpfen“. Man tue doch schon was, würde es dann heißen.


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Aufmacher-Bild: Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien; Foto:Rico Grimm