Saad steht auf einem Bürgersteig in der Essener Innenstadt. Er trägt ein weißes T-Shirt, eine kurze schwarze Jeanshose und lächelt in die Kamera. Im Hintergrund sind Wohnhäuser und ein Hochhaus zu erkennen.

Alle Fotos: © Philipp Sipos

Flucht und Grenzen

Würde Saad nochmal nach Deutschland fliehen? Eher nicht.

Saad Hamza wurde in Bagdad geboren, seit 25 Jahren lebt er in Essen. Er hat zwei Katzen, eine Partnerin, einen Job. Eigentlich alles in Ordnung. Wären da nicht die rassistischen Deutschen.

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Reporter für Macht und Demokratie

Saad beugt sich nach vorn. „Einen Sirup bitte“, sagt er augenzwinkernd zu der Verkäuferin hinter der Scheibe. Sie lacht und greift nach einer Cola Zero. Er dreht sich um, schaut auf seine Armbanduhr, er will nicht zu spät zur Orchesterprobe kommen. Heute steht Mozart auf dem Programm: La Finta Giardiniera. Ein bisschen Zeit ist noch, für eine Zigarette reicht es. Dann muss Saad los. Als er sich durch Stahltüren und Tunnelgänge schlängelt, vorbei an Proberäumen und Bühneneingängen, zu seinem Büro, hallen die ersten Tonleitern schon durch die Gänge.

Das Aalto-Theater in Essen ist Saads Zuhause. Es ist 3600 Kilometer Luftlinie von seinem Geburtsort Bagdad entfernt. Saad floh 1997 nach Deutschland, da war er gerade 26 Jahre alt. Ein Jahr später unterschrieb er seinen ersten Arbeitsvertrag im Theater, als Aushilfe in der Haustechnik. Heute, 24 Jahre später, leitet er ein Team aus fünf Leuten, lebt in einer großzügigen Wohnung in der Essener Innenstadt und hat zwei Töchter. Die eine studiert bereits, die andere hat gerade ihr Abi gemacht.

Es wirkt, als hätte er es geschafft. Als wäre er ein Paradebeispiel für erfolgreiche Integration. Als lebte er den German Dream, für den sich noch immer Tausende im Jahr in Gefahr, sogar Lebensgefahr begeben. In diesem Jahr haben bereits 113.000 Menschen in Deutschland Asyl beantragt. Ist das, worauf sie hoffen, eine Illusion?

Es gebe so vieles, was die Menschen nicht sehen können, sagt Saad. „Vielleicht würde ich heute nicht noch einmal fliehen, sondern dableiben”, sagt er. „Auch wenn das bedeuten könnte, zu sterben.“

„Ich habe mit meinem Leben gepokert“

Saad wuchs in Bagdad, in der Nähe des Flusses Tigris auf. In einer Welt, die so heute nicht mehr existiert. Bagdad, sagt er, war damals ein bunter Ort. Als Kind verbrachte Saad viel Zeit in den Gassen der Altstadt, zwischen den jahrhundertealten Mauern und Basaren. Dort fühlte er sich wie in einer Zeitmaschine: Jeder Spaziergang glich einer Reise durch eine längst verflossene Zeit. „Es war der Inbegriff von Geschichte“, sagt er.

Saad sitzt in einem Biergarten. Er erzählt und gestikuliert.

Die Flucht nach Deutschland hätte Saad das Leben kosten können: Die Republikanische Garde im Irak konnte man nicht einfach verlassen, darauf stand die Todesstrafe.

Saads Mutter, eine Frauenrechtlerin, Schriftstellerin und Kolumnistin, arbeitete als Dolmetscherin für Arabisch und Englisch. Sein Vater arbeitete beim Handelsministerium. Saad hat zwei Geschwister. Seine Mutter ist Schiitin, sein Vater ist Sunnit. Aber diese Wörter wurden damals nicht einmal benutzt, sagt Saad. Religion habe in seiner Familie nie eine Rolle gespielt, im Gegenteil: „Wir haben uns über Religion lustig gemacht.“ Und das sei in vielen Teilen Bagdads so gewesen. Schiiten, Sunniten, Christen, Orthodoxe, Kurden, Jesiden und Turkmenen lebten friedlich zusammen.

Dann begann der Krieg.

Am 22. September 1980 befahl Saddam Hussein den Einmarsch in den Iran. Saad war damals neun Jahre alt. Erst acht Jahre und Hunderttausende Tote später einigten sich beide Länder auf einen Waffenstillstand. Saad beendete die Schule und begann, Industrial Management zu studieren, eine Mischung aus Wirtschaft und praktischer Unternehmensführung. Seine eigentliche Leidenschaft aber war das Theater. Er verbrachte viel Zeit in der Kunstakademie von Bagdad, besuchte Diskussionsrunden und Vorlesungen über Kunst und Philosophie, Musik und Theater. Saad überlegte sogar, sein Studium zu wechseln. Doch seine Eltern rieten ihm davon ab: Kunst? Das ist doch kein richtiger Beruf.

Währenddessen begann der nächste Krieg.

1990 besetzte der Irak den Nachbarstaat Kuwait. Daraufhin verhängte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Wirtschaftssanktionen gegen das Land. Und eine breite internationale Koalition begann im Januar 1991 unter Führung der USA die „Operation Wüstensturm“. 660.000 Soldat:innen verfolgten ein Ziel: Saddam zurückzudrängen.

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„Plötzlich gehörte es zur Normalität, vom Lärm der Bomben und Raketen aufzuwachen“, sagt Saad. Nach wenigen Wochen war der Irak besiegt. Viele Städte lagen in Trümmern, Saddam Hussein verwandelte das Land mit der Zeit in eine islamistische Diktatur und die Sanktionen machten der Bevölkerung zu schaffen: Der Dinar verlor massiv an Wert, Medikamente wurden knapp, Lebensmittel rationiert. Und die Regierung verteilte Lebensmittel-Gutscheine, weil Import-Produkte wie Mehl, Zucker und Reis im Supermarkt kaum noch zu finden waren.

Die Not nahm zu, genau wie die Repressionen des Regimes. „Du konntest plötzlich keine 200 Meter mehr fahren, ohne angehalten und ausgefragt zu werden“, erinnert sich Saad. „Und je nach Lust und Laune konnte der Polizist entscheiden, ob er dich ins Gefängnis schmeißt oder nicht.“

Die Angst war plötzlich überall.

Nachdem Saad 1993 sein Studium beendet hatte, sollte er zum Militär. Weil er sportlich war, oft schwimmen ging und Wasserball spielte, wurde er der sogenannten Republikanischen Garde zugeteilt, einer Spezialeinheit für schwierige Kampfhandlungen. Er hatte Glück: Als er der Einheit beitrat, befand der Irak sich nicht im Krieg. Kämpfen musste er also erst einmal nicht. Doch Saad ahnte, dass das bloß eine Frage der Zeit sein würde. Das machte ihm zu schaffen: Für Saad war es undenkbar, im Auftrag des Regimes zu kämpfen und Menschen zu töten.

Gemeinsam mit Freund:innen aus der Uni und aus seiner Nachbarschaft versuchte er, Widerstand gegen das Regime zu leisten. Weil ein Demonstrationsbesuch einem Todesurteil gleichkam, verteilten sie heimlich Flugblätter, unterstützten kurdische Widerstandskämpfer und versuchten, Menschen in Gesprächen für den Kampf gegen die Diktatur zu gewinnen. Das war gefährlich. Immer mehr Menschen aus Saads Umfeld verschwanden. Die Leute des Geheimdienstes kamen oft mitten in der Nacht, in zivilen Autos, schwer bewaffnet, in großen Gruppen, um jemanden mitzunehmen. Einige wurden hingerichtet, andere verbrachten Jahre im Gefängnis. Von manchen weiß Saad bis heute nicht, was aus ihnen geworden ist.

Saad bekam Angst.

Er habe immer eine große Klappe gehabt, und einen starken Gerechtigkeits-Drang. Das war in diesen Zeiten eine gefährliche Kombination. Irgendwann sei Saad bewusst geworden: „Ich muss so schnell wie möglich abhauen, bevor ich an der Reihe bin.“

Er beschloss, zu verschwinden. Das war ein gefährliches Unterfangen: Die Republikanische Garde konnte man nicht einfach verlassen, darauf stand die Todesstrafe. „Ich habe mit meinem Leben gepokert, aber es gab keine andere Möglichkeit“, sagt Saad. Also traf er eine Entscheidung, die ihn bis heute verfolgt: Er machte sich auf den Weg nach Deutschland.

Über das, was er auf der Flucht erlebte, kann er bis heute nicht sprechen. „Das holt zu viele schlimme Bilder und Erinnerungen hoch“, sagt er.

„Von morgens bis abends nur rassistische Sprüche“

Im September 1997 erreichte Saad Köln und beantragte Asyl. Eine „schlimme Erfahrung war das.” In Deutschland angekommen, bestand sein Leben plötzlich nur noch aus Papieren in Beamtensprache: „Ich hatte das Gefühl, ich werde nur als richtiger Mensch anerkannt, wenn die Papiere stimmen. Wenn nicht, dann wirst du irgendwo geparkt.“

Saad wurde in Essen geparkt.

Dort schickte man ihn von einer Asylunterkunft in die nächste. Frei bewegen durfte er sich nicht. Beim Sozialamt sagten sie ihm: „Vielleicht erledigt sich das ja bald und du wirst zurückgeschickt“. Aber Saad wurde nicht zurückgeschickt.

Saad steht hinter der Bühne. Er schaut auf sein Klemmbrett und notiert sich etwas. Hinter ihm sieht man einen Bühnenaufbau: Viele Gemälde hängen an einer Wand

Saads erster Job in Deutschland war eine Anstellung als Aushilfe in der Haustechnik des Essener Aalto-Theaters. Heute, 24 Jahre später, leitet er dort ein fünfköpfiges Team.

Als sein Asylantrag bewilligt wurde, konnte er eine Arbeitserlaubnis beantragen. Er wollte so schnell wie möglich sein eigenes Geld verdienen. Aber beim Arbeitsamt sagten sie ihm: Es gibt so viele deutsche Arbeitslose, die zuerst dran sind. Die Arbeitslosenquote in Deutschland lag 1997 bei 11,4 Prozent. 4,4 Millionen Menschen hatten keinen Job. Es war eine Krise, die schon früher begonnen hatte: Ab den 1970er Jahren sorgten Energie- und Rohstoffverknappung, eine weltweite Wachstumskrise und immer mehr internationale Konkurrenz dafür, dass das stabil hohe Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit vorbei war. Mit der Wiedervereinigung brachen dann auch noch zahlreiche Jobs in Ostdeutschland weg.

Saad beschloss, dass er nie wieder zum Arbeitsamt wollte.

In der Bibliothek lieh er sich Wörterbücher und Zeitungen aus und brachte sich damit selbst Deutsch bei, weil er keinen Anspruch auf einen Sprachkurs hatte. Dann fand er eine Anstellung als Aushilfe in der Haustechnik des Theaters. Anschließend bekam er einen Job bei der Bühnentechnik und Transportabteilung. Als sein Abteilungsleiter ihn am ersten Arbeitstag vorstellte, sagte einer seiner neuen Kollegen zu ihm: „Du rollst hier aber nicht deinen Teppich aus und fängst an zu beten!” Saad dachte, das sei ein Witz. Aber er war der einzige, der lachte.

Über die Anfangszeit in Deutschland sagt Saad, dass es einige der schlimmsten Jahre seines Lebens wurden. „Ich habe von morgens bis abends nur rassistische Sprüche zu hören bekommen.“ Nach einem Jahr wechselte Saad in die Orchesterwarte, also die Abteilung im Theater, die sich um Auf-, Um-, und Abbau auf der Bühne kümmert. Saad legt Noten aus und transportiert Instrumente. Mit seinen Kolleg:innen verstand er sich gut. Er blieb. Und merkte: „Biodeutsche können auch ganz anders sein.“

„Ich habe mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit mir“

Heute wohnt Saad mit seiner Lebenspartnerin in einer Wohnung im vierten Stock, bloß 10 Minuten zu Fuß vom Theater entfernt. „Selbst eingerichtet“, sagt er lächelnd, während er auf die offene Küche weist: Auf der Anrichte steht eine Espressomaschine, Geschirr, eine leere Bierflasche und drei Bananen. Das angrenzende Wohnzimmer ist lichtdurchflutet und minimalistisch eingerichtet: Parkettboden, weiße Wände, ein cremefarbenes Sofa. Neben der Tür steht ein selbstgebauter Kratzbaum für die beiden Siamkatzen, Leika und Mika.

Saad steht in seiner Küche, er hält seine Katze auf dem Arm.

„Als ich nach Deutschland kam, glaubte ich, ich sei in der Lage, ein normales Leben zu führen. Ich dachte immer, wenn das mit der Arbeit und der Wohnung klappt, dann wird das schon.“

„Es gibt noch die ein oder andere Ästhetik-Baustelle“, erklärt er, Leika auf dem Arm, und deutet auf den Esstisch: „Der hier und die Stühle passen farblich nicht hundertprozentig zusammen, zu viele Holztöne, ein bisschen schmaler und eleganter wäre cooler.“

Eine Holztreppe führt nach oben ins Arbeitszimmer. In der Ecke steht Saads Equipment für die Fotografie, daneben ein Garderobenständer, an dessen Bügeln bloß schwarze Kleidung hängt. Auf dem Schreibtisch: Ein Bildschirm und vier Bücher: „Kunst“, „Literatur“, „Psychologie“, „Evolution“. In der Ecke steht ein weißes Bücherregal.

Saad liest gern. Kafka ist sein Lieblingsautor, auch wenn die Sprache nicht gerade leicht ist. Aber ihm gefällt das Düstere. Kafkas Bücher, findet Saad, sind wie ein endloser Gang durch einen dunklen Korridor: „Dieses von einer Tür zur nächsten hechten und nie zur Ruhe kommen, das ist eigentlich die treffende Beschreibung eines Albtraums“, sagt er.

Saad träumt viel. Zu viel. Er hat eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung. Schlaf ist für ihn keine Erholung, sondern Stress. Denn nachts kommen die Flashbacks: „Es fühlt sich an, als würde ich alles noch einmal durchleben, als würde es heute passieren“, sagt er. Und macht eine Pause. „Das schmeißt dich echt aus dem Leben.“

Saad ahnte, dass er krank sein könnte, noch bevor er eine Sprache dafür fand. Aber es dauerte, bis er das ganze Ausmaß erkannte. „Als ich nach Deutschland kam, glaubte ich, ich sei in der Lage, ein normales Leben zu führen“, sagt er. „Ich dachte immer, wenn das mit der Arbeit und der Wohnung klappt, dann wird das schon. Ich habe geheiratet und geglaubt, dass mir das Stabilität bringt.“ Er irrte sich. Irgendwann erkannte er, dass er die schlimmen Flashbacks nicht loswerden würde. „Ich habe mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit mir.“

Saad steht zwischen den Sitzen des Theaters. Er hält sein Klemmbrett in der Hand.

In der Orchesterwarte spielt die Herkunft keine Rolle. Hier arbeiten neben Saad noch ein Deutscher, ein Japaner, ein Tscheche und ein Halb-Amerikaner.

Schließlich suchte er sich Hilfe. Die Therapie half Saad geholfen, die eigene Situation besser zu verstehen: „Man kann sich vorstellen, dass ich wie ein Mensch bin, dem ein Bein fehlt“, erklärt er. „Das schränkt einen ein, aber man sieht das in meinem Fall nicht von außen.”

Inzwischen weiß er, dass es nicht besser werden wird. Aber er hat gelernt, damit umzugehen. Er kann jetzt allein sein und durchatmen. Und er versucht, immer daran zu denken, dass es gleich vorbei sein wird. Das ist seine Strategie, wenn die Bilder aufflammen. Seine andere Strategie ist es, möglichst wenige Gefühle zulassen. „Das macht den Kontakt zu anderen Menschen schwieriger, aber das ist okay“, sagt er.

Im Orchester sind alle gleich

Saads Büro im Theater hat weiße Wände, weiße Schränke, zwei Schreibtische und eine Senseo-Kaffeemaschine. An der Wand hängt ein Poster von Shakespeares Sommernachtstraum und hinter Saads Schreibtisch flimmert die Bühne des Theaters auf einem Bildschirm.

Als er klein war, blätterte Saad immer gern durch die Schallplatten seiner Eltern. Wenn der Plattenspieler funktionierte, setzte er sich hin und hörte zu. Später, als er während des Studiums viel Zeit in der Kunstakademie verbrachte, keimte das Interesse wieder auf. Saad war wissbegierig, er wollte die Musik nicht nur hören, sondern auch verstehen. Und in seinem Umfeld gab es viele Leute, die Ahnung hatten.

Früher habe er sich immer gefragt, was Dirigent:innen eigentlich machen. „Was hampeln die da rum?“, dachte er. Bis er verstand, wie diese die Musik quasi im Voraus hören müssen. Das gefiel Saad. „Sie müssen immer wissen, was als nächstes passiert“, sagt er, die Stimme voller Begeisterung. „Das heißt: Sie leben quasi permanent in der Zukunft.“

An seiner Begeisterung merkt man: Das Theater ist Saads Zuhause. Doch es ist mehr als das. Das Theater ist Saads Utopie: Es ist einer der wenigen Orte, an denen Saads Herkunft nicht so wichtig ist. Menschen aller möglichen Migrationsgeschichten und Sprachen kommen hier zusammen. In der Orchesterwarte arbeiten neben ihm noch ein Deutscher, ein Japaner, ein Tscheche und ein Halb-Amerikaner. Im Orchester wiederum spielen Menschen aller Religionen und Kontinente, von Südamerika bis Asien. „Und wenn die anfangen zu spielen, verschwindet jegliche Art der Unterscheidung.“

Saad wünschte sich, dass auch die Welt außerhalb des Theaters so wäre. Dass all jene, die Geflüchtete und ihre Unterkünfte mit Worten oder Taten angreifen und Hetze betreiben, sich am Theater orientieren. Ein bisschen, sagt er, sei das vielleicht bei den Ukrainer:innen so, die in den letzten Monaten angekommen sind. Ihnen werde ja im Vergleich zu Geflüchteten aus arabischen Ländern relativ unkompliziert geholfen.

„Das ist genau die richtige Art, mit Menschen umzugehen, die alles verloren haben“, sagt er. Nur wenn man ihnen einen schnellen Zugang zu Sozialleistungen, Sprachkursen, Bildungssystem und Arbeitsmarkt ermöglicht, gebe man ihnen die Möglichkeit, Teil der Gesellschaft zu werden. Saad hält inne, atmet durch, senkt den Blick. „Es tut mir weh, dass ich das nicht erlebt habe“, sagt er.

Ihm selbst sei immer vermittelt worden, eine Last zu sein, ein Übel, das man nicht abschütteln kann. Wie oft er auf der Straße weggeschickt wurde, „scheiß Ausländer“ oder „verpiss dich!’’ gehört hat, weiß er nicht mehr. Zu oft. Wenn er früher nachts mit Bus oder Bahn nach Hause fahren musste, hatte er oft Angst. Von der Polizei fühlt er sich bis heute nicht beschützt.

Der Schriftsteller und Philosoph Senthuran Varatharajah schreibt in seinem Roman „Rot (Hunger)“: „Ich wusste nicht, dass die Grenzen, über die wir gegangen sind, auch durch uns gehen“. Hätte Saad davon gewusst, vielleicht hätte er sich vor 25 Jahren anders entschieden.

Saad sitzt auf einem Kasten im Instrumentenraum, umgeben von Instrumenten und Notenständern.

Auf der Straße muss Saad sich oft rassistische Sprüche anhören. Hier im Orchester aber wird er geschätzt – und gebraucht.

Es sind die von außen unsichtbaren Narben, die ihm bis heute zu schaffen machen. Die Ablehnung, sagt er, hat großen Schaden bei ihm angerichtet. Jedes Mal, wenn er gefragt wird, wie er heißt und woher er kommt, hat er Angst vor der Reaktion seines Gegenübers, vor diesem Blick, der aburteilt und richtet. Ob er anderen raten würde, nach Deutschland zu fliehen? Saad zuckt mit den Schultern. Er weiß es nicht. Das müsse jeder selbst wissen.

In seinem Büro macht Saad den Rechner an, öffnet Word, druckt den Dienstbericht für die heutige Probe aus. Cello, Kontrabass, Violine, Viola, Horn, Harfe, Kontrabass, Flöte, Pauke, Klarinette, Trompete, steht darauf, darunter die Namen der Musiker:innen. Noch ein Blick auf die Uhr: Es ist fünf vor sechs. Saad greift nach einem Walkie-Talkie mit seinem Namen, drückt die Anwesenheitsliste auf ein Klemmbrett und macht sich auf den Weg. Im Zuschauerraum stellt er sich vor das Orchester, stemmt die Hände in die Hüften, lässt den Blick über Gesichter und Instrumente, die Ränge und das Bühnenbild wandern und nickt einzelnen Musiker:innen zu. Er lächelt ein bisschen.


Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotos und Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert

Würde Saad nochmal nach Deutschland fliehen? Eher nicht.

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