Es gibt kein Flüchtlingsproblem
Flucht und Grenzen

Es gibt kein Flüchtlingsproblem

Für hunderttausende Flüchtlinge ist Deutschland die Chance auf ein neues Leben. Für Deutschland sind die Flüchtlinge die Chance, einige seiner größten Probleme zu lösen. Darum: Gebt ihnen Arbeit und gebt ihnen einen deutschen Pass. Die Zeit ist reif für eine Einwanderungswende.

Profilbild von Sebastian Esser
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Europa am Ende der Sommerferien 2015: Täglich treiben Leichen im Mittelmeer. Menschen sterben in Kühltransportern, an Grenzzäunen. Die Notunterkünfte sind überfüllt, die Ämter überfordert. Manche der geflohenen Familien zelten in deutschen Stadtparks. Die Kanzlerin spricht von einer „enormen Herausforderung“. Der Innenminister sagt: „Auf Dauer sind 800.000 zu viel.“ „Die Bundesrepublik ist überfordert“, behauptet die FAZ und rät zur Selektion.

Fremdenfeindliche Gewalt nimmt dramatisch zu. Notunterkünfte brennen. Xenophober Hass und andererseits Empörung über rechtsradikale Brandstifter und die Überforderung der Politik dominieren die sozialen Netzwerke. Abseits der Hysterie ist die Ratlosigkeit groß. Eines scheint sicher: Deutschland hat ein Flüchtlingsproblem.

Diese Sicht ist falsch. Die große Flucht des Jahres 2015 ist kein Problem, sondern eine große Chance für unsere Gesellschaft, die sich nicht häufig bietet. Den Menschen, die in großer Not zu uns kommen, sollte Deutschland ein Angebot machen. Anders als den sogenannten Gastarbeitern in den Sechzigerjahren sollten wir den Flüchtlingen vorschlagen, hierzubleiben und ein neues Leben aufzubauen. Gebt ihnen Arbeit und gebt ihnen einen deutschen Pass.

Warum? Mindestens drei Gründe sprechen dafür: die außergewöhnlich günstige Wirtschaftslage, die demografische Krise der Sozialsysteme und die neue deutsche Weltoffenheit.

Die deutsche Wirtschaft hat so viel Kraft wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Nie waren die Voraussetzungen besser, einer großen Zahl von Einwanderern Arbeit zu geben. Die Arbeitslosenquote liegt bei 6,3 Prozent. Viele Stellen bleiben unbesetzt. Firmen suchen Auszubildende, Arbeiter und Fachpersonal.

Zwar bedroht die Aktienkrise in China das deutsche Wachstum und damit die Fähigkeit, Flüchtlingen Arbeit zu geben. Aber auch hier ist der Zeitpunkt sehr günstig: Lange haben die Amerikaner und Länder wie China oder Brasilien Europa aufgefordert, durch höhere Ausgaben einen Beitrag zur Stabilisierung der Weltwirtschaft zu leisten. Gemeint war immer Deutschland, Erfinder der Schuldenbremse und Kämpfer für eine Politik der Austerität, also für einen Sparkurs. Im Moment sind die Überschüsse der öffentlichen Haushalte noch so ungewöhnlich hoch – nach jüngsten Informationen 21 Milliarden Euro im ersten Halbjahr –, dass selbst ohne neue Schulden große Investitionsprogramme denkbar sind.

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Deutsche Investitionen sind ökonomisch vernünftig: Sie kurbeln die Nachfrage an, sie bekämpfen die Euro-Krise und sie stabilisieren die Weltwirtschaft. Und selten waren sie sinnvoller: Hunderttausende neuer Bürger brauchen Wohnungen. Viele brauchen therapeutische Unterstützung und Hilfe dabei, in unserer fremden Kultur anzukommen. Sie brauchen Kitas, Schulen und Universitäten, Sprachkurse, Abschlüsse und Qualifizierungen. Und sie brauchen Bildungseinrichtungen, bei denen die Herkunft nicht von Nachteil für die Zukunftschancen ist – in Deutschland noch immer eine schreiende Ungerechtigkeit.

Investitionen in Bildung und Wohnungsbau sind nachhaltig, anders als die sonst üblichen Strohfeuer-Konjunkturprogramme. Es wäre gut investiertes Geld: Überall auf der Welt sind Einwandererkinder mit guten Bildungschancen erfolgreichere Unternehmer.

Der zweite Grund ist das Schrumpfen der deutschen Bevölkerung. Nur wenige wollen so genau wissen, wie niedrig ihre Renten wirklich sein werden, aber viele erahnen die kommende Welle der Altersarmut. Denn immer weniger Beitragszahler müssen schon sehr bald für eine steigende Zahl von Anspruchsberechtigten aufkommen – eine Rechnung, die nicht aufgeht. Der Anteil der arbeitenden Bevölkerung geht immer weiter zurück; außerdem werden diese künftigen, kleineren Generationen die enormen Schulden des Staates abtragen müssen.

Schauen Sie doch mal nach, wie die Bevölkerungs-Pyramide in dem Jahr aussieht, in dem Sie voraussichtlich in Rente gehen: Die Jahrgänge unterhalb der 65 (oder 67) werden für die darüber mitverdienen müssen.

Die Lösungen dieses fundamentalen Problems der Renten und der anderen Sozialsysteme sind bekannt: Entweder kommen möglichst schnell viel mehr Kinder zur Welt. Oder wir bemühen uns bereitwilliger und schneller als in den vergangenen Jahren um jährlich hunderttausende Einwanderer. Wie viele Flüchtlinge werden in diesem und im kommenden Jahr erfolgreich Asyl beantragen, arbeiten und Sozialbeiträge zahlen? Eine Million scheint nicht unrealistisch. Ein solcher Zuwachs an Beitragszahlern hätte signifikante Auswirkungen auf die Zukunft der deutschen Sozialsysteme. Flüchtlinge sind im Schnitt jünger. Sie sind bereit, für Alte zu sorgen und werden Schulden abtragen, die sie nie aufgenommen haben. Viele Studien zeigen, dass Einwanderer neue Jobs schaffen, statt sie wegzunehmen, und Löhne steigen lassen, statt sie zu drücken.

Der dritte Grund: Deutschland ist heute ein offenes Land. Es ist frustrierend mit anzusehen, wie ein kleiner, rechtsextremer Teil der Wählerschaft regelmäßig die Debatte dominiert. Der Drang der deutschen Politik, auch den rechten Rand in die Volksparteien zu integrieren, hat seinen Ursprung in der Nachkriegszeit, aber er ist überholt. Besser wäre es, eine stramm rechte Partei zuzulassen. Die Mehrheitsverhältnisse in Deutschland sind klar: Der Anteil der extrem rechts eingestellten Wählern ist zwischen 2002 und 2014 von 9,7 auf 5,6 Prozent zurückgegangen. Der ehrlichste Indikator für Integration: Binationale Ehen sind so häufig wie nie. Mit den Rassisten will eine große Mehrheit nichts zu tun haben; sie werden ausgegrenzt, um die Notorischen kümmert sich die Polizei. Exorzismus überflüssig.

Das Bemerkenswerte, Ungewöhnliche in diesen Tagen ist nicht der Rechtsradikalismus, dem empörte Aufmerksamkeit unbeabsichtigt zusätzlich auf die Sprünge hilft. Stattdessen ist es die überall im Alltag spürbare, herzerwärmende Solidarität. Freunde organisieren T-Shirts und Kinderwagen, Reis und WG-Zimmer. Verwandte geben Deutsch-Unterricht und gehen mit aufs Amt. Bekannte übernehmen Vormundschaften für syrische Waisenkinder. Im ganzen Land kommen Menschen mit offenen Herzen Flüchtlingen zu Hilfe. Am Münchner Hauptbahnhof, in den Hamburger Messehallen, vor dem LaGeSo in Berlin und in vielen Notunterkünften im ganzen Land helfen Tausende. Die große Mehrheit sagt „Herzlich Willkommen“. Hashtags wie #refugeeswelcome sind in den Fernsehnachrichten angekommen.

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Die Traumata der kaum vorstellbaren Gewalt werden im Alltag natürlich zu Problemen führen. Sicher wird es auch kulturelle Konflikte geben. Hunderttausende gläubiger Muslime werden neue Moscheen brauchen. Aber Deutschland hat sich weiterentwickelt. Ehemalige Reizwörter wie „Multikulti“ oder „Leitkultur“ klingen nicht einmal mehr absurd, sie haben jede Bedeutung verloren. Junge Deutsche sind selbstverständlich in Europa und der Welt unterwegs, bewegen sich in der internationalen Öffentlichkeit des Internets und haben Freunde aus unterschiedlichen Kulturen. Politik, Linke und Rechte spielen bei dieser Offenheit eine untergeordnete Rolle.

Deutschlands Spezialität ist die Kombination von Solidarität und Wohlstand. Die Sozialpartnerschaft zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern stabilisiert seit Jahrzehnten die Gesellschaft. Deswegen ist es kein Widerspruch, nach den eigenen Vorteilen zu fragen, wenn es um Hilfe für Familien geht, die alles verloren und Unaussprechliches erlitten haben. Wenn wir aus dem Problem ein gesellschaftliches Projekt machen und aus den Flüchtlingen von heute die Bürger von morgen, werden die neuen Deutschen diese Chance ergreifen. Sie werden ein neues Leben aufbauen und dieses Land in jeder Hinsicht reicher machen. Wir alle würden profitieren: Die Wirtschaft würde wachsen, die Sozialsysteme wären stabiler, und Deutschland wäre ein jüngeres, offeneres Land. Für die Flüchtlinge ist Deutschland die Chance auf ein neues Leben. Für Deutschland sind die Flüchtlinge die Chance, einige seiner größten Probleme zu lösen.

Es ist ein Kraftakt, in wenigen Jahren vielleicht mehr als eine Million Menschen in die Gesellschaft zu integrieren. Umso beeindruckender ist es – bei aller unverständlichen Bürokratie und den in so einer Ausnahmesituation unvermeidlichen Verwaltungskatastrophen –, den deutschen Institutionen beim Hochfahren ihrer über geschichtete staatliche Ebenen und Behörden verteilten Organisationspower zuzusehen: Mitarbeiter der Arbeits- und Jugendämter, von Stadtverwaltungen und Polizei ackern. Die Bundesregierung hat einen pragmatischen und vernünftigen Schritt getan und das Dublin-Abkommen für Syrer faktisch außer Kraft gesetzt, sie dürfen bleiben. Deutschland ist überfordert? Nein, wir kriegen das hin.

Dieses große Programm erfordert viel Geld, schnelle institutionelle Reformen, vor allem aber politische Führungskraft. Sigmar Gabriel versteht das und tut sein Bestes. Seine SPD ist aber in der großen Koalition gefangen, ihr fehlt die Energie und die Glaubwürdigkeit für den großen Gegenentwurf, wie ihn eine starke Opposition formulieren könnte. Angela Merkel ist nicht die Kanzlerin der gesellschaftlichen Projekte, sondern die der vorsichtigen Schritte. Ein Einwanderungsgesetz scheine im Augenblick nicht das dringlichste Vorhaben zu sein, sagt sie. Ihr fehlen die kommunikativen Fähigkeiten, um mit Charisma große Entscheidungen öffentlich zu begründen und mit Argumenten zu überzeugen.

Es sei denn, das Schicksal zwingt die Kanzlerin zu solchen dramatischen Entscheidungen. Die Energiewende war nur nach Fukushima möglich. Nun sollte sie die „Einwanderungswende“ durchsetzen. Deutschland ist reif dafür.


Aufmacher-Foto: Wikipedia/CC-BY-SA-2.0