Wenn Diktatoren ihre Länder zerstören, ist das für uns in Deutschland oft kaum zu begreifen. Es ist schaurig – aber für uns sehr weit weg. Schnell lässt sich vergessen, unter welchen Bedingungen Millionen von Menschen in einem solchen Land leben müssen: Plötzlich gibt es kein sauberes Trinkwasser mehr, keinen Strom oder kein Internet, oft kommen Nahrungsmittelknappheit, eine schlechte Gesundheitsversorgung und mangelnde Sicherheit hinzu. Der Wissenschaftler Carlos Hernández kennt all das. Denn er stammt aus Venezuela. Er entschied sich, sein Land zu verlassen. Oder wie er sagt: Er konnte nicht anders. Wie schwer es ist, aus einem Land zu flüchten, in dem kaum noch etwas funktioniert, beschreibt er in diesem Text.
Wenn ich meinen Kopf drehe, sehe ich eine dicke Staubwolke hinter dem Motorrad. Wir sind weit weg von der Straße, fahren schnell auf einer wilden Schotterpiste durch das knochentrockene Buschland, das das nördliche Ende der 2.000 Kilometer langen Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien bildet. Das Karibische Meer ist nicht weit entfernt, aber man kann es von hier aus nicht sehen. Ich klammere mich mit aller Kraft an das kleine Gitter hinter mir, während mein „Fahrer“ das Motorrad kräftig Richtung Grenze treibt.
Ich habe eine kleine Flasche Handdesinfektionsmittel in meiner Tasche. Sonst nichts. Kein Geld, keinen Reisepass, kein Handy, keine Bankkarten, kein Essen, kein Wasser. Meine Heimat, die einstige Industriestadt Puerto Ordaz im Südosten Venezuelas, liegt etwa 1.300 Kilometer hinter mir. Mein Ziel liegt etwa 950 Kilometer vor mir: Medellín, in der Mitte Kolumbiens. Die Sonne brennt vom Himmel. Ich bin durstig, hungrig und habe seit zwei Nächten kaum geschlafen. Ich bin ganz allein und völlig schutzlos.
Dieser Teil der Grenze wird von der kolumbianischen Guerilla-Bewegung ELN (Ejército de Liberación Nacional, auf deutsch: Nationale Befreiungsarmee), kontrolliert. Eigentlich sind sie marxistisch, aber sie scheinen mehr Zeit damit zu verbringen, Kokain und Treibstoff zu schmuggeln, als die Bourgeoisie zu stürzen. Die venezolanische Regierung bezeichnet sich selbst auch als marxistisch, scheint aber auch mehr Zeit damit zu verbringen, sich Wege auszudenken Geld zu verdienen, als mit so etwas wie einer Revolution. Sie sind wie füreinander geschaffen.
Ich weiß, dass das hier keine sichere Route ist. Aber sie ist sicherer als die Alternative: die Hardtop-Straße, die von Venezuelas mächtigem Militär kontrolliert wird.
Das Motorrad kommt zu einer winzigen Lehmhütte mitten im Buschland und wir halten an. Zwei kleine Kinder, beide abgemagert, haben einen umgestürzten Baumstamm über das einzige befahrbare Stück Feldweg gelegt. Es ist eine „Mautstelle“ und einer von unzähligen Erpressungen auf meiner Reise. An den kurzen schwarzen Haaren und den runden Gesichtern kann man erkennen, dass es sich um Wayuu handelt, eine indigene Gruppe, die in dieser Gegend schon lebte, bevor es so etwas wie Kolumbien oder Venezuela gab, geschweige denn eine Grenze zwischen ihnen. Die Kinder sind barfuß. Eines trägt schwarze Shorts, das andere grüne.
Die Sonne hat das letzte bisschen Feuchtigkeit aus dem Boden gesaugt. Es ist unerträglich heiß. Die doppelte Gesichtsmaske und meine akute Dehydrierung machen selbst kurze Pausen unerträglich. Die Kinder scheinen unbeeindruckt.
Sie sagen etwas zu dem Fahrradfahrer in Wayuu, einer Sprache, die ich nicht verstehe. Er reicht ihnen ein paar kolumbianische Pesos. Ein Kind stößt ein kleines „Hehe“ aus, als es die Münzen betrachtet, während das andere losrennt, um den Baumstamm wegzuschleppen und den Feldweg für uns freizumachen.
Ein Kind in La Guajira, einer Region an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze. Ein Großteil der Bevölkerung dieser Region gehört der indigenen Bevölkerungsgruppe der Wayuu an. © Getty/ via Anadolu Agency/ Juancho Torres
Ich kann so nicht weiterleben
Als ich vor zwei Tagen in Puerto Ordaz aufbrach, war ich vorbereitet. Ich hatte meinen alten Personalausweis (der zwar abgelaufen war, aber es dauert Jahre, bis ein neuer ausgestellt wird), meinen venezolanischen Pass, insgesamt knapp 200 Dollar in drei verschiedenen Währungen, Bankkarten, Gesichtsmasken, Handgel und Lebensmittel und Wasser für die Reise. Für venezolanische Fluchtverhältnisse war ich ein König.
Nach und nach wurde alles gestohlen – außer den Dingen, die ich zum Schutz vor Corona dabei hatte.
Ich wusste, dass das passieren könnte. Ich war sogar davon ausgegangen. Aber ich konnte nicht in Puerto Ordaz bleiben. Im Jahr 2014, nachdem die Ölpreise ihren Höhepunkt erreicht hatten, begann die Wirtschaft meines Landes zu schrumpfen und sie hat bisher nicht wirklich damit aufgehört. Die Grundlagen des modernen städtischen Lebens sind zusammengebrochen, eine nach der anderen. Ständig gibt es Strom- oder Datenausfälle, oft mehrmals am Tag, was meine freiberufliche Onlinearbeit fast unmöglich macht. Selbst wenn das Internet funktioniert, ist es unerträglich langsam. Es gibt keine öffentlichen Verkehrsmittel, manchmal gibt es kein Gas zum Kochen und selbst die einfachsten Lebensmittel wie Bananen werden immer teurer.
Die Wasserprobleme haben mich fast um den Verstand gebracht. Die Wasserhähne bleiben meist trocken und das Wasser, das aus den Leitungen kommt, ist so schmutzig, dass man es unmöglich trinken kann. Jeden zweiten Tag gehörte es daher zu meiner morgendlichen Routine, Trinkwasserflaschen für zu Hause zu kaufen. Manchmal gibt es in der Stadt überhaupt kein Wasser und dann kann ich nur warten, durstig, verschwitzt, in einem Haus, das nach der Toilette riecht, die wir nicht spülen können.
Der Auslöser war aber wahrscheinlich der Gedanke daran, was passieren würde, wenn ich jemals medizinische Hilfe bräuchte. Ich meine damit nicht mal speziell Covid-19, obwohl das natürlich auch eine Sorge ist. Die Krankenhäuser sind absurd unterbesetzt und verfügen nicht mal über die Grundversorgung. Eine allergische Reaktion auf Meeresfrüchte oder eine infizierte Wunde – normalerweise problemlos zu behandeln – kann und wird einen dort umbringen. Und es ist auch nicht so, dass wir Treibstoff hätten, um überhaupt erst zur Notaufnahme zu fahren: Die Schlange für eine Vierteltankfüllung vor einer Tankstelle ist lang, es kann Tage dauern, bis man an der Reihe ist.
Ich kann so nicht weiterleben. Ich muss nach Medellín, wohin meine engsten Freundinnen und Freunde von früher ausgewandert sind und wo ein Zimmer auf mich wartet. Es ist mir egal, dass die Grenze seit über einem Jahr wegen der Pandemie geschlossen ist.
Etappe 1: Eine Verhandlung in einem Anhänger aus Metall
Meine Reise beginnt drei Tagen zuvor. Puerto Ordaz steht unter Quarantäne, der Busbahnhof ist geschlossen. Ich entscheide mich für eine sehr teure (180 Dollar) und 650 Kilometer lange Autofahrt nach Caracas, die ich im Internet gefunden habe. Während der Fahrt habe ich mich mit einer Missionarin aus der Gemeinde von Mutter Teresa in Indien unterhalten, die seit 1999 in Venezuela lebte und nun beschlossen hat, nicht länger zu bleiben.
In Caracas schließe ich mich meiner Freundin Celys an, die nach Barranquilla an der kolumbianischen Karibikküste fährt. Dort will sie sich mit ihrem Freund treffen und einen Job suchen. Sie hat ihre Stelle als Journalistin im Januar verloren, nachdem die venezolanische Regierung das Equipment der Nachrichtenseite, für die sie arbeitete, beschlagnahmt hatte. Sie hat kaum noch Ersparnisse.
Ich verbringe die Nacht bei ihr – wir sind so nervös, dass wir kaum schlafen können – und am nächsten Nachmittag fahren wir zum Busbahnhof und steigen in einen brutal klimatisierten Nachtbus nach Maracaibo, etwa 700 Kilometer westlich, nahe der kolumbianischen Grenze.
Wir sind die ganze Zeit über angespannt. Hauptsächlich wegen der Kontrollen. Sie kommen im Durchschnitt alle halbe Stunde. Nicht, dass das vorhersehbar wäre. Man kann jederzeit angehalten werden. Manche Kontrollen finden im Abstand von einer Minute statt.
Jeder Kontrollpunkt ist eine Lotterie. Meistens kontrollieren die Soldaten nur die Gepäckfächer im Bus. Manchmal sammeln sie die cédulas – die Personalausweise – von allen ein, überprüfen sie (warum und welche Details gecheckt werden, weiß niemand) und geben sie zurück. Einmal haben sie mich aus dem Bus geholt, weil ich meinen Reisepass statt meines Ausweises gezeigt hatte. Aber jeder weiß, dass diese Soldaten davon leben, Reisende auszubeuten. Und so ist es auch keine Überraschung, wenn aus einer Kontrolle eine Erpressung wird.
Gegen ein Uhr nachts werden wir aus dem Schlaf gerissen. Zwei Soldaten steigen in den Bus und bellen „Cédulas!“, bevor sie den Gang auf- und abgehen und die Ausweise einsammeln.
Angespannt warten wir darauf, dass sie zurückkommen, uns die Dokumente zurückgeben und weiterfahren lassen.
Minuten vergehen.
Niemand redet. Alle sind zu erschöpft, um sich zu beschweren. Endlich kommt ein Soldat herein, aber bevor er die Ausweise aushändigt, fragt er laut:
„Wer ist Carlos Hernández?“
Ich hebe meine Hand.
„Kommen Sie mit“, sagt er. „Und nehmen Sie Ihr Gepäck mit.“
Verdammt noch mal.
Ich nehme meinen Rucksack und den blauen Koffer aus dem Ablagefach und gehe mit ihm zu einer Art mobilen Gefängniszelle. Ein kleiner Anhänger, der aussieht, als wäre er für einen Pickup gedacht. Das Innere ist aus Metall und an der Wand sind Metallbänke befestigt.
Der Mann in Uniform, der meinen Ausweis hat, sieht jünger aus als ich. An dem grauen Tarnmuster erkenne ich, dass er nicht zur Armee gehört, sondern ein Offizier der FAES (Fuerzas de Acciones Especiales) ist, einer Spezialeinheit der Polizei – die für außergerichtliche Erschießungen bekannt und gefürchtet ist. Es ist auch eine Polizistin da. Sie trägt eine dunkelblaue Uniform und hört aufmerksam zu, die Daumen in ihrer kugelsicheren Weste, als ob sie sich an den Achseln kratzen würde. Sie ist groß.
„Machen Sie Ihre Taschen auf“, sagt der Mann.
Ich beginne mit dem Rucksack. Ich öffne ihn und er fängt an, darin zu suchen. Er sieht meinen Laptop, meinen wertvollsten Besitz auf der Welt: das, womit ich arbeite, Geld verdiene, Essen kaufe und überlebe.
„Was machen Sie beruflich?“
„Ich schreibe.“
Er überprüft meine Brieftasche. Da ist kein Geld drin. So blöd bin ich nicht.
„Woher haben Sie diese Cédula?“, fragt er, während er mich abtastet und die 50.000 kolumbianischen Pesos – etwa 13 Dollar – findet, die ich in meiner vorderen Hosentasche habe.
„Ich habe sie schon seit Ewigkeiten“, sage ich. „Sie fragen, weil sie abgelaufen ist, oder? Ich habe auch meinen Reisepass – hier, sehen Sie.“
Die Frau nimmt den Pass, schaut ihn aber nicht wirklich an. Beide sind ganz auf meine Cédula konzentriert.
„Das ist ein gefälschtes Dokument“, sagt der Mann.
Ist es nicht. Aber das ist nicht der Punkt.
„Es ist nicht einmal ein gutes Dokument“, fährt er fort. „Sehen Sie diese Flagge hier? Sie hat das neue Format, aber der Inhalt hat das alte Format und sehen Sie sich die Unterschrift hier an. Die hat so viele Fehler.“
„Wovon reden Sie?“ sage ich. „Das ist meine alte Cédula. Sie ist gerade abgelaufen. Ich habe meine neue verloren und ich …“
„Sie haben also eine neue gefälscht“, unterbricht er mich.
„Nein, ich habe sie verloren und benutze eine abgelaufene, die ich noch in einer Schublade hatte, bis meine neue ausgestellt ist. Wegen Corona hat das länger als ein Jahr gedauert. Und ich musste verreisen.“
„Die ist eindeutig gefälscht. Sie enthält Elemente des alten und des neuen Formats.“
Die große Frau schreitet ein.
„So sieht es aus, Junge“, sagt sie und deutet auf den wartenden Bus. „Ich verschwende nicht gern Zeit – weder meine noch die von anderen. Fälschung ist eine Straftat, die mit fünf bis zehn Jahren Gefängnis bestraft wird.“
„Wovon zum Teufel reden Sie da?“, protestiere ich. „Das ist kein gefälschtes Dokument. Es ist meine alte Cédula. Ich war wegen Corona nur nicht in der Lage, so schnell eine neue zu bekommen. Außerdem, was kümmert Sie das? Ich habe Ihnen doch gerade meinen Reisepass gezeigt.“
Der Mann, der den Rucksack durchsucht, greift in eine der Taschen mit Geld. Als er die Scheine findet, legt er sie auf die Metallbank gegenüber von mir.
„Die Straftat wurde bereits begangen“, sagt er. „Es spielt keine Rolle, ob Sie ein gültiges Dokument haben. Sie tun jetzt Folgendes: Melden Sie sich bei der Staatsanwaltschaft. Wir behalten Sie über Nacht hier und morgen können wir Sie mit Ihrem Anwalt vor einen Richter bringen.“
„Ich kann hier nicht übernachten“, sage ich – obwohl ich schon von Leuten gehört habe, die genau das getan haben. „Was können wir tun?“, frage ich nach dem altbewährten Schema.
„Das ist ganz einfach“, sagt die Polizistin. „Wenn Sie hierbleiben wollen, bleiben Sie. Wenn Sie gehen wollen, gehen Sie. Es hängt alles davon ab, was Sie tun.“
„Wie viel verlangen Sie also?“, frage ich und bin mit meiner Geduld am Ende.
„Nein, nein“, sagt sie. „Wir verlangen gar nichts.“
Das ist eine Lüge.
„Da es sich um ein schweres Verbrechen handelt“, sagt der Mann, „liegt die Spanne zwischen 500 und 1.000 Dollar.“
Er ist mit der Durchsuchung meiner Sachen fertig und hat die meisten meiner Geldverstecke gefunden, die ich geschickt (wie ich dachte) in verschiedenen Ecken und Winkeln der Taschen verteilt hatte. Aber er hat zwei 20-Euro-Scheine übersehen, hinter dem Laptop.
Es ist Zeit zu verhandeln. Ich schäme mich vor mir selbst, aber ich habe keine andere Wahl.
„Fünfhundert? Nicht mal annähernd. Ich gebe Ihnen 100 Dollar. Und mir bleiben 20 Dollar, von denen ich nicht weiß, was ich damit machen soll.“
Die Polizistin lacht über mein Angebot. „Das ist gar nichts“, sagt sie. „Außerdem brauche ich kein Geld. Ich habe schon alles, was ich brauche, von diesem Kerl bekommen.“ Sie holt einen weiteren Ausweis aus der Vordertasche ihrer Weste, von einem anderen ihrer Opfer. Auf den ersten Blick sieht auch dieser Ausweis nicht gefälscht aus.
„Hören Sie“, sage ich, „ich habe 121 Dollar und ich feilsche nicht. Das ist buchstäblich alles, was ich an Dollar habe. Auf keinen Fall habe ich 500 Dollar. Nicht einmal annähernd.“
„Okay“, sagt sie, „ich werde Ihnen einen Gefallen tun. Sie haben doch 50.000 Pesos in der Tasche, oder?“
Sie schnappt sich das Geld, das auf der Bank aufgehäuft ist. Mein Geld. Sie legt alles in einen einzigen Stapel und gibt ihn mir zurück.
„Mit diesem Betrag können Sie mich überzeugen und das, was in Ihrer Tasche ist, können Sie behalten. Ist das in Ordnung?“
„Es ist nicht okay“, sage ich. „Aber okay.“
„Das ist ein Gefallen, den ich Ihnen da tue.“
Sie scheinen darauf zu warten, dass ich mich bei ihnen bedanke.
„Okay, okay, machen wir’s so“, sage ich.
Ich gebe ihnen das Geld und das war’s. Sie lassen mich alle meine Sachen in meine Taschen packen und gehen. Insgesamt nehmen sie 121 Dollar in Scheinen und 80.000 kolumbianische Pesos, also etwa 22 Dollar und behalten meinen „gefälschten“ Ausweis.
„Seien Sie vorsichtig und sagen Sie niemandem etwas“, sagt die Polizistin.
Als ich ihnen auf dem Weg zum Bus den Rücken zuwende, sagt die FAES-Beamtin zu mir: „Sie wurden gerade wiedergeboren!“
Benzin ist in Venezuela mehr als nur Treibstoff: Im Genzgebiet wird es geschmuggelt. © Getty Images / Latincontent/Jan Sochor
Etappe 2: Ich habe nichts mehr bis auf 40 Dollar
Ich steige wieder in den Bus ein. Celys umarmt mich, noch bevor sie fragt, was passiert ist.
An wen soll man sich wenden, wenn man von der Polizei ausgeraubt wird? Wir fahren weitere sieben Stunden schweigend durch die Nacht. Keiner schläft länger als ein paar Minuten am Stück.
Wir kommen in Maracaibo an, erschöpft, schlaftrunken, durstig und stürzen uns in den frühmorgendlichen Trubel des Busbahnhofs. Ich merke es nicht sofort, aber in dem Moment, in dem ich aus dem Bus steige und gegen eine Hitzewand pralle, werde ich beklaut. Als ich eine Minute später feststelle, dass meine Vordertasche leer ist, gerate ich in Panik – erst recht, als mir klar wird, dass ich nach der Durchsuchung alles Wertvolle, das die Polizisten nicht gestohlen hatten, in diese eine Tasche gesteckt hatte.
Ich mache eine Bestandsaufnahme: Mein Pass ist weg, meine Bankkarten sind weg, mein Telefon ist weg, meine letzten 50.000 kolumbianischen Pesos sind weg. Ich bin am Ende.
Der gestohlene Reisepass ist besonders schlimm. In Venezuela ist ein Reisepass im Grunde unersetzbar. Wenn ich schon nicht in der Lage war, mir einen einfachen Ausweis zu besorgen, kann man sich vorstellen, wie das mit einem Reisepass ist. Da mehr als sechs Millionen Venezolaner ausgewandert sind, sind die Behörden, die die Dokumente ausstellen, völlig überlastet. Die einzige Möglichkeit, einen Pass zu bekommen, ist momentan ein hohes Bestechungsgeld. Selbst wenn man dabei nicht betrogen wird, kann man monatelang darauf warten.
In den Industriestaaten ist es eine Unannehmlichkeit, den Reisepass zu verlieren. Hier ist es ein Unglück, das über dein Leben entscheidet.
Ich habe die Reise nach Kolumbien im Voraus bezahlt, also beschließe ich, weiter zu reisen. Das ist kein guter Plan, aber meine Bereitschaft, ein Risiko einzugehen, verhält sich proportional zu meiner Verzweiflung. Ich bin zu weit von zu Hause entfernt, um umzukehren und die Grenze ist nur noch zweieinhalb Stunden entfernt. Sobald ich in Kolumbien bin, kann ich mit Celys‘ Telefon meine Freunde anrufen und vielleicht kann mir einer von ihnen Geld schicken, um Bustickets für die 15-stündige Fahrt nach Medellín zu kaufen.
Die letzte Etappe der Reise zur Grenze lege ich nicht mit dem Bus, sondern in einer Limousine zurück: einer altehrwürdigen, benzinschluckenden Klapperkiste. Vielleicht ein Chevy Malibu? Oder eine Caprice? Ich bin mir nicht sicher – es ist eines dieser breiten, kastenförmigen Autos von General Motors aus den 80er Jahren, die hier in der guten alten Zeit – als das Ölgeld noch reichlich vorhanden war und sich normale Leute Autos leisten konnten – wie warme Semmeln verkauft wurden. Ich vermute, dass er ursprünglich hellblau war; inzwischen ist er hauptsächlich rostfarben.
Es ist ein Wunder, dass er überhaupt fährt. Im Innenraum riecht es nach Benzin.
Auf der Straße sagt mir der Fahrer, Mr. Jose, der seit 20 Jahren dieselbe Strecke fährt, dass ich keine Chance habe, mit seinem Auto rüberzukommen: zu viele Kontrollpunkte, keine Dokumente, nicht genug Geld für Bestechung.
Er erzählt mir von einem Motorradfahrer, der mich über eine Trocha, einen illegalen Feldweg, der parallel zur Hauptstraße verläuft, mitnehmen kann. Zum Glück habe ich in einer letzten Ecke meiner Tasche noch die beiden 20-Euro-Scheine, die weder die Soldaten noch die Taschendiebe erwischt haben.
Celys und ich beschließen, dass sie mein Gepäck mit dem Auto nach Maicao bringen wird, einer Stadt mit etwa 100.000 Einwohnern auf der kolumbianischen Seite. Wir vereinbaren, uns dort in ein paar Stunden zu treffen.
Ich gebe dem Mann auf dem Motorrad mein letztes Geld – 40 Euro – und steige hinter ihm auf.
Die Trochas sind Pfade, auf denen Schmuggler ihre Waren (hier: mit Benzinfässern beladene Fahrräder) an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze verschieben. © Getty Images / Latincontent/Jan Sochor
Etappe 3: 15 sogenannte Mautstellen in 30 Minuten
Ich bin jetzt eine menschliche Fracht. Die Trochas, auf denen er mich mitnimmt, dienen hauptsächlich dazu, Kokain zu den Landebahnen zu bringen, von denen aus die einmotorigen Flugzeuge nach Norden starten.
Der Fahrer ist ein Wayuu. Alles an ihm ist schwarz. Sein Motorrad, sein Helm, seine Jacke, seine Handschuhe, sein Haar: schwarz, schwarz, schwarz, schwarz und schwarz.
Auf einigen Strecken kommen wir schnell voran, aber auf anderen müssen wir stark abbremsen, um die Mautgebühren zu bezahlen. Die erste ist die mit den beiden Kindern, von denen ich schon erzählt habe. Die zweite kommt kaum zehn Meter danach. Diesmal ist es eine Frau. Das muss die Mutter der Kinder sein. Sie trägt ein weites, rosafarbenes, abgetragenes Kleid, das bis zu ihren nackten Füßen reicht.
Mein Fahrer wechselt ein paar Worte in Wayuu mit ihr und gibt ihr ein paar Münzen. Auch sie macht ein winziges „Hehe“, als sie auf die Münzen hinunterblickt und uns durchlässt.
„Sie verbringen also den ganzen Tag dort?“, frage ich den Fahrer. Nur weil ich gerade geschmuggelt werde, heißt das ja nicht, dass ich nicht ein bisschen plaudern kann.
„Das ist so ziemlich alles, was sie tun! Sie sind nicht von hier, oder?“
„Nein, ich bin aus Puerto Ordaz.“
„Oh, da war ich schon. Ich habe bei der Polizei gearbeitet, aber das ist schon lange her. Es ist eine schöne Stadt.“
„Es war eine schöne Stadt. Was glaubst du, warum ich auf einer Trocha wie dieser aus dem Land fliehen muss?“
„Ja, hier ist es auch nicht so gut. Wir überlegen uns alle, wie wir überleben können. Aber keine Sorge, ich bringe dich sicher rüber. Übrigens, ich heiße Tito.“
Die Häuser hier verraten ein Ausmaß an Armut, das ich in Puerto Ordaz selten gesehen habe. Einfache Hütten aus Zinkbleck, abgenutztem Lehm oder Stöcken säumen die Trochas. Die Wayuu entlang dieses Grenzabschnitts scheinen von allen verlassen worden zu sein. Hier draußen gibt es keine Schulen, keine Straßen, keine Stromleitungen, nichts. Diese Menschen haben hier schon gelebt, bevor Kolumbus auftauchte. Sie sollten zwei Länder haben, die sich um sie kümmern, aber sie haben keins.
Kein Wunder, dass sie Benzin, Kinder oder Carlos schmuggeln. Die ärmeren unter ihnen nehmen sich ein Beispiel an den Militärs und stellen ihre provisorischen Mautstellen auf dem Weg auf, um Reisende für einen Hungerlohn abzuzocken. Sie haben keine Waffen und machen auch keine besonders bedrohliche Figur. Ihr Geschäftsmodell ist ehrlich gesagt eher Mitleid als Zwang.
Es scheint die einzige wirtschaftliche Tätigkeit zu sein, die den meisten Menschen hier offensteht.
Als wir wieder auf die Asphaltstraße kommen, fahren wir durch ein Dorf, Guarero. Neben den Lehm-, Stock- und Zinkhütten gibt es jetzt auch einige Betonhäuser. Am Straßenrand verkaufen Männer Treibstoff in gebrauchten Wasserflaschen. Jeder Stand, einen halben Kilometer zum nächsten entfernt, besteht aus einem Tisch, Holzstöcken und manchmal einem Dach aus Palmen. Durch die durchsichtigen Flaschen kann man die gelbe Flüssigkeit sehen. Bevor die venezolanische Wirtschaft zusammenbrach, war der Treibstoffschmuggel das große Geschäft in dieser Gegend: Man kaufte in Venezuela hoch subventionierten Treibstoff, um ihn in Kolumbien zu internationalen Preisen weiterzuverkaufen.
Heutzutage sind die Tankstellen in Venezuela größtenteils geschlossen und die Warteschlangen können sich über Tage hinziehen. Wenn eine seltene Benzinlieferung aus Iran eintrifft, löst sie das Problem für ein paar Städte für ein paar Tage und das war’s.
Eine indigene Wayuu verkauft venezolanisches Benzin an der Grenze zwischen Kolumbien und Venezuela. © Getty Images / Guillermo Legaria
Wir halten an einer dieser „Tankstellen“. Hier arbeiten eine alte Wayuu-Frau in einem wallenden dunkelblauen Kleid und eine andere Frau, Mitte 20, mit einem rosa T-Shirt, auf dessen Vorderseite das Wort „Babe“ prangt.
Die alte Frau füllt den Tank des Motorrads mithilfe eines Trichters, der aus dem oberen Teil einer Limonadenflasche besteht.
Tito spricht mit „Babe“ in einem Mix aus Wayuu und Spanisch. Alles was ich verstehe ist „Eine Fahrt ist eine Fahrt“ und ehe ich mich versehe, springt sie auf das Motorrad. Jetzt bin ich zwischen den beiden eingeklemmt.
„Jetzt fährst du wirklich unter Bewachung!“, scherzt „Babe“.
Tito bezahlt die alte Frau für den Sprit und los geht’s.
Es dauert nicht lange, bis wir wieder auf einer illegalen Trocha unterwegs sind. Tito erzählt mir, dass diese Route länger ist, aber wir damit fünf Militärkontrollpunkte umgehen.
„Ich nehme diese Route nicht gerne“, sagt er. „Aber für Kunden, die kein Geld haben, die Soldaten zu bezahlen, ist es der einzige Weg.“
Je weiter man sich der kolumbianischen Grenze nähert, desto dichter werden die Wayuu-Mautstellen. An manchen Orten findet man ganze Gruppen von Mautstellen: vier oder fünf Mautstellen im Abstand von ein bis zwei Autolängen. Sie stehen so dicht beieinander, dass die Männer, die an einer Mautstelle arbeiten, sich problemlos mit den Männern auf der anderen Seite unterhalten können. Um Schatten zu finden, versuchen sie, sich unter Bäumen aufzustellen, aber davon gibt es nicht viele. Ein Pförtner hat das Glück, zwei Bäume in der Nähe zu haben, sodass er eine Hängematte dazwischen aufspannen kann. Jeder Stand erfordert ein wenig Verhandlung, ein paar Münzen, ein paar „Hes“. Ich habe keine Uhr, aber ich schätze, dass wir dieses kleine Ritual innerhalb von 30 Minuten mindestens 15 Mal wiederholt haben.
Manchmal geraten die Verhandlungen ins Stocken. Ich verstehe ihre Sprache nicht, aber ich habe das Gefühl, dass einige Pförtner versuchen, uns mehr zu berechnen, weil wir jetzt zwei Passagiere sind. Tito feilscht; der Pförtner scheint nur widerwillig zuzustimmen. Tito überreicht ein paar Münzen und wir gehen zum nächsten, um das Ganze zu wiederholen.
„Babe“ bleibt in La Raya, einem winzigen Dorf direkt an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze und ich werde an einen anderen Fahrer weitergereicht. Der neue ist weniger gesprächig als Tito.
Nach ein paar weiteren Mautstellen geht es auf die Asphaltstraße. Auf der kolumbianischen Seite kommen wir an einer Grenzstation vorbei; die Wachen ignorieren uns völlig.
Etappe 4: Ein erdrückendes, allumfassendes Auf-sich-allein-gestellt-sein
Zehn Kilometer weiter kommen wir in Maicao an. Hier gibt es nicht viel. Celys, die mein Gepäck und ein Telefon hat, ist nirgends zu finden. Ich bin hungrig, durstig, schlaflos, ohne Telefon und ohne einen Pfennig.
Aber ich bin in Kolumbien, meinem gelobten Land.
Dann warte ich. Und warte. Hungriger und hungriger, durstiger und durstiger, versuche ich zu erraten, wie viel Uhr es ist, indem ich der Sonne auf ihrem Weg zum Horizont folge.
Was ist, wenn Celys nicht auftaucht? Soll ich zur Polizei gehen? Kann ich das überhaupt tun? Ich bin illegal hier. Ohne Papiere kann ich nicht einmal beweisen, dass ich ich bin.
Ich beobachte die Obdachlosen, die am Busbahnhof herumhängen, betteln und im Müll nach etwas Essbarem wühlen. Ich sehe mir ihre Kleidung an und frage mich, wie lange es dauern wird, bis ich genauso aussehe wie sie.
Ich weiß nicht, ob es ein Wort gibt für dieses Gefühl der völligen Hilflosigkeit, der totalen Verlassenheit. Es geht nicht nur um das Geld oder die Dokumente. Es ist das Abgeschnittensein von allen normalen Institutionen, zu denen jeder Zugang haben sollte, der in Schwierigkeiten ist. Ein erdrückendes, allumfassendes Auf-sich-allein-gestellt-sein. Ich sitze da und warte auf Celys und das bedrohliche Gefühl wird immer größer.
Ein Junge, der auf der Straße Kaugummi verkauft, macht eine Pause in einem Geschäft, das Waren und Alkohol aus Venezuela verkauft. © Getty Images / Kaveh Kazemi
Celys kommt nicht.
Später erfahre ich, dass man sie an einem anderen Terminal abgesetzt hat und dass sie auch mit dem Motorrad fahren musste. Sie hat mich nie gefunden und musste mit meinem Gepäck nach Barranquilla fahren.
Als die Nacht hereinbricht, überrede ich einen Angestellten des Busunternehmens, mir sein Telefon zu geben, damit meine Freunde in Medellín ihm das Geld für mein Ticket überweisen können. Es dauert weitere 15 Stunden in einem Bus voller anderer verzweifelter Venezolaner, aber ich komme sicher an, auch dank der Nächstenliebe der Kolumbianer entlang des Weges. Sie haben sich schon an den nicht abreißenden Strom hungernder Venezolaner gewöhnt und einige helfen uns mit Essen, Decken und dergleichen. Gott sei Dank.
Die Busse in Kolumbien sind nicht sehr komfortabel. Aber niemand hält sie an, um dich zu erpressen.
Die Venezolaner, die ich unterwegs treffe, sind genau wie ich unterwegs, ohne Telefon, Dokumente oder Geld. Im Gegensatz zu mir haben sie ihr Zuhause auf diese Weise verlassen. Eine allein reisende Mutter mit einjährigen Zwillingen erzählt mir, dass sie in Medellín Süßigkeiten auf der Straße verkaufen will, um zu überleben. Ich freunde mich mit den Babys an und spiele mit ihnen „Kuckuck“, um mir die Zeit zu vertreiben.
Aber es ist das Bild der Wayuu-Mautstellen, das mich verfolgt. Da sich ihre Heimat in eine Schmuggelroute verwandelt hat und sie von niemandem Hilfe bekommen, sind sie zu einer Art armen Version des Militärs geworden, das sie ausbeutet – uns alle ausbeutet. Ein Stück Seil, ein alter Baumstamm: Das ist alles, womit sie arbeiten können. Sie tun, was ich tue und finden Wege, nicht zu sterben.
Immerhin: Ein Land, das mich nicht aktiv schikaniert
Ich bin jetzt seit ein paar Monaten in Kolumbien. Celys hat es geschafft, mir meinen Rucksack aus Barranquilla zu schicken, in dem mein Laptop war, auf dem ich das hier schreibe. Meine Freunde haben mir dabei geholfen, einige Kryptowährungen in kolumbianische Pesos umzutauschen und mir ein neues Telefon zu besorgen, sodass ich jetzt wieder über Whatsapp erreichbar bin. Ich habe Zugang zur grundlegenden Versorgung und das Essen ist hier tatsächlich erschwinglich.
Trotzdem hat sich das Gefühl des Fremdseins noch nicht ganz gelegt. Ich habe immer noch keine Papiere, bin verwaltungstechnisch gesehen immer noch ein Halbmensch. Ich kann weder ein Bankkonto eröffnen noch ein Haus mieten oder ein Flugticket kaufen. Aber der kolumbianische Staat ignoriert mich, anstatt mich aktiv zu schikanieren.
Für den Moment ist das genug.
Carlos ist venezolanischer Wirtschaftswissenschaftler, der von seinem Leben in Venezuela berichtet. Seine Texte sind in „Caracas Chronicles“, „The New York Times“, „The Washington Post“ und „Americas Quarterly“ erschienen.
Dieser Artikel erschien ursprünglich auf der Plattform „Persuasion“.
Übersetzung: Deborah Hohmann; Redaktion: Bent Freiwald; Schlussredaktion: Tarek Barkouni; Fotoredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert