Immer wieder überlegt Zora Bobbert: Kann sie das noch mit sich vereinbaren? Müsste sie deshalb nicht aus der SPD austreten? Müsste sie nicht längst sagen: Das kann doch nicht euer Ernst sein! Sie denkt zum Beispiel an das Scholz-Interview, in dem der damalige Bundeskanzler gefordert hat, dass wir „endlich mehr abschieben müssen.“ Oder daran, dass ihre Partei nun Friedrich Merz (CDU) zum Kanzler gewählt hat – den Mann, der eine harte Asylpolitik ab Tag eins versprochen hat. „Aber wenn alle Ordentlichen und Guten gehen, wird es ja auch nicht besser“, sagt die Bezirksvertreterin der SPD in Düsseldorf.
Eigentlich ist Solidarität mit Schwächeren ein Grundwert von sozialdemokratischen Parteien. Menschen wie Zora Bobbert engagieren sich deshalb in der SPD. Trotzdem ließ sich die Partei immer wieder in Regierungsbeteiligungen darauf ein, das Asylrecht zu verschärfen. Teilweise drängte sie auch darauf. Wie kann das sein?
Um das herauszufinden, habe ich mit Wissenschaftler:innen, SPD-Mitgliedern und mit jenen gesprochen, die am Ende tatsächlich aus der Partei ausgetreten sind. Ich habe mir angeschaut, wie plausibel ihre Begründungen für einen härteren Kurs sind – und eine klare Antwort gefunden.
Die SPD bekommt Druck aus den Kommunen – alles lässt sich damit aber nicht erklären
Die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch sagt, die SPD trage geplante Verschärfungen in der Flüchtlingspolitik wegen realer Probleme auch mit Blick auf die Integration mit. 2024 wurden beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 250.945 Anträge auf Asyl gestellt. „Die Kommunen stehen unter Druck und fordern eine restriktivere Flüchtlingspolitik“, sagt sie.
Schaut man sich aber an, was die Kommunen selbst sagen, ist das Ergebnis nicht so eindeutig. Das Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration (DESI) hat knapp 600 Kommunen zwischen August und September 2024 befragt: Es fehlt an Schlafplätzen, Sprachkursen, psychosozialer Betreuung und für die Kinder an Plätzen in Schulen und Kitas.
Doch rund die Hälfte der Kommunen sehen die Situation als herausfordernd, aber machbar an. Nur fünf Prozent sagen, sie seien überlastet, im Notfallmodus, wenn es um die Unterbringung von Geflüchteten gehe. Etwa ein Drittel ist am Limit, im Krisenmodus. Der Sozialwissenschaftler Marcus Engler findet es deshalb falsch, alle Kommunen als überlastet darzustellen. Er sagt: Ja, es gebe Engpässe und starke Belastungen, aber es kämen seit einem Jahr deutlich weniger Menschen nach Deutschland. Zudem könne man die Aufnahmestrukturen besser finanzieren und organisieren. Nancy Faeser (SPD) hat in ihrer Amtszeit als Bundesinnenministerin der Ampelregierung irreguläre Migration deutlich reduziert. Die Anzahl der Asylerstanträge ist im vergangenen Jahr um fast 100.000 auf knapp 230.000 zurückgegangen.
Nadja Sthamer ist Lokalpolitikerin in Leipzig, sie ordnet sich dem linken Flügel der SPD zu. Sie erinnert sich noch gut an die sogenannte „Flüchtlingskrise“ von 2015/2016. Damals kamen doppelt so viele Asylbewerber:innen in die EU wie in den Jahren zuvor. Es habe ein Gemeinschaftsgefühl gegeben: „Wir haben überall angepackt.“ Für sie war Angela Merkels (CDU) „Wir schaffen das“ ein brillanter Satz, nach dem sich die Politik ausgerichtet habe. So ein breites zivilgesellschaftliches Engagement für Geflüchtete gebe es heute nicht mehr. Die Folgen: 14 Prozent der Geflüchteten fehlen laut einer Studie des BAMF enge Bezugspersonen, sie fühlen sich einsam und sind sozial isoliert.
Die Ampelregierung hatte noch dazu vorgesehen, die Ausgaben für Integrationskurse um 500 Millionen Euro zu kürzen. Es ist recht unwahrscheinlich, dass der Haushalt der neuen Regierung diese Kürzungen zurücknimmt. Es stimmt also, viele Kommunen haben Probleme, den Geflüchteten das zu geben, was sie brauchen. Aber diese Engpässe sind auch eine politische Entscheidung.
Der Sozialstaat ist sowieso schon unter Druck
Nach außen hüten sich SPD-Politiker:innen, den härteren Kurs gegen Geflüchtete damit zu erklären, dass diese den Sozialstaat belasten. So sagte die SPD-Politikerin Dagmar Schmidt im Februar 2025: „Dieses perfide Spiel, Bürgergeldempfänger gegen Geringverdienende oder Geflüchtete gegen Einheimische auszuspielen, ist nicht nur zynisch, es gefährdet den gesellschaftlichen Frieden.“
Aber wenn man sich das Handeln der SPD anschaut, kann man trotzdem den Eindruck gewinnen, sie wollen den Sozialstaat verteidigen, indem sie die Leistungen für Geflüchtete kürzen. So führte die Ampel 2024 die umstrittene Bezahlkarte ein, mit der Geflüchtete nur noch beschränkt Geld abheben oder ins Ausland überweisen können.
Tatsächlich steht der Sozialstaat unter Druck. 20 Prozent der deutschen Bevölkerung sind von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen. Die Bundesregierung verfehlt ihr Ziel von 400.000 neuen Wohnungen seit Jahren. Und ob es Kinder aus ärmeren Verhältnissen aufs Gymnasium schaffen, hängt davon ab, in welchem Bundesland sie leben. Dabei ist doch Aufstieg durch Bildung eines der sozialdemokratischen Kernthemen.
Die SPD hat in den vergangenen 25 Jahren fast immer mitregiert. Gleichzeitig haben die Verteilungskämpfe zugenommen. Das zeigt die intensive Debatte um das Bürgergeld, seit es wegen der hohen Inflation 2024 sprunghaft angestiegen war. Die nächste SPD-Arbeitsministerin Bärbel Bas wird laut Koalitionsvertrag das Bürgergeld wieder abschaffen und die Bedingungen für Arbeitslose verschärfen. So verabschiedet sich die SPD von ihrem Abschied von Hartz IV.
Dass ukrainische Geflüchtete Bürgergeld statt Asyl-Leistungen erhalten, empfinden einige als besonders ungerecht. Aber als Ukrainer:in in Deutschland einen Job zu bekommen, ist gar nicht so leicht. Den meisten Geflüchteten fehlt es bei ihrer Ankunft an Sprachkenntnissen, oft werden ihre Abschlüsse nicht anerkannt. In Anbetracht dessen ist es eine Leistung, dass rund 249.000 Ukrainer:innen in Deutschland Arbeit gefunden haben. Und die Zahl steigt kontinuierlich an. Im Vergleich zum Vorjahr sind knapp 40 Prozent mehr Ukrainer:innen in Arbeit. Viele von ihnen haben mittlerweile einen Integrationskurs abgeschlossen.
Die neue schwarz-rote Regierung will die Regel für neu-ankommende Ukrainer:innen ändern. Sie sollen nicht mehr Bürgergeld bekommen, sondern die niedrigeren Beträge nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Die wurden 2025 im Vergleich zum Vorjahr abgesenkt, nun liegen sie bei 441 Euro, die Miete wird in manchen Fällen gesondert übernommen. Davon kann und will niemand auf Dauer leben.
Diese Zahlen geraten jedoch in der öffentlichen Debatte in den Hintergrund, etwa wenn Bundeskanzler Friedrich Merz gegen Ausländer wettert, die einem die Termine beim Zahnarzt wegnehmen würden. Oder wenn Alexander Dobrindt (CDU), Bundesinnenminister in der neuen Regierung, sagt, dass die Belastungsobergrenze für Deutschland überschritten sei. Und so steigt der Druck immer weiter, Leistungen für Geflüchtete weiter zu kürzen. Und die SPD beugt sich.
Die Stimmung in der Bevölkerung ist angespannt
Auch die Anschläge von Magdeburg und Aschaffenburg haben die Stimmung weiter aufgeheizt. Die Täter: Menschen mit Migrationshintergrund. Nancy Faeser, Innenministerin unter Olaf Scholz, bemängelte nach dem Anschlag in Aschaffenburg, dass es zu wenig Abschiebehaftplätze gebe.
Das ist ein klassisches Muster innerhalb der SPD: Wenn es zu Gewalttaten kommt, wird der Ruf nach einer härteren Migrationspolitik lauter. Dabei muss die Gewalt gar nicht von Migrant:innen ausgehen.
In den 1990er Jahren haben die Sozialdemokraten das Asylrecht erstmals stark eingeschränkt, wegen Angriffen auf Asylunterkünfte. Damals verdoppelte sich die Zahl der Asylbewerber:innen in Folge der Jugoslawienkriege. In Rostock-Lichtenhagen kam es zu fremdenfeindlichen Übergriffen auf die Aufnahmestelle für Asylbewerber:innen und ein Wohnheim für Vietnames:innen. An den Ausschreitungen beteiligten sich mehrere hundert Rechtsextreme. Bis zu 3.000 Zuschauer:innen applaudierten ihnen und behinderten so den Einsatz von Polizei und Feuerwehr.
Die Regierungsparteien Union, SPD und FDP sahen sich zum Handeln gezwungen und verschärften das Asylrecht.
Damit ließen sie sich von der gesellschaftlichen Stimmung treiben. Anstatt gegen rechte Strukturen vorzugehen, legten SPD, Union und FDP in den 1990er Jahren den Grundstein für eine Asylpolitik, die mit immer neuen Restriktionen auf den wachsenden Druck innerhalb der Gesellschaft reagiert.
Mit der Änderung des Asylrechts ging die Zahl der Antragsteller:innen zunächst stark zurück, es kam zu mehr Abschiebungen. Der „Erfolg“ blieb jedoch aus, denn die Zahl der Anschläge auf Geflüchtetenunterkünfte hielt sich nach wie vor auf einem hohen Niveau.
Auch heute bringt die migrationskritische Stimmung SPD-Politiker:innen dazu, bei dem Thema nach rechts zu rücken. Doch auch wenn die einzelnen Angriffe schrecklich sind: Die Wahrnehmung trügt, dass mehr Migration zu mehr Gewalt führen würde. Zu diesem Ergebnis kommt auch das Münchner Ifo-Institut. Trotzdem behauptete die damalige Bundesinnenministerin Faeser 2023 das Gegenteil, als sie die neue Kriminalitätsstudie vorstellte. Sie orientiert sich also mehr an der Stimmung als an den Fakten. Die SPD-Politikerin Nadja Sthamer sagt: „Faeser öffnet Tür und Tor, Fremdenfeindlichkeit Raum zu geben und sie zu reproduzieren.“ Die Geschichte zeigt: Das passiert der SPD nicht zum ersten Mal.
Die SPD will der AfD nicht die eigenen Wähler:innen überlassen
Kommen wir zum Elefanten im Raum: der AfD. Sie erreichte bei der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 20,8 Prozent der Stimmen. Die SPD rutschte von 25,7 Prozent auf 16,4 Prozent ab.
Die SPD hat Arbeiter:innen an die AfD verloren. Also an die Partei, unter deren neoliberaler Politik Arbeiter:innen am meisten leiden würden, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) analysiert hat. Trotzdem wählen viele die AfD, weil sie frustriert, wütend oder unzufrieden mit der Migrationspolitik der SPD sind.
Nach Einschätzung der Politikwissenschaftlerin Ursula Münch macht die SPD-Spitze deshalb Zugeständnisse. Sie versuche demnach, Asylleistungen einzuschränken und verspreche, die nichtberechtigten Schutzsuchenden abzuschieben. „Wenn wir nicht wollen, dass wir den Rechtsextremisten das Thema überlassen, müssen wir selbstverständlich bereit sein, auch eine konsequente Abschiebungspolitik zu machen“, sagt Münch.
In der SPD ist das umstritten. Denn Politiker:innen vom linken Flügel vermuten, dass die AfD Deutschland komplett gegen Asylbewerber:innen abschotten will – ein Ziel, das keine demokratische Partei umsetzen kann.
Sozialwissenschaftler Marcus Engler bezeichnet die Politik der SPD als unklug und zum Teil weltfremd. Die Sozialdemokraten unter Scholz wollten Handlungsfähigkeit demonstrieren in der Hoffnung, dass das Thema Migration aus den Schlagzeilen verschwindet, die Menschen dann nicht mehr die AfD wählen und sie wieder sozialdemokratische Politik machen könnten. Ein Trugschluss.
sAuch im Hinblick auf die neue Regierung befürchtet Engler eine Fortsetzung dieser fehlerhaften Strategie. „Wenn ich solche realpolitisch unrealistischen Versprechen in den Raum stelle, wie die systematische Zurückweisung aller Schutzsuchenden an den Grenzen, ist das der vorprogrammierte Dauerstreit innerhalb Deutschlands und mit den Nachbarstaaten. Das geht zwar vor allem von der Union aus, die SPD trägt es aber weitgehend mit“, sagt er. Davon profitiere dann wiederum die AfD.
Das zeigt die politikwissenschaftliche Forschung eindeutig. Eine Studie untersuchte jüngst, wie es sich auf Wahlergebnisse von Partei auswirkt, wenn sie rechte Forderungen unterstützen. Das Ergebnis: Es gibt keine Hinweise, dass deshalb weniger Menschen rechtspopulistische Parteien wählen würden. Innerhalb der SPD kennt man diese und ähnliche Studien. Doch es habe kaum Räume gegeben, ernsthaft zu diskutieren, sagt Engler. „Generell haben ich und viele meiner Kolleg:innen den Eindruck, dass wissenschaftliche Evidenz nicht wirklich ernst genommen wird. Am Ende haben sich Leute wie Olaf Scholz durchgesetzt, die die Ansicht vertreten haben, ein sehr restriktiver Kurs sei der richtige, egal was Wissenschaftler:innen sagen.“ Kurzfristig erscheint es der SPD-Spitze also wichtiger, auf den Druck von rechts zu reagieren, als auf solche Studien zu hören.
Und die Positionen der Rechten werden radikaler: Vor ein paar Jahren hätte sich die AfD noch nicht getraut, Remigration in ihr Wahlprogramm zu schreiben. Viele der Pegida-Forderungen von 2014 klingen heute fast harmlos. Auch die SPD hat sie inzwischen teilweise übernommen, wie eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Straftätern oder eine konsequente Abschiebungspolitik. Die SPD lässt sich also von der gesellschaftlichen Stimmung und der AfD treiben.
Die SPD-Lokalpolitikerin Zora Bobbert hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Sie wünscht sich von ihrer Partei eine menschenrechtskonforme Antwort auf die Flüchtlingsfrage. „Wir sollten Geflüchtete schneller arbeiten lassen, statt ihnen Steine in den Weg zu legen.“ Denn dann wären sie auch weniger auf Sozialleistungen angewiesen und könnten so den Staat mit entlasten.
Redaktion: Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger