Die Ampel-Regierung hat umgesetzt, wovon die AfD lange Zeit nur träumen konnte: Asylbewerber:innen bekommen kein Bargeld mehr, Deutschland schiebt wieder nach Afghanistan ab und die Bundespolizei kontrolliert an den Grenzen des Landes.
Schon seit Jahren reiht sich in Deutschland eine Asylrechtsverschärfung an die nächste: Menschen können ihre Familien nicht mehr nachholen, werden in haftähnlichen Bedingungen untergebracht, dürfen ihren Wohnort nicht wechseln, nicht arbeiten und bekommen immer weniger staatliche Leistungen. Gleichzeitig werden Asylsuchende an den EU-Grenzen gewaltsam zurückgetrieben, auf dem offenen Meer ausgesetzt, inhaftiert, geschlagen, gedemütigt und sexuell missbraucht.
Das Ziel ist klar. Die Bedingungen für irreguläre Migrant:innen, egal ob schutzbedürftig oder nicht, sollen so verschlechtert werden, dass niemand mehr nach Deutschland und Europa kommen will. Maximale Repression, um Migration vollständig zu kontrollieren. So lautet das Versprechen.
Das Problem ist: Das bringt kaum etwas.
Klar, einige Menschen, besonders die schutzbedürftigen, lassen sich von Gewalt und schlechten Bedingungen abhalten. Aber es ist unmöglich, die totale Kontrolle über Migration zu erlangen.
Menschen migrieren schon immer, und sie werden es auch weiterhin tun. Das hat einen zentralen Grund: Migration funktioniert. Auch, wenn sie unerlaubt und gefährlich ist.
Migration ist keine Verzweiflungstat, sondern eine Investition in die Zukunft
Es gibt einen Mythos, der unsere Debatten bestimmt: Nur die Ärmsten der Armen kommen zu uns. Die Verzweifelten, die im Elend leben, keine Schule besuchen und vom Hunger getrieben, massenhaft nach Europa ziehen. Aber das stimmt nicht. Sie können es sich nicht leisten.
Wer über Belarus die EU erreichen möchte, muss rund 12.000 Euro an Schmuggler bezahlen, eine Überfahrt von der Türkei nach Italien kostet rund 8.500 Euro. Migration ist teuer. Besonders, wenn es nach Europa geht. Und je strenger die Grenzkontrollen, desto höher der Preis.
Die Migrationsforschung weiß deshalb schon lange, dass neben Asylsuchenden aus Konfliktregionen vor allem Menschen aus Ländern mit mittlerem Einkommen migrieren. Denn Wirtschaftswachstum und ein steigendes Bildungsniveau sorgen dafür, dass sie neue Träume und Ambitionen entwickeln, die sie in ihrer Heimat nicht mehr verwirklichen können, und dafür, dass sie auch das notwendige Geld haben, um sich auf den Weg zu machen. Deswegen gibt es in Deutschland verhältnismäßig viele Migrant:innen aus Rumänien, der Türkei und Indien und kaum welche aus der bitterarmen Zentralafrikanischen Republik.
Daraus folgt: Migration ist in den meisten Fällen kein irrationaler Akt der Verzweiflung, sondern eine riskante, aber gut durchdachte Investition in eine bessere Zukunft. Sie ist eine einmalige Chance auf ein besseres Leben und zahlt sich aus. Einerseits für die Migrant:innen selbst. Sie bekommen selbst ohne Papiere im Westen höhere Löhne als zuhause und können ihren Kindern einmal bessere Zukunftschancen bieten.
Der Migrationsforscher Hein de Haas schreibt in seinem Buch „Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt“, dass ein durchschnittlicher Landarbeiter in Mexiko 2019 monatlich 3.400 Pesos oder 170 Euro verdiente. Ein paar Hundert Kilometer weiter in Kalifornien, unter der gleichen heißen Sonne, an den gleichen Feldfrüchten waren es 2.500 Dollar im Monat. In Marokko wiederum verdiente ein ungelernter Arbeiter 2022 rund acht Euro am Tag, während selbst Migrant:innen ohne Papiere auf den Feldern Südspaniens fünf bis sechs Euro pro Stunde verdienten. Das sind 40 bis 50 Euro pro Tag.
Das heißt: Wer es einmal über die Grenze schafft, verdient sofort das Vielfache.
Klar, diese Arbeiter:innen werden oft ausgebeutet und müssen unter teils unwürdigen Bedingungen arbeiten. Aber wer langfristig denkt, nimmt auch zwischenzeitliche Ausbeutung in Kauf. Besonders, weil Migration oftmals eine Familienunternehmung ist. Einer zieht los, aber die Reise lohnt sich auch für die Angehörigen und die Wirtschaft im Heimatland, denn Migrant:innen schicken regelmäßig Geld nach Hause und sichern so den Lebensstandard ihrer Familien.
Migration ist die effektivste Form der Entwicklungshilfe
Wie gut Migration für ganze Familien funktioniert, zeigen die Zahlen der Weltbank: 2023 schickten Migrant:innen weltweit insgesamt 669 Milliarden US-Dollar in ihre Heimatländer. Das ist dreimal so viel wie die Summe aller staatlichen Entwicklungshilfe, und das Geld fließt im Gegensatz zu staatlicher Entwicklungshilfe direkt dahin, wo es gebraucht wird: an die Familien, nicht an Bürokraten und Politiker.
Der Migrationsforscher Hein de Haas sagt deshalb: Migration ist die effektivste Form der Entwicklungshilfe. Er hat über Jahre hinweg untersucht, wie diese Dynamik das Todra-Tal in Marokko verändert hat. Dort haben heute rund 40 Prozent aller Familien Angehörige in Europa. Ihr Einkommen beträgt laut de Haas mindestens das Doppelte des Einkommens der übrigen Familien. Das habe die lokale Wirtschaft angekurbelt: Die Familien nutzten das Geld, um neue Häuser zu bauen oder Unternehmen zu gründen und lösten so einen Bauboom aus, der das Wachstum der ganzen Region ankurbelte und sie selbst zum Magnet für Migration aus den nahen Gebirgsregionen machte.
Deutschland braucht geringqualifizierte Arbeitskräfte
Dabei zeigt die Forschung: Nicht Armut an sich ist der große Motor der Migration, sondern die Nachfrage nach Arbeitskräften. Anders ausgedrückt: Wer relativ arm ist und glaubt, woanders nicht mehr verdienen zu können, bleibt zu Hause. Wer aber weiß, dass es woanders besser sein könnte, zieht los. Die meisten Menschen kommen nicht zu uns, weil sie sich an den Fleischtöpfen des deutschen Sozialsystems bedienen wollen, sondern weil sie wissen: Hier gibt es Arbeit. Auch, wenn es erst einmal ohne Papiere ist.
Dieser Zusammenhang wird auch bei einem Vergleich des deutschen Bruttoinlandsprodukts mit den Migrationszahlen deutlich: Wenn die Wirtschaft brummt, kommen Leute. Denn es gibt Arbeit für sie, auch wenn Politiker:innen gern das Gegenteil behaupten.
Wirtschaftswachstum und Nettozuwanderung in Deutschland zwischen 1970 und 2020. ©Hein de Haas.
Umgekehrt gilt: Wenn die Wirtschaft schwächelt, kommen weniger Menschen. Das zeigt zum Beispiel eine Studie des Soziologen und Migrationsforschers Andrés Villarreal. Darin untersuchte er, warum die Abwanderung von Mexikaner:innen in den USA zwischen 2005 und 2012 um knapp 75 Prozent sank. Die Antwort: Aufgrund der Finanzkrise wurden in den USA weniger Arbeitskräfte nachgefragt.
Klar, das Wort „Fachkräftemangel“ sollte inzwischen jedem in Deutschland bekannt sein. Aber nicht nur die Nachfrage nach gut ausgebildeten Arbeiter:innen ist enorm, sondern auch nach geringqualifizierten Arbeitskräften, zum Beispiel in der Landwirtschaft, in Fabriken, in der Lebensmittelverarbeitung, im Handwerk, in der Gastronomie, in der Pflege und in Privathaushalten. Wer nach Deutschland kommt, findet dort schnell einen Job. Das verschweigen Politiker:innen gern, wenn sie über Migration sprechen.
Ein Blick auf die Zahlen zeigt: In Deutschland haben 60 Prozent aller legal angestellten Reinigungskräfte einen Migrationshintergrund, in der Gastronomie knapp die Hälfte. Auch im Hoch- und Tiefbau, in der Fahrzeugführung, sowie in der Körper- und Altenpflege und Medizin ist der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund besonders hoch. Die Zahl der zugewanderten Ausländerinnen und Ausländer, die in Medizin und Pflege arbeiten, hat sich zwischen 2013 und 2019 jeweils mehr als verdoppelt. Überall übernehmen Migrant:innen Jobs, die Einheimische nicht mehr ausüben können oder wollen. Deutschland braucht sie.
Das hat drei zentrale Gründe. Erstens steigen mit dem Bildungsniveau einer Nation auch die Ansprüche: Viele Menschen wollen geringqualifizierte Jobs nicht mehr ausüben. Zweitens sind durch die zunehmende Geschlechtergleichstellung und den massenhaften Eintritt von Frauen in den Arbeitsmarkt zahlreiche neue Jobs entstanden: Tätigkeiten im Haushalt, in der Erziehung und der Pflege, die Frauen früher als Sorgearbeit ohne Bezahlung machen mussten. Drittens sorgen sinkende Geburtenraten dafür, dass es schlichtweg allgemein weniger Arbeitskräfte gibt.
All das kurbelt die Nachfrage nach Arbeitskräften an. Und daraus folgt: Wer Migration wirklich stoppen will, müsste die deutsche Wirtschaft abwürgen. Grenzkontrollen werden dieses Ziel nicht erreichen. Kein Zaun kann hoch genug sein; wenn jemand die Chance hat, das Zehnfache zu verdienen und seiner Familie langfristig ein besseres Leben zu bieten, hat er die Motivation, diesen Zaun zu überwinden.
Grenzkontrollen sind schlechte Politik
„Man wird irreguläre Migration nach Europa nie ganz auf null bringen können“, sagt auch die Migrationswissenschaftlerin Judith Kohlenberger, deren jüngstes Buch „Gegen die neue Härte“ kürzlich erschienen ist. Ihr zufolge ist die Migrationsforschung sich einig: Geschlossene Grenzen führen nicht dazu, dass deutlich weniger Migrant:innen ins Land kommen. Das hat drei Gründe.
Erstens setzen Grenzkontrollen zu spät an; wenn Menschen bereits sehr viel Geld bezahlt und zahlreiche Strapazen auf sich genommen haben, um bis zur deutschen Grenze zu gelangen. „Die lassen sich auf diesen letzten Metern nicht von Grenzkontrollen abschrecken“, so Kohlenberger.
Zweitens lenken Grenzkontrollen ihr zufolge Migrationsströme schlichtweg auf andere Wege um, oftmals auf gefährlichere Routen. Das kommt Schleppern zugute, die ihre Preise erhöhen und neue Kunden gewinnen, die sich ihnen ausliefern müssen. „In der Migrationsforschung sagen wir deshalb, dass Grenzkontrollen ein Konjunkturprogramm für Schlepper sind“, so Kohlenberger.
Drittens gilt laut Kohlenberger: „Je härter und undurchlässiger die Grenzen sind, desto eher bleiben Menschen ohne Erlaubnis im Land.“ Sie kommen mit einer zeitlich begrenzten Arbeitserlaubnis oder einem Touristenvisum ins Land und bleiben anschließend, weil sie wissen, dass sie es ein zweites Mal nicht noch einmal hineinschaffen. Dann beantragt man vielleicht Asyl, frei nach dem Motto: Erst mal schauen, was passiert.
Das zeigt: Geschlossene Grenzen sind in erster Linie Symbolpolitik. Sie ändern wenig an den Zahlen der Ankommenden und lösen das tatsächliche Problem nicht: Nämlich dass viele niedrig qualifizierte Arbeitsmigrant:innen aktuell keine andere Möglichkeit haben, denn als Asylsuchende einzuwandern.
Das ist laut Judith Kohlenberger auch deshalb unsinnig, weil ein Asylgesuch für einen Staat viel teurer ist als eine legale Einwanderung: Für jeden gestellten Asylantrag muss ein ganzes rechtsstaatliches Verfahren durchlaufen werden. Das kostet Geld. Gleichzeitig dürfen die meisten Asylsuchenden in dieser Zeit nicht arbeiten. Sie verursachen also nur Kosten, obwohl sie eigentlich gekommen sind, um zu arbeiten – und ihre Arbeitskraft im Land gebraucht wird.
Kohlenberger schlägt deshalb vor, die Grenzen durchlässiger zu gestalten und passgenaue, legale und zirkuläre Einwanderungswege für Arbeitsmigrant:innen zu schaffen, die im Land gebraucht werden. Dann kämen auch weniger irreguläre Migrant:innen. „Wenn man weiß, man darf ein paar Jahre im Land bleiben und arbeiten, dann geht man auch wieder zurück, weil man nach einiger Zeit wieder legal einreisen kann“, sagt sie.
Wer absolute Kontrolle verspricht, treibt die Wähler zur AfD
Wer das versteht, sieht: Was die Ampel macht, ist schlichtweg schlechte Politik. Symbolpolitik, die nicht die versprochene Wirkung haben wird. Das wird bloß eine Folge haben: eine starke AfD.
Denn wer die absolute Kontrolle über Migration verspricht, wird letztlich sein Versprechen brechen und die frustrierte Bevölkerung damit weiter zu all denen treiben, die noch radikalere Kontrolle versprechen. Bis wir dann irgendwann offen von ethnischen Säuberungen sprechen.
Worüber währenddessen kaum jemand spricht, ist die Frage, wie eine Migrationspolitik aussehen kann, die sowohl Menschenrechte wahrt, als auch im wirtschaftlichen Interesse Deutschlands ist. Um diese Debatte drückt sich das Land seit zehn Jahren.
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert