An die ganz bekannten Fälle erinnern wir uns: die Angriffe auf den jüdischen Supermarkt in Paris, die Attentate in Kopenhagen und Brüssel. Aber was ist mit dem Rabbi, der im November in Antwerpen niedergestochen wurde? Den Molotowcocktails, die eine Synagoge in Wuppertal trafen? Die Schweineköpfe, die an jüdische Einrichtungen in Rom geschickt wurden? Was ist mit dem verschandelten Friedhof im norwegischen Trondheim? Mit dem Flaschenwurf auf einen Rabbi in Schweden? Den jüdischen Schülern, die einen Sportartikelladen in England nicht betreten durften?
Die Vorfälle, die nicht so spektakulär sind, gehen unter im täglichen Nachrichtenstrom. Dennoch verfolgen sie einige Beobachter aufmerksam. Der angesehene US-Autor Jeffrey Goldberg etwa stellt in der aktuellen Ausgabe des Atlantic die Frage: “Ist es Zeit für die Juden, Europa zu verlassen?” Newsweek griff das Thema schon im August auf, und die französische Gemeinde debattiert nicht erst seit den Paris-Anschlägen über die Immigration nach Israel oder in die USA.
Es wirkt so, als seien die europäischen Länder in den vergangenen Jahren judenfeindlicher geworden? Stimmt das? Und was ist mit Deutschland?
Auf jeden Fall ist Antisemitismus ein europaweites Phänomen. Diese Karte macht das Ausmaß deutlich:
Deutschland scheint vergleichsweise gut dazustehen. Aber hier sind die antisemitischen Gewalttaten (gegen Personen) und die antisemitischen Straftaten (gegen Sachen) bei leichter Abwärtstendenz konstant geblieben, seit das Bundeskriminalamt 2001 damit begonnen hat, diese Vorfälle zu zählen.
Allerdings sind die Zahlen des Bundesinnenministeriums sehr ungenau und wenig verlässlich. Die vom Berliner Senat finanzierte Informationsstelle Antisemitismus hat allein für 2014 in Berlin 70 zusätzliche antisemitische Vorfälle gegenüber den von der Polizei registrierten 192 Straftaten gezählt. Jüdische Europäer, die 2012 von der Europäischen Agentur für Grundrechte befragt wurden, bestätigen, dass die Dunkelziffer viel höher liegen muss. 77 Prozent von ihnen gaben an, bereits einmal antisemitisch angegangen worden zu sein ohne den Vorfall anschließend zu melden.
Die Ergebnisse einer anderen Studie scheinen dazu nicht ganz zu passen. Die Rechtsextremismusforscher Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler von der Universität Leipzig erforschen im Zwei-Jahres-Rhythmus die rechtsextremen Einstellungen der Deutschen. Dabei schauen sie auf die “Dimension Antisemitismus”. Glaubt man diesen Zahlen, sind die Deutschen heute weniger antisemitisch als 2002.
Mitglieder finden die Rohdaten und Grafiken dieses Artikels in der Anmerkung rechts.
Allerdings schrieb mir einer der Forscher, Oliver Decker: “Die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen nimmt ab. Die Einstellung selbst verändert sich aber nicht unbedingt, wir gehen davon aus, dass Einstellung ein sehr stabiles Orientierungsmuster ist.” Die Forscher nehmen an, dass ein antisemitisches Weltbild bei einem Menschen nicht einfach so verschwindet. “Wenn wir eine antisemitische Einstellung messen, liegt sie vor. Wenn wir sie nicht messen, heißt es aber nicht, dass sie nicht vorliegt.”
Decker und seine Kollegen widmeten sich 2012 in einer anderen Studie auch dem so genannten “sekundären Antisemitismus”, der sich mit Schuld, Holocaust und Deutschland auseinandersetzt. Hier sind die Werte deutlich höher als beim “primären Antisemitismus”, also offener Judenfeindschaft. Der Aussage “Die Juden nutzen die Erinnerung an den Holocaust heute für ihren eigenen Vorteil aus” stimmen fast ein Drittel der Befragten überwiegend oder voll und ganz zu.
Antisemitismus zu definieren ist keine leichte Aufgabe, deswegen sind auch entsprechende Anschuldigungen gefährlich. Dennoch haben sich Experten weltweit auf Aussagen geeinigt, die als antisemitisch zu werten sind.
Die Antidiffamierungsliga (ADL) glaubt, dass ein Antisemit sei, wer sechs der folgenden Statements zustimmt.
- Juden sind loyaler gegenüber Israel als [dem Land, in dem sie leben].
- Juden haben zu viel Macht über die internationalen Finanzmärkte.
- Juden haben zu viel Macht über die internationalen Angelegenheiten.
- Juden glauben, dass sie besser als andere Menschen seien.
- Juden haben zu viel Macht über die globalen Medien.
- Juden sind verantwortlich für die meisten Kriege in der Welt.
- Juden haben zu viel Macht in der Geschäftswelt.
- Juden kümmern sich nicht darum was jemandem zustößt, wenn er kein Jude ist.
- Die Menschen hassen die Juden wegen deren Verhalten.
- Juden haben zu viel Macht über die US-Regierung.
- Juden reden zu viel darüber, was ihnen im Holocaust geschehen ist.
In Diskussionen tauchen auch immer wieder Variationen des folgenden Argumentes auf: “Israel darf man nicht kritisieren, weil man sonst gleich als Antisemit dargestellt wird”. Egal, ob man beschuldigt wird oder jemand mit diesem Argument anklagt, ist das ein Herrschaftsargument, das jeder Diskussion eine Ende setzen soll. Oft mit Erfolg, weil es geradezu zum Widerspruch, zu einer Diskussion über das Argument, aber nicht den Kern der Sache einlädt. Daher habe ich herausgesucht, was Wissenschaftler dazu sagen. “Kritik an Israel, die derjenigen an irgendeinem anderen Land ähnelt, kann nicht als antisemitisch eingestuft werden”, schreibt das Tel Aviver Kantor-Zentrum. Israel soll nicht mit einem anderen Maß gemessen werden als zum Beispiel die Schweiz oder Schweden.
Was Dritte über die Situation der Juden in Deutschland und Europa schreiben und herausfinden, liefert nur einen Ausschnitt der Realität. Denn Antisemitismus ist keine objektiv messbare Größe. Ob sich jemand sicher fühlt, kann man nur erfahren, wenn man ihn fragt. Es gibt leider kaum systematische Untersuchungen, die die Betroffenen anhören, außer der Studie der EU-Grundrechte-Agentur von 2012, die ich oben bereits erwähne. Diese Studie wurde bisher erst einmal durchgeführt, weswegen die Ergebnisse nur ein Schlaglicht ermöglichen:
- 68 Prozent der befragten deutschen Juden gaben an, dass der Antisemitismus in den fünf Jahren davor zugenommen habe.
- 47 Prozent befürchteten, in den kommenden 12 Monaten beleidigt oder angepöbelt zu werden
- 37 Prozent befürchteten, in den kommenden 12 Monaten körperlich angegriffen zu werden
- 28 Prozent meiden bestimmte Plätze und Straßen
Die Zahlen sind so ähnlich gültig für alle acht EU-Länder, in denen die Umfrage durchgeführt wurde. Selten zuvor sind so viele französische Juden nach Israel ausgewandert wie 2014, noch vor den Pariser Anschlägen. In Deutschland sind diese Zahlen auf sehr niedrigem Niveau stabil.
Steigt nun der Antisemitismus in Deutschland und Europa? Die Antwort ist ganz klar: ja, nein, vielleicht - je nachdem welchen Faktor man heranzieht.
Deswegen empfehle ich euch Hannahs Text. Sie hat junge, deutsch-jüdische Stimmen eingeholt. Um das Phänomenen zu verstehen, braucht es mehr als Statistiken.
Aufmacher-Foto: Ein orthodoxer Jude in Antwerpen - superformosa/flickr/by-sa 2.0