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Früher war Beirut schöner, sagt Rashad. Die Strandpromenade der libanesischen Hauptstadt ist voller Menschen, die die laue Frühlingsnacht unbeschwert genießen; Kinder sausen auf Rollern und Inlineskates auf und ab, Familien picknicken, essen Eis, sie entspannen beim Blick aufs Mittelmeer. Nur Rashad Sadik kann darin nichts Schönes mehr sehen.
Der 23-Jährige ist nervös, sein Blick zu Boden gerichtet. Er scheint das Leben um ihn herum nicht wahrzunehmen. Früher, als noch nicht so viele Syrer in der Stadt waren, sei Beirut schöner gewesen, sagt er noch einmal, ohne aufzublicken. Er deutet auf eine der Bänke, die an der Corniche stehen. Seine Hände sind schwarz, dunkler Dreck sitzt unter den Fingernägeln.
Er habe darüber nachgedacht, über das Meer zu fliehen. Hauptsache raus aus dem Libanon, dann von Libyen nach Italien, oder von der Türkei nach Griechenland, irgendwie nach Schweden. “8.000 Dollar kostet das. Mindestens.” Er schüttelt schweigend den Kopf.
“Zu gefährlich”, meint er. Er kennt genug Menschen, die es gewagt haben. Bei manchen hat es geklappt. Bei zu vielen nicht.
Aber danach kann er nicht mehr sprechen. Er weiß nicht weiter. Das sieht man in seinen glasigen Augen, aus denen keine Träne herauskommt, an dem rastlosen Bein, den schnellen, abgehackten Sätzen, als schnappe er nach Luft.
Zwei Jahre sei er jetzt hier, im Libanon. „Es gibt keine Arbeit, keine Rechte, keine Zukunft“, sagt er. „Nichts.“ Zu Hause in Syrien nahm er 2012 an einer Anti-Regierungs-Demonstration in einem Vorort von Damaskus teil. Es war die Zeit, als der Aufstand in Syrien sich ausweitete und Rashad von einem Studium der englischen Literatur träumte. Regierungskräfte begannen, Demonstrationen niederzuschlagen. Als Soldaten ziellos in die protestierende Menge schossen, in der Rashad stand, traf eine Kugel sein Bein.
Das Rote Kreuz brachte ihn über die Grenze. “Das Rafik-Hariri-Krankenhaus hier in Beirut ist ein schrecklicher Ort. Sie behandeln Syrer wie Menschen zweiter Klasse.” Kaum im Libanon angekommen, spürte er die Spannungen, die der immense Flüchtlingsstrom aus Syrien im kleinen Nachbarland ausgelöst hat.
Dabei waren damals noch vergleichsweise wenig Syrer im Land. Heute sind 1,2 Millionen, die offiziell bei der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen (UNHCR) registriert sind. Rechnet man die nichtregistrierten dazu, ist die Zahl weitaus höher. Libanesische Behörden schätzen die Zahl der Flüchtlinge inzwischen auf insgesamt rund zwei Millionen Syrer im Libanon – der selbst gerade einmal 5,9 Millionen Einwohner hat.
Plopp. “Ich bin auf der Liste der Armee”, steht auf dem Display von Rashads Smartphone. Will er etwas Komplizierteres sagen, tippt er es hektisch in die Google-Translate-App seines Handys, wenig später ploppt die bröckelige, aber verständliche Übersetzung auf.
Er könnte nicht mehr zurück, selbst wenn er wollte. Er ist einer von vielen jungen Syrern, die ich treffe, die den Wehrdienst aufgrund ihres Studiums oder anderen Gründen verschoben haben und nun vom Militär gesucht werden. Sie werden zwangseingezogen, um für die Regierung von Präsident Baschar al-Assad zu kämpfen.
Rashad hat Angst. Jeder der vielen Checkpoints der libanesischen Armee birgt Gefahren. Die politische Situation im Libanon ist angespannt, noch angespannter als vor dem Krieg in Syrien, der die sowieso existierenden ethnischen Spannungen im Land verschärft hat. Das Land ist ein Pulverfass, in dem bewaffnete Gruppierungen um Einfluss rangeln, vor allem im Grenzgebiet zu Syrien. Von dort schwappt der Konflikt immer wieder herüber. Die Al-Nusra-Front ist im Land, ISIS hat sich in den Bergen der Grenzregion festgesetzt, Hisbollah ist überall im Land stationiert.
Rashad kennt niemanden in Beirut. Seine Familie wohnt in Al-Marj, einem Städtchen in der Bekaa-Ebene im Osten des Landes. Dort verbringt er die Wochenenden, in der Woche arbeitet er in einer Druckerei in Beirut. 300 Dollar im Monat; neun, zehn Stunden am Tag, manchmal auch mehr. Er braucht das Gehalt, um für seine Familie in Al-Marj die Miete zu zahlen.
Geld für ein Bett in Beirut bleibt ihm nicht. “Willst du sehen, wo ich wohne? Komm!” Wenige Minuten, nachdem wir uns an der Promenade niedergelassen haben, steht er wieder auf.
Er wohnt in der Druckerei. Jede Nacht baut er ein Klappbett in den Büroräumen der Firma auf, die sich über drei Kellergeschosse zieht. Die schwere Tür fällt hinter uns zu, als wir die Fabrik betreten, der beißende Geruch von Farbe liegt in der Luft, Fenster gibt es keine.
Der Keller, wo die Drucker stehen, ist sein unterirdisches Reich. Eine große, kühle Halle mit Druckern und Stapeln von Flyern und Postern. In einer Nische steht ein kleiner Fernseher, mit dem er sich die Zeit vertreiben kann. Die Geschäftstoilette am anderen Ende der Fabrik ist sein Badezimmer. Wie ein Phantom haust er hier im Untergrund.
Er setzt sich auf einen klapprigen Schreibtischstuhl. Er sei zu allen Botschaften gegangen, Deutschland, Schweden, Italien, alle hätten ihn abgelehnt. Und hier könne er nicht bleiben.
Im Januar hat sich die Situation für Syrer im Libanon drastisch verschlechtert. Die Regierung reagierte auf den nicht abreißenden Strom von Flüchtlingen, der sich auf das Land auswirkt, vor allem auf die Wirtschaft und die Sicherheit. Seither ist es jedem Flüchtling, der UN-registriert ist, untersagt zu arbeiten, außer er wird von einem Libanesen gesponsert. Die Visumsbestimmungen haben sich geändert: Ab sofort können Syrer nicht wie zuvor ohne Visum einreisen. Sie müssen in einer der Kategorien fallen, für die man eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen kann. Arbeit, Tourismus, oder Studium. Flüchtlinge dürfen seither nicht mehr ohne weiteres arbeiten.
“Die Situation ist nicht gut”, sagt Lisa Abou Khaled, eine Sprecherin des UNHCR. Seit Januar seien im Schnitt 80 Prozent weniger Menschen über die Grenze gekommen als vorher, als noch keine Visumpflicht für Syrer galt. Sie versichert, dass „ein UN-Team an den Grenzübergängen sicherstellt, dass humanitäre Notfälle nicht zurückgewiesen werden“.
Gleichzeitig ist keine Lösung dauerhaft. Es gibt kaum einen Ort im Land, in dem keine syrischen Flüchtlinge wohnen. In Al-Marj, das einst 15.000 Einwohner zählte, haben Syrer mit 16.000 die ursprüngliche Bevölkerung zahlenmäßig schon überholt.
Auch in Beirut ist die Präsenz der Flüchtlinge sichtbar. Überall auf den geschäftigen Straßen sind Kinder und Teenager, die für ein paar Euro Schuhe putzen. Frauen sitzen umringt von ihren Kindern an den Straßenrändern und betteln. Unter der Cola-Brücke, einem der Hauptverkehrspunkte der Stadt, sind Matratzenlager. Syrer sind die neuen Billigarbeiter im Libanon. Das ökonomische Gleichgewicht ist gestört.
Rashad Sadik kann dieses neue Leben noch immer nicht begreifen. Er kommt aus einer wohlhabenden Familie, sein Vater hatte eine gut gehende Süßwarenfabrik und besaß eine Werkstatt. Sie hatten ein großes Haus in einem Vorort von Damaskus. Das Leben war schön.
“Sie waren erfolgreich in ihrem Heimatland - Ärzte, Anwälte, gut verdienende Menschen”, beschreibt Dana Sleiman vom UNHCR das einstige Leben vieler Flüchtlingsfamilien, die die Organisation in den vergangenen Jahren registriert hat. Die Sadiks sind keine Ausnahme. Jetzt machen sie für wenig Geld Arbeiten, die sie sich im Traum nicht hätten vorstellen können.
Der Krieg hat alles umgedreht: Inzwischen ist das Leben, das sie einst kannten, nur noch ein Traum.
Von der libanesischen Hauptstadt Beirut führt eine kurvige Autobahn über die Berge in die Bekaa-Ebene, wo Rashads Familie wohnt. Es ist Frühling, doch die Luft ist noch winterlich kalt und feucht. Vor ein paar Tagen hat es zuletzt geschneit, die Spitzen der Berge sind in Weiß getunkt und in so dichten Nebel eingehüllt, dass man von den Dörfern, die in den tiefen Tälern liegen, nur die Minarette der Moscheen sieht.
Zahlreiche Checkpoints der libanesischen Armee liegen auf dem Weg. Die Präsenz des Militärs ist auffällig, und wird umso sichtbarer, je mehr man sich der syrischen Grenze nähert.
Die Hochebene macht fast den gesamten Osten des Libanon aus – und den Großteil des Grenzgebiets zum Nachbarland Syrien. Sie wird von der Route Damaskus – Beirut durchschnitten. Hier kommen die meisten Menschen an, die dem Bürgerkrieg entfliehen.
Es ist Mittwoch, Rashad ist in Beirut. Mutter, Tante, Vater und seine Schwester Wafiqa sind in der dunklen Wohnung in Al-Marj, die man über eine Feuerleiter erreicht.
Am Steingeländer und über der Eingangstür hängt die Wäsche der Familie, in der Wohnung ist kein Platz. Sie teilen sich zwei Zimmer, eine Küche gibt es nicht. Ein Campingherd und ein paar Kartons stehen als Küchenersatz im engen Flur, darum herum stapeln sich ein paar Töpfe und Teller, den Abwasch machen sie im Bad.
Bis auf Wafiqa, die einen hellgrauen Mantel und ein hellblau-weißes Kopftuch trägt, sind alle in Schwarz gekleidet. Sie hat ein freundliches Gesicht, kindlich rund, strahlende Augen.
Die Stimmung im Raum ist düster. Die Wände sind kahl und dunkel gestrichen, draußen regnet es. Doch dann, als Rashids Vater Mahmoud beginnt, von früher zu erzählen, wirkt es, als erhelle sich der Raum.
“Unser Leben war schön.”
“Wenn Gäste im Haus waren, blieben sie drei Tage. Sie haben gegessen und getrunken und gefeiert.” Bis sie nicht mehr konnten. Mahmoud Sadik wächst, wenn er davon erzählt. Er ist ein stolzer Mann, spricht mit erhobenem Kopf, ruhig und klar.
Das Haus der Sadiks muss sehr groß gewesen sein. 180 Quadratmeter, sagt er. Dazu eine 30 Quadratmeter große Terrasse, ein Pool, ein blühender Garten. Mahmoud Sadik war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Er fuhr ein teures Auto, die Kinder waren versorgt, sie sollten studieren. “Ja, unser Leben war schön”, sagt der 67-Jährige.
“Wir hatten alles, was wir brauchten”, sagt Wafiqa, auch ihr Gesicht blüht auf mit der Erinnerung. An die Schule, ihre Freundinnen, an ihr pink-bronze-farbenes Kinderzimmer. Als halte der Gedanke an die Normalität, den unbeschwerten Alltag, sie alle am Leben.
Doch der Gedanke vermischt sich mit der Erinnerung an die Flucht.
Als der Krieg begann, ging Wafiqa noch zur Schule. „Es war die Zeit der Abschlussprüfungen, als die Schabiha begann, unsere Ausweise zu kontrollieren.“ Sie wurde am Eingang der Schule abgewiesen. Die Familie habe in einem Rebellenviertel gelebt, erklärt Wafiqa. Deshalb wurde ihr der Zutritt zur Schule von der Regierungsmiliz verwehrt.
Zwar griff die Familie nicht zu Waffen, um an der Seite der Aufständischen zu kämpfen. Doch dass Mahmoud Sadik ein Gegner des Präsidenten Baschar al-Assad ist, versucht er nicht zu verbergen.
Wenig später kamen Regierungskräfte ins Viertel und begannen, Regimekritiker zu töten, erzählt der Familienvater. Er spricht von einem Massaker. „Sie hackten meinem Nachbarn vor meinen Augen den Kopf ab.“ Die Familie versteckte sich, das Haus wurde in den Kämpfen getroffen und stürzte ein. Ein paar Tage später konnten sie sich aus den Trümmern befreien. Sie flohen über das Abwassersystem nach Damaskus.
Tränen kullern Wafiqa aus den Augen. Sie versucht, sich zu fassen, tupft sich mit einem Taschentusch die Augen, doch die Traurigkeit geht nicht weg. “Unser Leben war so gut, und jetzt ist alles aussichtslos.”
Auch die 19-Jährige arbeitet jeden Tag, um die Familie zu ernähren. In einem Gemeindezentrum für syrische Flüchtlinge in Al-Marj betreut sie Kinder, die keinen Schulplatz im Libanon bekommen haben. Obwohl sie eigentlich selbst noch zur Schule gehen sollte.
Mehr als 400.000 syrische Kinder im Schulalter halten sich UN-Angaben zufolge derzeit im Libanon auf – das sind mehr als alle libanesischen Kinder zusammen, die derzeit in öffentlichen Schulen angemeldet sind. “Manche sind seit vier Jahren nicht zur Schule gegangen”, sagt Wafiqa. Sie malt und bastelt mit den Kindern. Vertreibt sich und den Kleinen die unendliche Zeit.
100 Dollar verdient sie im Monat. Nicht genug, um die Schule zu beenden, geschweige denn zu studieren. Ihr Traum vom Englisch-Studium ist genauso zerplatzt wie der ihres Bruders Rashad. „Alles ist ein Kampf“, sagt sie. Auch sie spürt die Skepsis der Libanesen. Die Präsenz der fast 16.000 Syrer hat auch in Al-Marj zu Spannungen geführt.
Auch Wafiqa fühlt sich allein. Freunde? All ihre Freunde sind in der Welt zerstreut. Ihre beste Freundin wurde vor ein paar Wochen beim Versuch, illegal von Syrien nach Jordanien zu fliehen, von der Armee aufgegriffen. Seither kommen die Whatsapp- und Facebook-Nachrichten nicht mehr an.
Die ganze Großfamilie, die einst zusammen in Damaskus lebte, ist in verschiedene Länder zersplittert. Ein paar sind in der Türkei, andere in Ägypten, Schweden, Holland, Jordanien, zwei Cousins sind noch in Damaskus. „Das Viertel ist besetzt, es gibt kein Essen und kein Trinken, die Menschen werden verhungern.“
Ein Zurück ist nicht mehr möglich.
Doch ein Vorwärts gibt es auch nicht.
Nach zweieinhalb Jahren sei das ersparte Geld aufgebraucht, sagt Mahmoud Sadik. Er sitzt im Schneidersitz auf einer Matratze.
Sie überlegen, sich ein Stück Land zu mieten und ein Zelt aufzubauen, denn: „Auf Dauer können wir uns die Miete nicht leisten.“ Sie haben sich bereits Geld geliehen, die Schulden können sie nicht zurückzahlen, die Mutter hat Epilepsie. Die Option, in eines der informellen Flüchtlingslager zu ziehen, scheidet aus. Die UN hat ihnen die Unterstützung gestrichen. „Aufgrund der hohen Anzahl an Flüchtlingen können nur noch die dringendsten Fälle Sach- und Bargeldunterstützung erhalten“, informiert Lisa Abou Khaled von den Vereinten Nationen.
“Ich will reisen”, sagt Mahmoud Sadik dann. “Türkei, Griechenland - und dann nach Europa.” Hier habe er nichts mehr, kein Geld, keine Arbeit, kein Geschäft. Und keine Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Hoffnung, dass es in Syrien besser wird, hat er schon lange aufgegeben.
“Zur Not gehe ich zu Fuß”, sagt er. “Und wenn ich dabei sterbe, dann ist das halt so.”
Schlimmer, so scheint es, geht es nicht mehr.
Die Familie Sadik hat sich ausdrücklich gewünscht, dass keine Bilder von ihr gemacht und veröffentlicht werden.
Aufmacherbild: Blick in den Wartebereich des UN-Registrierungszentrums in Zahle. Inzwischen kommen täglich rund 80 Prozent weniger Menschen als vor Januar, als noch keine Visumsbestimmungen für Syrer galten. Foto: Victoria Schneider.
Der Text wurde gesprochen von Alexander Hertel von detektor.fm