Ado blickt ernst in die Kamera, er hat den Kopf voller Locken und trägt ein fliederfarbenes Hemd.

Foto: Mario Ilić

Flucht und Grenzen

Ado, wie vergibt man die Ermordung von 35 Familienmitgliedern?

Vor rund 30 Jahren wurden beim Genozid von Srebrenica mehr als 8.000 Menschen getötet. Der Filmemacher Ado Hasanović erlebte den Bosnienkrieg als Kind. Von ihm wollte ich wissen: Wie geht Vergebung?

Profilbild von Esther Göbel
Autorin

Ich treffe Ado Hasanović in Berlin, wo er zu Besuch ist. Eigentlich lebt er in Rom. Vor mir sitzt ein freundlicher Mann, der immer wieder herzlich lacht während des Interviews, der ruhig und einfühlsam spricht. Ado, heute 38, war noch ein Kind, als der Krieg in seinem Dorf in Bosnien-Herzegowina ankam. Ein Krieg, in dem zwischen 1992 und 1995 rund 100.000 Menschen getötet wurden. Die meisten davon waren muslimische Bosniaken – es war der größte Völkermord in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Zwei bis drei Millionen Menschen flohen, zwischen 20.000 und 50.000 erlitten sexualisierte Gewalt. Ado verlor 35 Familienmitglieder.

Ich wollte von Ado wissen, ob und wenn ja, wie man die Ermordung von 35 Familienmitgliedern verzeihen kann – und ob für ihn heute trotz allem ein gutes Leben möglich ist. Mit diesem Interview setze ich meine Gesprächsreihe über das gute Leben fort.


Ado, wann hast du das letzte Mal an den Krieg gedacht?

Gestern. Weil ich mit zwei Freund:innen aus Serbien über den Krieg gesprochen habe, beziehungsweise über seine Konsequenzen. Etwa, dass Serbien den Genozid von Srebrenica leugnet. Es ist unmöglich für mich, nicht darüber zu sprechen.

Wie alt warst du, als der Krieg in Bosnien ausbrach?

Sechs Jahre. Mein Dorf wurde am 9. Mai 1992 überfallen – vier Tage nach meinem Geburtstag.

Wie war das Leben vor dem Krieg?

Das Dorf, in dem wir lebten, heißt Glogova. Es liegt in der Nähe von Srebrenica, wo ich geboren wurde. Damals hieß das Land, in dem wir lebten, noch Jugoslawien. An die Zeit vor dem Krieg habe ich nur schöne Erinnerungen. Ich weiß noch, wie ich immer mit dem Ball draußen spielte. Vor unserem Haus, etwa 20 Meter entfernt, verlief ein Fluss. Wir Kinder waren viel draußen. Wir hatten ein großes Haus, meiner Familie ging es finanziell sehr gut. Mein Vater arbeitete als Taxifahrer, immer, wenn er nach Hause kam, brachte er meinem jüngeren Bruder, mir und meiner älteren Schwester etwas mit, Kekse oder eine Wassermelone. Und ich erinnere mich noch daran, wie wir zuhause Videokassetten schauten. Wir besaßen neben dem Rekorder noch einen Farbfernseher. Das war damals, in den Neunzigerjahren, etwas Besonderes. Meine Eltern waren noch sehr jung: Mein Vater 30 Jahre alt, meine Mutter erst 27. Es war ein wundervolles Leben, es ging uns gut.

Und dann wurde dein Dorf angegriffen im Mai 1992.

Wir müssen weiter zurückgehen: Ab November 1991 schliefen wir nachts in einem Haus in den Bergen, zur Sicherheit. Weil es im September nicht weit von unserem Dorf entfernt einen Überfall auf vier junge bosnische Männer gegeben hatte. Einer von ihnen stammte aus meinem Dorf. Zwei der vier wurden getötet. Damit eskalierte die angespannte Lage, die Menschen waren verunsichert und hatten Angst, wir auch. Als dann im Mai 1992 serbische Truppen unser Dorf überfielen, war klar, dass wir fliehen mussten. Die Serben brannten noch am Tag des Überfalls unser Dorf nieder; ab diesem Tag waren wir Geflüchtete, und dieser Zustand hielt für rund zehn Jahre an. Wir flohen aus dem Haus in den Bergen durch die Wälder weiter von Dorf zu Dorf. In dieser Zeit haben wir unsere Identität verloren. Wir wussten nicht mehr, wer wir waren. Bosnien-Herzegowina hatte im März 1992 seine Unabhängigkeit erklärt, seit 1991 gab es Jugoslawien offiziell nicht mehr. Aber wir wussten nicht, was das heißen soll. Wir fühlten uns als Jugoslawen. Und ich fühle mich bis heute so.

Wann wurde deine Familie getrennt?

Im Jahr 1993. Nachdem wir etwa ein Jahr von Dorf zu Dorf gezogen waren, immer in Bewegung, nie mit einem Gefühl der Sicherheit, beschloss mein Vater, uns Kinder gemeinsam mit unserer Mutter mittels eines UN-Konvois nach Tuzla zu schicken. Die Stadt wurde im Krieg von der bosnischen Regierungsarmee dominiert und verteidigt, außerdem hatte die UN sie 1993 zur Schutzzone erklärt, weswegen sie für uns als relativ sicher galt. Mein Vater durfte nicht mitkommen, weil Männer Srebrenica nicht verlassen durften. Die Trennung war natürlich sehr schmerzhaft. Und in Tuzla war es hart: In dem Haus, in dem meine Mutter und wir Kinder unterkamen, gab es nichts. Wir lebten dort mit bis zu 17 Menschen zusammen, es war total überfüllt. Unser Zimmer hatte kein Fenster.

Wie war diese Zeit für dich?

Ich war damals sehr verängstigt, wollte nicht in die Schule gehen, rannte weg. Meine Mutter lief hinter mir her und schrie, sie würde sich vor einen LKW werfen, wenn ich nicht endlich in die Schule gehen würde. Ich hatte nur meine Geschwister zum Spielen. Wir durften uns nicht weit vom Haus wegbewegen, wegen der Minen, die überall lagen. Ich hatte keine coolen Klamotten, anders als die Kinder in der Schule, die aus Tuzla stammten. Es war ein sehr limitiertes Leben. Was ich besonders vermisst habe, war Licht.

Wie meinst du das, Licht?

Wir hatten keine Elektrizität, von 1992 bis 1995. Drei Jahre lang! Ich hasse Kerzen, immer noch. Ich kaufe nie welche (er lacht).

Hattet ihr in dieser Zeit Kontakt zu deinem Vater?

Nur durch Briefe, die über das Rote Kreuz übermittelt wurden. Einen habe ich bis heute aufbewahrt.

Was steht drin?

Ich war gerade eingeschult worden, aber ich mochte die Schule nicht. Als Flüchtlingskind fühlte ich mich wie ein Außenseiter. Die anderen Kinder, die nicht geflüchtet waren, lachten über mich. Mein Vater schrieb mir, dass ich mich anstrengen und mir Mühe geben solle. Damals waren wir schon seit zwei Jahren von ihm getrennt, wir sahen ihn nicht. Aber ich habe immer daran geglaubt, dass er zurückkommen würde.

Wie war es, als ihr euch dann schließlich wiedergesehen habt?

Ich erinnere mich noch genau: Er hatte längere Haare als früher, einen Zopf. Und er trug ein T-Shirt. Er war sechs Tage lang durch die Wälder marschiert, um von Srebrenica nach Tuzla zu kommen, er muss zu Tode erschöpft gewesen sein. Ich rannte auf ihn zu, er nahm mich fest in den Arm. Wir sagten nicht viel. Aber er war moj babo, mein Vater.

Im Juli 1995 überfielen serbische Truppen Srebrenica und ermordeten in wenigen Tagen rund 8.000 muslimische Jungen und Männer. Ado Hasanovićs Vater Bekir überlebte und konnte aus Srebrenica fliehen. Während der Kriegsjahre führte er Tagebuch, per Video und durch handschriftliche Notizen. Ado verarbeitete die Aufzeichnungen des Vaters zu einem Dokumentarfilm, der im vergangenen Jahr Premiere feierte: „My Father’s Diaries“.

Über die ganze Fläche des Fotos erstreckt sich ein Meer aus kleinen, weißen Grabsteinen. Im Hintergrund sind ein Wald und Berge zu erkennen.

Die Srebrenica-Gedenkstätte und der Friedhof der Opfer des Genozids. Adnan Vejzovic/Getty Images

Wie hat dein Vater es geschafft, aus Srebrenica rauszukommen?

Er floh durch die Wälder, was sehr gefährlich war. Er war einer von 12.000 bis 15.000 muslimischen Bosniern, die so versuchten zu entkommen. Nur rund 6.000 Menschen überlebten. Er erzählte mir später: „Man durfte während des Laufens keine Emotionen haben. Man musste einfach weitergehen, immer weiter.“ Sechs Tage lang, während um ihn herum Granaten fielen und sie Todesangst vor den serbischen Truppen hatten. Dieser Marsch hat meinen Vater bis ans Ende seines Lebens traumatisiert.

Wir war es nach dem Krieg in eurer Familie?

Meine Eltern kehrten erst 2001 nach Glogova zurück. Fast zehn Jahre, nachdem wir unser Zuhause verlassen hatten. Alles war niedergebrannt, das Land verlassen, es sah aus wie in einer Geisterstadt. Meine Geschwister und ich blieben damals zunächst in Tuzla, wo wir zur Schule gingen, während meine Eltern in Glogova versuchten, unser Haus wieder aufzubauen. Wir hatten kaum Geld, lebten von Tag zu Tag. Immer mit dem Traum, wieder den Zustand vor dem Krieg zu erreichen.

Habt ihr in der Familie über das gesprochen, was ihr erlitten hattet?

Nein. In der ländlichen Region, aus der ich stamme, redet man nicht über solche Dinge; eine Familie zeigt nach außen ihre Probleme nicht, die Nachbarn könnten ja was Schlechtes denken. Wenn man sich im Dorf trifft, sagen die, die den Krieg miterlebt haben, heute vielleicht Dinge wie: „Weißt du noch, wie damals die Granaten auf uns fielen?“ Es gibt ein stilles Verständnis. Oder man macht Witze über das, was passiert ist. Vielleicht könnte man das als typisch bosnischen Humor beschreiben. Aber meine Mutter hat bis heute meinen Film nicht gesehen. Allerdings hat sie kürzlich zu mir gesagt: „Ich sollte auch anfangen, meine Erinnerungen aufzuschreiben. Um all die schlimmen Dinge zu benennen, die hinter mir liegen.“

Welchen Einfluss haben der Krieg und die Zeit danach auf dich gehabt?

Ich befand mich lange Zeit im Überlebensmodus – bestimmt zehn Jahre lang. Dieses Gefühl der permanenten Unsicherheit, auch der Armut, wurde für mich der Normalzustand. Selbst nachdem der Krieg vorbei war. Mir fiel es schwer, mich an einen geregelten Alltag zu gewöhnen und meine Gefühle meinen Eltern gegenüber auszudrücken. Die Angst vor Verlust und die ständige Unsicherheit blieben über viele Jahre. Genauso wie das Trauma von Vertreibung und Hunger.

Wenn wir jetzt über den Krieg sprechen, wirkst du sehr klar und gefestigt, manchmal lachst du sogar. Was hat dir geholfen, an diesen Punkt zu kommen?

Die Distanz, die ich von Rom aus zu Bosnien-Herzegowina habe, hat mir sehr geholfen. Aber auch, den Film über meinen Vater zu drehen, mich mit dem Material auseinanderzusetzen. Bis dahin war ich vor meiner eigenen Geschichte immer weggelaufen. Aber als ich 2017 anfing, den Film zu machen, habe ich mich mit meinen Eltern hingesetzt und eine Liste geschrieben mit all unseren Verwandten, die zwischen 1992 und 1995 ermordet wurden oder noch als vermisst gelten. Ich habe Vornamen und Nachnamen aufgeschrieben, es ist eine lange Liste. Bis heute gelten der Vater meiner Mutter und ihr Stiefbruder als vermisst.

Hast du den Tätern vergeben?

Ich bin Muslim und glaube an einen Schöpfer. Sogar unser Prophet Mohammed sagt: „Die Größten unter euch sind die, die vergeben.“ Aber wie könnte ich den Tätern vergeben, die heute noch frei herumlaufen und mit ihrer Propaganda im Fernsehen und Radio die nächste Generation vergiften? Gleichzeitig glaube ich, dass ich vergeben habe. Ich kenne wundervolle Menschen aus Serbien, habe serbische Freunde. Und mit meinem Filmfestival, das im Juli zum zweiten Mal in Srebrenica stattfinden wird, möchte ich Menschen durch Kultur zusammenbringen – Serben, Kroaten und bosnische Muslime. Es ist meine Investition in die Zukunft.

Könnte man sagen, du hast teilweise vergeben?

Ich glaube, Vergebung kennt kein „teilweise“. Entweder du vergibst oder nicht. Im Vorfeld unseres Gesprächs habe ich viel über diese Frage nachgedacht. Hätte man mich vor ein paar Jahren gefragt, hätte ich zu 100 Prozent gesagt: „Ich kann nicht vergessen und auch nicht vergeben.“ Aber jetzt denke ich, habe ich vergeben.

Was hat sich in den vergangenen Jahren geändert?

Ich bin erwachsen geworden. Habe gelernt zu akzeptieren, wer ich bin genauso wie meine eigene Geschichte. Ich will glücklich sein. Und in innerem Frieden leben. Es geht auch darum, sich ein Stück weit von der eigenen Vergangenheit zu befreien.

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Bedeutet vergeben, zu vergessen, was geschehen ist?

Nein. Genau das ist der Punkt: Man sollte sich erinnern. Und über das Vergangene sprechen. Das, was passiert ist, ist meine Geschichte, auch meine Realität. Aber ich will mich nicht nur mit meiner Vergangenheit und dem ganzen Schmerz beschäftigen. Ich lebe auch im Jetzt. Selbst mein Vater hat in seinem Videotagebuch im Krieg auch das Leben festgehalten, zum Beispiel, wenn er und seine Kumpels Scherze machten und Sketche aufführten. Ich möchte das auch, das Leben abbilden. Damit ehre ich auch meinen Vater.

Was hat er zu deinem Film gesagt?

Leider konnte er ihn nicht sehen; er ist 2020 verstorben.

Wie sehr hat dir dein Film bei der persönlichen Aufarbeitung geholfen?

Er war wie eine Therapie für mich. Ich habe von 2017 bis 2023 an dem Film gearbeitet. In dieser Zeit habe ich sehr viel über meine Familie gelernt, auch über Bosnien und Herzegowina und natürlich über den Krieg. Seit ich den Film gemacht habe, schlafe ich besser – sogar ohne, dass ein kleines Licht in meinem Zimmer angeschaltet sein muss. Ich habe weniger Albträume als früher. Vor dem Film habe ich jahrelang davon geträumt, dass der Krieg erneut beginnen würde, wieder und wieder.

Hast du zu irgendeinem Zeitpunkt eine professionelle Psychotherapie gemacht, um das Vergangene aufzuarbeiten?

Nein, nie. Diese Möglichkeit existierte nicht in meinem Kopf. Aber 2015, als ich schon in Italien war, baten mich einige Leute von der Uni, zum 20-jährigen Kriegsende ein paar Worte zu sprechen und von meinen eigenen Erfahrungen zu erzählen. Zunächst dachte ich: „What the fuck, was soll ich denn zu sagen haben?!“ Zuhause war ich mit dem Gedanken erzogen worden: „Sch…, sch…, wir reden nicht!“ Aber ich hielt die Rede. Anschließend kamen ein paar Leute zu mir und fragten: „Können wir dir die Hand schütteln?“ Diese Geste war sehr wichtig für mich. Da habe ich verstanden: Meine Erinnerungen sind wichtig.

Es gibt allerdings immer noch Menschen, die die Erinnerungen nicht würdigen oder die sogar den Genozid von Srebrenica leugnen. Ratko Mladić, ehemaliger bosnisch-serbischer General, der im Juli 1995 das Kommando über die serbischen Truppen in Srebrenica führte und später als Kriegsverbrecher verurteilt wurde, wird vielerorts in der Republika Srpska als Held verehrt. Das fasst dich nicht mehr an?

Menschen, die auf serbischer Seite den Genozid verneinen, sind sehr oft beeinflusst von den Kriegsverbrechern von damals. Ich kann es sofort fühlen, wenn ich auf eine Person treffe, die so über Srebrenica denkt. Ich kann mich nicht lange mit einer solchen Person unterhalten. Es kommt mir vorwie Zeitverschwendung. Aber natürlich muss man Wege finden, auch mit solchen Leuten zu sprechen. Vielleicht lernen sie durch das Gespräch etwas. Aber es ist schwer für mich.

Hasst du die Serben für das, was sie dir und deiner Familie angetan haben?

Nein. Ich hasse niemanden, auch meine Familie hasst niemanden. In Bratunac, einer Kleinstadt in der Nähe von Glogova, leben seit dem Krieg vorwiegend Serben. Viele meiner Verwandten wurden dort ermordet. Es gibt in Bratunac ein Fitnessstudio, das einzige weit und breit. Vor zwei Jahren dachte ich: „Wieso gehe ich da nicht mal hin?“ Ich hatte immer Vorurteile und dachte: „Ich werde da der einzige Bosniake sein!“ Aber dann ging ich hin. Weil ich mich entschieden habe, entgegen aller Vorurteile zu leben. Im Fitnessstudio traf ich sogar ein paar Menschen, die ich kannte. Es war alles in Ordnung. Ehrlich gesagt: Es war wundervoll.

Würdest du dich heute als eine traumatisierte Person bezeichnen?

(Überlegt länger.) Nein, ich glaube nicht. Ich würde mich unwohl fühlen, Menschen zu treffen, die die Fakten zum Krieg in Bosnien und Herzegowina und den Genozid von Srebrenica nicht anerkennen. Das ist ein schwieriges Thema für mich. Aber durch den Film meinen Schmerz zu zeigen, hat mir sehr geholfen, mein Trauma zu verstehen – und es loszuwerden.


Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert

Ado, wie vergibt man die Ermordung von 35 Familienmitgliedern?

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