Die EU-Außengrenze – wo verläuft die nochmal?
Hier:
Diese Darstellung müsste dir bekannt vorkommen. So ganz stimmt sie aber nicht. Mittlerweile verläuft die Grenze der EU eher hier:
Moment mal. Das ist Afrika und nicht Europa.
Stimmt. Aber seit einigen Jahren verschiebt die EU ihre Grenze nach Süden. Und zwar, indem sie mit afrikanischen Staaten wie Niger oder Mali Abkommen zur Migrationskontrolle schließt. Dafür gibt es auch einen Begriff, die sogenannte Externalisierung der EU-Außengrenze. Externalisierung bedeutet Verschiebung nach außen.
Wie verschiebt man denn eine Grenze nach außen?
Die EU unterstützt afrikanische Staaten mit Ausrüstung, Geld und Trainingsprogrammen für GrenzbeamtInnen – wenn diese dafür durchreisende Migrant:innen auf dem Weg nach Europa aufhalten. So möchte die EU erreichen, dass es Menschen gar nicht erst bis ans Mittelmeer schaffen, um von dort nach Europa überzusetzen.
Wie genau funktioniert das?
Ein Beispiel: Die Republik Niger in der südlichen Sahara ist eines der ärmsten Länder der Welt. Im Human-Development-Index 2020 belegte es den letzten von 189 Plätzen. Laut UNHCR befinden sich derzeit mehr als 500.000 Geflüchtete im Land. Der Niger war lange Zeit ein wichtiges Durchreiseland für Migrant:innen auf dem Weg in Richtung Mittelmeer, die Handelsstadt Agadez Ausgangspunkt für die Durchquerung der Sahara. Doch das hat sich inzwischen geändert.
Auf Druck der EU verabschiedete die nigrische Regierung im Jahr 2015 ein Gesetz gegen „Menschenschmuggel“. Fahrer:innen, die Staatsangehörige der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) ohne gültige Reisepapiere in Richtung Libyen bringen, können seitdem bis zu 25 Jahre ins Gefängnis kommen. Das trifft auf die meisten Flüchtlinge zu, die sich auf den Weg nach Europa machen. 2012 hat die EU außerdem die zivile Mission „EUCAP Sahel Niger“ begonnen. Seitdem bilden europäische Polizist:innen nigrische Sicherheitskräfte aus, um besser mit Terrorismus, Drogen- und Waffenhandel in der Region fertig zu werden. Und: zur „Kontrolle irregulärer Migration“.
Das bedeutet: Europäische Beamt:innen trainieren nigrische Grenzschutzbehörden, damit Migrant:innen das Land nicht in Richtung Mittelmeer verlassen können. Auch die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, Frontex, arbeitet vor Ort. Deutschland lieferte Fahrzeuge und Radargeräte. Die Belohnung: Laut Auswärtigem Amt ist Niger inzwischen „größter Empfänger von EU-Entwicklungsgeldern“.
Und geht die Strategie der EU auf?
Ja. Flüchtlinge aus Afrika nehmen meist die zentrale Mittelmeerroute, also von Tunesien oder Libyen nach Italien. 2014 erreichten auf diese Weise 170.100 Menschen Italien. 2020 waren es laut Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen nur noch 34.154.
Die Zahlen sind in den vergangenen Jahren deutlich gesunken. Neben der Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache liegt das vor allem an den verschärften Grenzkontrollen in der Sahelzone, zum Beispiel im Sudan oder Niger. Doch es gibt auch Kritik.
Zum Beispiel?
Drei Punkte. Erstens sterben immer mehr Menschen bei dem Versuch, die Sahara jenseits der bekannten Routen zu durchqueren. Als „Friedhof unter freiem Himmel“ bezeichnete der nigrische Journalist Ibrahim Manzo Diallo die Sahara gegenüber der Deutschen Welle. Diallo argumentiert so: Die nigrischen Grenzschutzbehörden stationieren sich gezielt an Wasserstellen auf der Wüstenstrecke nach Libyen. Um der Verhaftung zu entgehen, machen die Fahrer:innen Umwege – teilweise mit tödlichen Folgen.
Zweitens kritisieren Menschenrechtler:innen, dass die EU zur Verhinderung von Migration auch mit Diktaturen und autoritären Regimen zusammenarbeitet. Damit stärkt sie solche Regierungen. Schließlich fließt das EU-Geld in die Ausbildung und Ausstattung von Polizist:innen und Grenzbeamt:innen – und die sichern solche Regime. Außerdem gibt es ihnen ein Druckmittel: „Wir kümmern uns darum, dass weniger Migrant:innen die EU-Außengrenze erreichen, dafür mischt ihr euch nicht in unsere Innenpolitik ein“.
Drittens, und jetzt werden wir etwas grundsätzlich, zeigt ein Blick in die Vergangenheit: Wenn eine Route geschlossen wird, passen Flüchtlinge und Schmuggler:innen sich an. Die Routen verändern sich, aber Menschen riskieren weiterhin ihr Leben, um zu fliehen. Das zeigt sich weltweit, auf den Routen durch die Sahara in Richtung Europa genauso wie bei den Versuchen, von Lateinamerika aus die USA zu erreichen.
Welche Routen nach Europa gibt es denn?
Es gibt die östliche Route von der Türkei nach Griechenland, Zypern oder Bulgarien; die zentrale Mittelmeerroute von Libyen oder Tunesien nach Malta oder Zypern; die westliche Route nach Spanien und die westafrikanische Route auf die kanarischen Inseln. Dort kamen 2020 mehr als sechsmal so viele Geflüchtete an als im Vorjahr – obwohl die Überfahrt als eine der gefährlichsten Fluchtrouten der Welt gilt.
Dass Geflüchtete es immer weiter probieren, zeigt sich auch auf den sogenannten Balkanrouten: Weil die Lebensbedingungen und Asyl-Anerkennungsquoten in der EU nicht überall gleich sind, fliehen viele Flüchtlinge, die die EU in Griechenland erreicht haben, weiter nach Zentraleuropa. Die Grenzen von Ungarn und Kroatien sind streng bewacht, Flüchtende werden mit Gewalt aufgehalten. Trotzdem harren Tausende Menschen dort aus und probieren es immer wieder.
Du sagt also, es bringt gar nichts, die Routen zu schließen?
Um es einmal deutlich zu sagen: Je gewaltbereiter Sicherheitskräfte sind, desto weniger Menschen kommen über Grenzen, das ist klar. Das hat sich auch in der Vergangenheit gezeigt, zum Beispiel am sogenannten Todesstreifen der DDR. Aber die EU muss sich nicht an der DDR messen, sondern an ihren eigenen Gesetzen und Regeln, zum Beispiel an der europäischen Menschenrechtskonvention.
Und hier kommen wir zum Thema: Es fällt manchmal schwer, sich daran zu erinnern, aber die EU stand mal für offene Grenzen und Menschenrechte. Heute steht sie jedoch für tödlichste Außengrenze der Welt. Die Frage ist, wie es dazu kommen konnte. Meine These: Einerseits wurde die aktuelle EU-Flüchtlingspolitik durch den Migrationssommer 2015 befeuert. Andererseits – und das vergessen wir oft – liegen ihre Wurzeln viel weiter in der Vergangenheit: Sie ist das Ergebnis von tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte. Nur wenn wir das verstehen, können wir die Gegenwart richtig einordnen.
Okay, aber fangen wir mal von vorne an: Warum fliehen Menschen überhaupt über das Mittelmeer, wenn das so gefährlich ist?
Das grundlegende Problem ist: Die meisten Menschen auf der Flucht haben so gut wie keine legale Möglichkeit, Asyl in der EU zu beantragen. Deshalb versuchen viele es auf irreguläre Weise.
Was meinst du?
Eine verfolgte Frau aus Eritrea kann nicht einfach in ein Flugzeug steigen, nach München fliegen und in Deutschland Asyl beantragen.
Warum denn nicht?
Das liegt an der EU-Richtlinie 2001/51/EC. Die regelt: Fliegt eine Person nach Europa und wird hier am Flughafen aufgrund fehlender oder unvollständiger Reisedokumente abgewiesen, muss die Airline eine Strafe zahlen.
Die Richtlinie hat den Zweck, illegale Einwanderung zu verhindern. Für Asylsuchende gilt sie eigentlich nicht. Weil aber jeder Fehler für die Fluglinie teuer werden könnte, gehen die Angestellten am Schalter kein Risiko ein. Wer kein Visum hat, darf nicht an Bord. Egal ob Flüchtling oder Migrant:in.
Wo genau liegt denn der Unterschied zwischen Flüchtling und Migrant:in?
Flüchtlinge werden durch Gewalt, Verfolgung oder Kriege dazu gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 stellt klar: Ein Flüchtling ist eine Person, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ Schutz außerhalb ihres Landes sucht.
Der Begriff „Flüchtling“ in seiner aktuellen Bedeutung entstammt dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, als nach dem Ersten Weltkrieg Millionen von Menschen in Europa zu Staatenlosen wurden. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges einigte sich die internationale Staatengemeinschaft dann erstmals auf eine gemeinsame Definition des Begriffs.
Hintergrund waren unter anderem die zahlreichen Zurückweisungen und Abschiebungen jüdischer Flüchtlinge während des Zweiten Weltkrieges. Dabei hätte es auch anders laufen können: Am 6. Juli 1938 trafen sich Vertreter:innen von 32 Staaten zu einer Konferenz in einem Nobelhotel des französischen Badeorts Évian-les-Bains am Genfer See. Ziel des Treffens: über die Aufnahme von 550.000 Jüdinnen und Juden verhandeln. Die Konferenz von Évian ging in die Geschichte ein – als Debakel. Kein Land war bereit, einer größeren Anzahl Asyl zu gewähren. Nach dem Krieg waren sich dann fast alle einig: Das darf nicht noch einmal passieren.
Das heißt also: Asyl ist eigentlich kein Gnadenakt?
Richtig. Jeder verfolgte Mensch hat ein Recht auf Schutz – unabhängig von Herkunft, Sexualität oder Religion. Beantragt eine Person in einem anderen Land Asyl, muss geprüft werden, ob ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Ist sie das, erhält die Person Schutz. Wenn nicht, kann sie zurückgeführt werden.
Migrant:innen wiederum entschließen sich freiwillig dazu, ihre Heimat zu verlassen.
Weil sie auf auf bessere Lebensbedingungen hoffen?
Genau. Das Problem ist: Für ein gutes Leben brauchen wir Menschen eine Balance aus Sicherheit und Freiheit. Eine gute Kombination von beidem ist für die meisten Menschen in Europa, Nordamerika oder Australien, also im globalen Norden, tendenziell möglich (natürlich hängt das auch von Herkunft, Einkommen und Vermögen ab).
Für viele Menschen des globalen Südens gilt das nicht. Sie haben weniger Möglichkeiten: weniger oder schlecht bezahlte Arbeit, mehr politische Instabilität, Gewalt und Dürren.
Wie groß die Unterschiede sind, zeigt zum Beispiel der Human-Development-Index (HDI), der weltweit Einkommen, Bildung und Lebenserwartung misst und miteinander vergleicht – und auf einer Skala von 0 bis 1 einordnet, wobei 1 der höchstmögliche Wert ist. Die Länder mit den höchsten Werten liegen größtenteils im globalen Norden, die mit den niedrigsten vor allem in Afrika. Die Unterschiede sind also groß. Die einzige Perspektive, die viele Bewohner:innen des globalen Südens sehen: Migration.
Das verstehe ich, aber warum haben sich nicht schon früher so viele Menschen auf den Weg gemacht?
Dafür sind neben politischen Konflikten und Klimawandelfolgen zwei Entwicklungen verantwortlich, die erst einmal widersprüchlich wirken.
Die Nord-Süd-Unterschiede kommen nicht aus dem Nichts. Sie sind das Ergebnis teilweise jahrhundertelanger Ausbeutung durch die Länder des globalen Nordens. Nach Ende der Kolonialzeit versprachen diese, das Problem zu entschärfen. Sie stellten Armut und Unterdrückung in ehemaligen Kolonien als ein zeitlich begrenztes Problem dar, das durch „Entwicklungshilfe“ Jahr für Jahr kleiner werde, um schließlich ganz zu verschwinden – und die Welt auf diese Weise in einen Ort der Chancengleichheit verwandeln würde.
Einerseits hat sich dieses Versprechen vielerorts als falsch erwiesen. Die Unterschiede sind immer noch groß, die Hoffnung wird immer kleiner.
Andererseits hat sich in den vergangenen 20 Jahren auch viel verbessert: Weltweit hat sich die Zahl der extrem Armen halbiert, die Lebenserwartung ist gestiegen und 80 Prozent der Mädchen gehen zur Schule. Die Globalisierung hat die Welt nicht nur kleiner gemacht, sondern Millionen Menschen aus der extremen Armut geholfen – und damit die Voraussetzung geschaffen, dass sie sich die Flucht überhaupt leisten können.
Aber warum beantragen sie kein Visum?
EU-Visa sind sehr schwer zu bekommen, gerade in Krisenländern. Botschaften und Konsulate, die Visa ausstellen, sind dort meist schwer erreichbar, überlastet oder längst geschlossen.
Außerdem müssen Antragsteller:innen entweder einen Job in Europa oder ein ausreichendes, eigenes Einkommen und eine Auslandskrankenversicherung nachweisen – und glaubhaft machen, dass sie wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren wollen. Sind sich die Behörden da unsicher, gibt es kein Visum.
Okay, legale Migrationswege sind also kaum vorhanden. Also machen sie sich auf eigene Faust auf den Weg.
Du sagst es. Und weil eine Flucht über das Mittelmeer Monate oder Jahre dauern kann und deutlich teurer ist als ein Flugticket, macht sich besonders die Mittelschicht auf den Weg: Sie kann es sich überhaupt leisten. Weil es aber immer noch sehr viel Geld ist, schicken die meisten Familien nur ein einzelnes Familienmitglied los.
Junge Männer!
Ja, junge Männer, die die AfD so gerne als Beispiel dafür anführt, dass das doch keine „richtigen Flüchtlinge“ seien. Das Argument geht so: „Richtige Flüchtlinge“ fliehen mit der ganzen Familie. Man lässt doch niemanden zurück, wenn man vor dem Krieg flieht!
Ist da nicht etwas dran?
Machen wir einen Schritt zurück. Egal, ob wir über syrische Flüchtlinge in der Türkei oder Migrant:innen aus Niger reden: Eine Familie spart und legt zusammen, um einem Mitglied die Reise zu ermöglichen. Später, so der Plan, kommt der Rest nach – auf legalem Weg. Der ist weniger gefährlich als die Flucht über das Mittelmeer.
Die Durchquerung der Wüste oder die Überfahrt über das Mittelmeer sind gefährlich und kräftezehrend. Auf dem Weg drohen Gewalt, Entführung, Folter und, besonders für Frauen, sexualisierte Gewalt. Das bedeutet: Junge Männer haben die bessere Chance zu überleben.
Die Erwägung, ein junges männliches Familienmitglied loszuschicken, ist in vielen Fällen also eine rationale Überlegung. Gleichzeitig lastet auf ihnen ein großer Druck: Jede Form der Rückkehr gleicht dem Eingeständnis eines Scheiterns. Insbesondere, wenn die Familie zuvor alle verfügbaren Ressourcen aufgebracht hat, um den Aufbruch zu ermöglichen.
Deshalb die große Risikobereitschaft bei dem Versuch, nach Europa zu kommen!
Genau. Die wird nirgends so deutlich wie in Ceuta und Melilla. Die beiden autonomen Städte gehören zu Spanien, liegen aber mitten im marokkanischen Staatsgebiet. Was dort geschieht, ist eigentlich unfassbar.
Weil die EU-Außengrenze dort verläuft, sind beide Städte von stark militarisierten Grenzanlagen umgeben: Allein auf spanischer Seite sind es drei parallele Stacheldrahtzäune, ausgestattet mit Bewegungsmeldern, Scheinwerfern und Überwachungskameras, die äußeren Gitter sind sechs Meter hoch und nach außen gewölbt.
Diese Grenze zu überqueren, ist quasi unmöglich. Trotzdem probieren Menschen es immer wieder – und riskieren jedes mal ihren Tod. Die sogenannten „Jumper“ hausen auf den Bergen vor der Stadt. Jahrelang versuchen sie, über die meterhohen Gitter und Stacheldrahtzäune zu klettern. Solange, bis sie es irgendwann nach Europa schaffen, abgeschoben werden oder sterben.
Dabei sind ihre Aussichten eher düster, selbst wenn sie es auf die spanische Seite schaffen.
Inwiefern?
Im Februar 2020 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte: Wenn Menschen diese Grenzzäune überqueren, darf Spanien sie sofort nach Marokko abschieben – ohne Prüfung des Asylantrags. Die Betroffenen hätten legale Wege für ihren Asylantrag nutzen können, begründeten die Richter:innen ihr Urteil.
Dass das de facto unmöglich ist, zeigt die britische Recherche-Plattform Forensic Architecture: In der ganzen Stadt Ceuta sind Beamte einer speziellen Grenzpolizei unterwegs, um Geflüchtete aufzuhalten. Und alle, die sich der spanischen Grenzanlage annähern, müssten erst drei hoch militarisierte marokkanische Checkpoints passieren. Spätestens dort werden Schwarze aufgehalten. Sie haben also keine legale Möglichkeit, Asyl in der EU zu beantragen.
Sind nicht erst vor Kurzem einige Tausend Menschen nach Ceuta gekommen?
Richtig. Nach einem diplomatischen Streit mit Spanien stoppte die marokkanische Grenzpolizei Mitte Mai ihre Grenzkontrollen. Innerhalb weniger Tage erreichten mehr als 8.000 Menschen Ceuta. Manche kletterten über die Zäune, der Großteil schwamm außen um sie herum. Die meisten wurden sofort wieder abgeschoben, doch die Bilder gingen um die Welt. Sie zeigten einmal mehr, wie Staaten Menschen auf der Flucht für ihre politischen Zwecke instrumentalisieren. Und wie verzweifelt viele Menschen versuchen, Europa zu erreichen – selbst wenn ihnen die sofortige Abschiebung droht.
Naja, das sind aber auch nicht alles Flüchtlinge, oder?
Richtig. Aber oft ist das gar nicht so leicht auseinanderzudröseln. Ob jemand Anspruch auf Schutz in der EU hat, muss deshalb in einem rechtmäßigen Verfahren geklärt werden.
Ein Beispiel: Jemand verlässt den Niger, weil er in Armut lebt und keine Perspektive für sich sieht. Dann flieht diese Person nach Libyen, will von dort nach Italien übersetzen. In Libyen herrscht seit Jahren Bürgerkrieg. Geflüchtete werden entführt, gefoltert, vergewaltigt, verkauft und versklavt, wie zum Beispiel dieses heimlich aufgenommene Video zeigt.
https://www.youtube.com/watch?v=cVdFr3nwAco
Was ich sagen will: Selbst Menschen, die erst einmal „nur“ versuchen, Armut und Perspektivlosigkeit zu entkommen, können auf dem Weg zu Flüchtlingen gemacht werden. Sie haben ein Recht darauf, dass ihr Fluchtgrund individuell geprüft wird.
Man könnte also auch sagen: Jede Person, die Asyl beantragt, muss erst einmal als potenzieller Flüchtling behandelt werden.
Genau.
Und das tut die EU nicht?
Das zeigt ein Blick an die EU-Außengrenze. Anstatt Menschen in Seenot zu retten und ihre Asylgesuche zu prüfen, überlässt die EU Geflüchtete im zentralen Mittelmeer der sogenannten libyschen Küstenwache – die von der EU Ausrüstung und Geld bekommt und Geflüchtete in Lager bringt, in denen Gewalt, Folter, Vergewaltigung und Tod drohen.
In der Ägäis sitzen seit dem EU-Türkei-Deal 2016 Tausende Geflüchtete in Lagern auf den griechischen Inseln fest. Sie leben unter menschenunwürdigen Bedingungen. Die EU-Kommission und die griechische Regierung weisen jede Verantwortung von sich. (Wenn du mehr über die Vereinbarung zwischen EU und Türkei erfahren willst, klicke auf das „i” am Ende des Absatzes.)
Gleichzeitig gibt es fast täglich Berichte über Pushbacks auf dem Meer – teilweise unter Anwesenheit der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex. Die griechische Küstenwache drängt Geflüchtete auf dem Meer zurück und bringt sie dabei in Lebensgefahr, wie zum Beispiel dieses Video zeigt.
https://www.youtube.com/watch?v=Y7Y3moC6Cxc
Ähnliche Gefahr droht Menschen auf den Balkanrouten. Und als die türkische Regierung Ende Februar 2020 den EU-Türkei-Deal zeitweilig aufkündigte, setzte die griechische Regierung Asylverfahren für einen Monat aus. An der Landgrenze zur Türkei stoppte sie Flüchtende mit Gewalt, eine Person wurde getötet. Anstatt diesen offensichtlichen Rechtsbruch zu kritisieren, flog EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Griechenland und dankte dem Land dafür, das „Aspida“ (Schutzschild) Europas zu sein.
All das ist letztlich Teil eines größeren Phänomens: Die EU höhlt das Asylrecht aus.
Soll heißen?
Die EU erschwert nach und nach den Zugang zu ihrem Asylsystem. Dafür setzt sie auf die Vorverlagerung von Grenzkontrollen, Methoden zur Abschreckung und Rücknahmeabkommen mit Drittstaaten.
Und sie deutet alle Menschen an ihren Außengrenzen im Vornherein zu „illegalen Zuwanderern” um, behandelt sie also nicht wie potenzielle Flüchtlinge. So verwehrt sie ihnen die Behandlung, die ihnen laut europäischem Recht eigentlich zusteht.
Okay, warte mal, da sind wir ja wieder: Es gab mal eine Zeit, da fielen überall in Europa die Grenzen. Die EU dehnte sich aus und man hatte das Gefühl, die Welt wächst immer weiter zusammen. Wie sind wir jetzt in einer solchen Situation gelandet?
Um das zu verstehen, müssen wir aus der Gegenwart herauszoomen. Die Situation an den Außengrenzen ist das Ergebnis von Konflikten und Veränderungen, die im Inneren der EU schon länger brodeln – und durch die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 beschleunigt wurden.
Seither sind Fragen von Asyl, Flucht und Migration zu einer zentralen Konfliktlinie europäischer Politik geworden, der Ausnahmezustand von 2015 gilt als Rechtfertigung der neuen Abschreckungs-Normalität: Ohne sie würden Millionen von Menschen jedes Jahr ankommen, lautet der Tenor.
Naja, das stimmt ja auch, oder?
Zwei Zahlen geistern immer wieder durch die Medien:
- 80 Millionen Flüchtlinge gibt es weltweit
- und 60 Millionen aus Subsahara-Afrika sind angeblich auf dem Weg nach Europa
Die erste Zahl stimmt. Sie stammt vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Die Zahl der Flüchtlinge weltweit ist höher als je zuvor, gezählt werden aber auch Vertriebene im eigenen Land und Menschen, die bereits Asyl in einem anderen Land bekommen haben.
Die zweite Zahl zitierten der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, das britische Verteidigungsministerium und UN-Funktionäre, um vor riesigen Flüchtlingsströmen zu warnen. Sie ist furchteinflößend, aber falsch. Die Zahl stammt ursprünglich aus dem Bericht einer Expertengruppe im Vorfeld der UN-Klimakonferenz 2009. Sie warnte damals: Weil es immer trockener wird, könnten sich bis 2020 60 Millionen Menschen aus Subsahara-Afrika auf den Weg nach Nordafrika oder Europa machen. Das ist nicht passiert. Trotzdem greifen Politiker:innen die Zahl immer wieder auf.
Um einmal zu zeigen, wie verzerrt sie ist: Aus Afrika kamen zwischen 2014 und 2019 insgesamt etwa 648.000 Menschen irregulär nach Europa. Das sind 0,6 Millionen. Im gleichen Zeitraum erreichten insgesamt etwas mehr als zwei Millionen Menschen irregulär Europa, die meisten aus Syrien, Afghanistan und Irak, und viele davon in einem kurzen Zeitraum, zwischen April 2015 und März 2016. Nehmen wir zum Vergleich die Gesamtbevölkerung der EU und Großbritannien – 513 Millionen Menschen –, dann sehen wir: Das sind lediglich 0,4 Prozent davon.
Gut, aber es werden ja mehr werden, oder?
Die Vermutung liegt erst einmal nahe: Klimakrise, Kriege, Ungleichheit und die Folgen der Pandemie verschlechtern die Lebensbedingungen an vielen Orten, gerade im globalen Süden. Dennoch gibt es keine Zahlen, die verlässlich vorhersagen, wie viele sich wirklich auf den Weg nach Europa machen.
Ein Beispiel: Die weltweite Meinungsumfrage Gallup World Poll wird jährlich unter ungefähr 1.000 Bewohner:innen jedes Landes durchgeführt. Zwischen 2010 und 2015 äußerten 24 bis 30 Prozent aller Afrikaner:innen über 15 Jahren den Wunsch, für einen bestimmten Zeitraum oder dauerhaft ins Ausland zu ziehen. Davon planten etwa vier bis sieben Prozent, sich innerhalb von zwölf Monaten auf den Weg zu machen. Aber bloß ein Prozent hatte tatsächlich konkrete Schritte für die Vorbereitung unternommen. Letztlich migrierten im gleichen Zeitraum insgesamt 0,12 Prozent, also 1,3 Millionen Menschen.
Wie man aus der Umfrage eine Schreckensmeldung macht, zeigte ein rechtskonservatives Magazin im Juni 2018. Dort hieß es: „Überträgt man die 2009 von Gallup für Subsahara-Afrikaner ermittelten Auswanderungswünsche von 38 Prozent auf heute, dann wollen von den jetzt knapp 1,1 Milliarden Einwohnern rund 400 Millionen ihre Heimat verlassen. 2050 stünden von dann 2,12 Milliarden Bürgern rund 800 Millionen für die Übersiedlung nach Europa bereit“. Das ist eine völlige Fehlinterpretation der Daten.
Was ich sagen will: Kriege, Klimakrise und Corona-Pandemie befeuern Flucht und Migration. Aber es gibt keinerlei fundierte Zahlen für die dramatischen Szenarien, die viele an die Wand malen.
Woran liegt es dann, dass die EU sich so abschottet?
Der zyprische Soziologe und Rechtswissenschaftler Nicos Trimikliniotis sagt: Verschiedene politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen haben Europa während der vergangenen 40 Jahre einschneidend verändert – und sich miteinander verbunden. Das hat der Politik der Gegenwart den Weg bereitet.
Welche Entwicklungen meint er?
Das Ende des Ost-West-Konflikts, die Attentate vom 11. September und der anschließende Krieg gegen den Terror, wachsender antimuslimischer Rassismus in Europa und neue Kriege, die Folgen von Neoliberalismus, Digitalisierung, Globalisierung und wachsender Ungleichheit – und die politischen Antworten auf all diese Entwicklungen.
Jetzt übertreibst du es aber. Was haben denn Digitalisierung und der Kalte Krieg mit der EU-Flüchtlingspolitik zu tun?
Das klingt erst einmal sehr erschlagend, aber schauen wir uns die wichtigsten Entwicklungen und ihre Auswirkungen einmal genauer an, Schritt für Schritt.
Der Niedergang der Sowjetunion 1991 markierte das endgültige Ende des Ost-West-Konflikts. Der hatte die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt. Der Fall des sogenannten Eisernen Vorhangs ordnete Europas Grenzen neu, ebnete den Weg für die heutige Mitgliederkonstellation der EU und ihre Außengrenze. Und er veränderte die Wahrnehmungen von Menschen auf der Flucht: Vor dem Ende des Kalten Krieges bewies jeder Flüchtling aus dem Osten dem Westen: Wir haben das bessere politische System. Als das nicht mehr galt, wurden Flüchtlinge plötzlich zur „Belastung“ für den eigenen Sozialstaat.
Das Ende des Kalten Krieges bereitete auch der EU-Osterweiterung den Weg: Bis 2004 verlief die EU-Außengrenze noch zwischen Deutschland und Polen, an der Oder-Neiße-Flusslinie. Auch dort starben immer wieder Flüchtlinge bei dem Versuch, in die EU zu gelangen. Die Tageszeitung (Taz) sprach vom „Todesstreifen Neiße“.
Als immer mehr Staaten der EU und dem Schengenraum beitraten und Grenzkontrollen wegfielen, wurde der Schutz der EU-Außengrenze zum gemeinsamen Anliegen aller Länder Europas. 2004 gründeten sie deshalb die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex. Sie versäumten es aber, eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik oder einen verpflichtenden Verteilungsmechanismus für Zuwanderer:innen zu beschließen. Gleichzeitig schürten Politiker:innen und Medien Angst vor „Fluten osteuropäischer Armuts- und Wirtschaftsmigranten“.
Projektionsfläche dieser Angst war zum Beispiel der polnische Klempner: „Holland zittert vor ihm, Österreich fürchtet ihn. La douce France erstarrt bei dem Gedanken, dass er mit seinen Zangen, Rohren und Schraubenziehern anrückt, als wären die englischen Bogenschützen von Crécy im Anmarsch“, schrieb der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk über die Angst vor massenhafter Einwanderung polnischer Handwerker, die den eigenen Markt unterwandern. Eine Angst, die bis heute immer wieder befeuert wird.
Man könnte also sagen: Das Ende des Kalten Krieges hat die EU in ihrer heutigen Form überhaupt erst möglich gemacht. Gleichzeitig hat das unsere Wahrnehmung von Flüchtlingen verändert. Und viele der westlichen EU-Länder standen den Osterweiterungen skeptisch gegenüber, weil sie Angst vor Wirtschaftsmigration hatten.
Genau. Dabei sah für einen kurzen Moment alles sehr rosig aus: Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts sprach der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sogar vom „Ende der Geschichte“. Er glaubte, Liberalismus und Demokratie hätten sich endgültig durchgesetzt – und der Menschheit stünde eine Epoche des Friedens und des Wohlstandes bevor. Leider hat er sich getäuscht.
Warum?
Im Nachhall des Kalten Krieges entstand eine ganze Reihe neuer Kriege und Konflikte. Für Europa zunächst besonders wichtig: der Bürgerkrieg in Afghanistan, bei dem die USA zunächst die Taliban unterstützten – bevor sie diese später bekämpften. Und die Jugoslawienkriege zwischen 1991 und 1999. Sie markierten den Zerfall der ehemaligen sozialistischen Volksrepublik in die heutigen Balkanstaaten Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien sowie Kosovo.
Das Massaker von Srebrenica war der größte Völkermord in Europa nach Ende des Zweiten Weltkriegs: Im Juli 1995 ermordeten bosnisch-serbische Milizen 8.000 muslimische Bosniaken – unter Anwesenheit niederländischer UN-Soldaten. Insgesamt verloren mehr als 200.000 Menschen ihr Leben, etwa drei Millionen wurden vertrieben.
Auch damals war von einer „Flüchtlingskrise“ die Rede: 350.000 Menschen flohen bis 1995 allein nach Deutschland. Hierzulande mehrten sich rassistische Angriffe, zum Beispiel in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen und Mölln. 1993 verschärften die CDU/CSU, FDP und SPD das Asylrecht. Seit dem sogenannten Asylkompromiss gilt: Wer aus „verfolgungsfreien“ Ländern (sichere Herkunftsländer) stammt oder über sogenannte sichere Drittstaaten einreist, hat in der Regel kein Recht auf Asyl.
Diese Konzepte breiteten sich in ganz Europa aus: Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten schufen mit der Zeit ein System von Verträgen mit Ländern an ihren Rändern, wie Libyen oder Marokko. Die verpflichteten sich, potentielle Asylsuchende gar nicht erst an die EU-Außengrenzen kommen zu lassen. Diese Abkommen trugen lange dazu bei, dass sich die Zahl der Asylanträge in der EU erheblich verringerte.
Das änderte sich erst, als sich immer mehr Krisen aufstapelten: Die weltweite Finanzkrise zum Beispiel. Und die Bürgerkriege in Libyen und Syrien.
Sprich, „Flüchtlingskrisen“ gab es schonmal. Und auch damals haben sie zur Verschärfung des Asylrechts geführt. Was macht 2015 dann so besonders?
Es kamen noch andere Entwicklungen hinzu: Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 vermischte sich die Asyl-Debatte mit dem „Kampf gegen Terror“, der mit wachsenden Vorurteilen gegen muslimische Menschen in Europa einherging.
Der Terror erreichte auch Europa. Am 11. März 2004 ermordeten islamistische Attentäter fast 200 Menschen in Madrid. Es folgten Anschläge in London, Paris, Brüssel, Nizza, Berlin, Manchester. Angst vor Zuwanderung und antimuslimische Ressentiments gab es schon vorher, vor allem in Integrationsdebatten um Gastarbeiter:innen und Arbeitsmigrant:innen. Aber wie sehr sich all das vermischte, zeigt das Jahr 2015 selbst.
Inwiefern?
Als das Bild des ertrunkenen zweijährigen syrischen Jungen Alan Kurdi im September 2015 um die Welt ging, gab es in Deutschland eine enorme Hilfsbereitschaft. Freiwillige begrüßten Geflüchtete an Bahnhöfen, Tausende engagierten sich.
Drei Monate später, am 13. November 2015, ermordeten islamistische Attentäter 130 Menschen in Paris. Als bekannt wurde, dass zwei der Attentäter als Flüchtlinge getarnt nach Frankreich eingereist waren, kippte die politische Stimmung. Das zeigt zum Beispiel dieser Tweet des CSU-Politikers Markus Söder.
https://twitter.com/Markus_Soeder/status/665508235894464512
Die Botschaft: Flüchtlinge sind ein Sicherheitsrisiko, die Situation außer Kontrolle geraten. Und der vermeintliche Kontrollverlust rechtfertigt alle Mittel, um „Recht und Ordnung“ wieder herzustellen.
Verstehe. Der „Krieg gegen den Terror“ sorgte dafür, dass sich Grenz-, Asyl- und Migrationspolitik plötzlich zu Fragen nationaler Sicherheit entwickelten. Dabei vermengte sich die Angst vor Terror mit antimuslimischen Vorurteilen.
Und verschmolzen mit einem weiteren Gefühl, das nach und nach in ganz Europa Fuß fasste: Abstiegsangst.
Warum?
Seit den 1980er Jahren entwickelte sich der Neoliberalismus zum Leitmotiv westlicher Wirtschaftspolitik. Neoliberalismus meint die Überzeugung, der Staat solle so wenig wie möglich in die Wirtschaft eingreifen – weil die sich selbst reguliere.
Diese Ideologie hatte massive Folgen für unsere Gesellschaften, wie die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown argumentiert: Regierungen in ganz Europa bemühten sich um den Abbau von Sozialleistungen und schürten ein tiefes Misstrauen gegen den Staat. Sie setzten auf wirtschaftliche Deregulierung und schafften einen riesigen Niedriglohnsektor, um international konkurrenzfähig bleiben zu können. Vor diesem Hintergrund entstand in Deutschland zum Beispiel die Agenda 2010.
Die sogenannte Flexibilisierung des Arbeitsmarktes bedeutete für immer mehr Menschen vor allem Unsicherheit und Abstiegsangst. Ein Gefühl, das durch Finanz– und Eurokrise weiter verschärft wurde, die Schere zwischen Arm und Reich weitete sich aus.
Halten wir also fest: Wachsende Ungleichheit und Unsicherheit vermischten sich über einen längeren Zeitraum mit Angst vor Terror, vor Wirtschaftsmigrant:innen, die heimische Jobs gefährden könnten und mit antimuslimischen Vorurteilen. Populistische Parteien, Bewegungen und Politiker:innen haben die Verunsicherung aus diesen verschiedenen Entwicklungen aufgegriffen – und mit einer Politik der Angst Europa verändert.
Inwiefern?
Politik der Angst heißt: Politiker:innen deuten soziale in nationale und kulturelle Fragen um. Sie greifen Vorurteile gegen vermeintlich muslimische Menschen auf, vermischen sie mit Terror-, Integrations- und Identitätsdebatten, Erzählungen von einem vermeintlichen „Bevölkerungsaustausch“ – und prophezeien wachsendes Unheil, je mehr Geflüchtete ankämen. Die Angst vor dem eigenen wirtschaftlichen Abstieg und die Verunsicherung durch Digitalisierung und Globalisierung spielt ihnen dabei in die Hände.
Seit den 1990er Jahren schüren Populist:innen Angst vor allem, was vermeintliche Sicherheiten in Form von Traditionen, Glaubenssystemen, Privilegien, Identitäten und Jobs bedrohen könnte – seit einigen Jahren vor allem in sozialen Medien.
Diese Bedrohung projizieren sie auf Menschen: Flüchtlinge und Migrant:innen. Sie warnen vor riesigen „Flüchtlingswellen“, die angeblich auf Europa zukommen. Das Ergebnis: Mehr nationale Identitätspolitik – von Dänemark bis Ungarn, wenn auch mit regionalen Besonderheiten.
Okay, du sagst also: Die verschiedenen Krisen und Veränderungen der vergangenen 40 Jahre haben sich in Europa aufgestapelt und miteinander vermischt. Daraus entstand immer mehr Verunsicherung. Verschiedenste Politiker:innen in Europa haben darauf mit einer Politik der Angst reagiert, die das Asylrecht nach und nach ausgehöhlt hat?
Genau. In den Worten des niederländischen Historikers Leo Lucassen haben fünf dieser Entwicklungen über Jahre hinweg die Bedingungen für einen „perfekten Sturm“ kreiert – also die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die sogenannte Flüchtlingskrise Europa so verändern konnte:
- Integrationsdebatten in vielen europäischen Ländern ab den 1980er Jahren
- Zunehmende soziale Ungleichheit, Unsicherheit und Skepsis über die Globalisierung
- Wachsender antimuslimischer Rassismus
- Islamistischer Terror
- Der Aufstieg rechtspopulistischer und rechtsradikaler Parteien und Bewegungen in ganz Europa
Als ab 2014 dann immer mehr Menschen vor den Kriegen und Konflikten am Horn von Afrika, in Syrien, Afghanistan und Irak flohen, war das Wasser auf die Mühlen der schon lange wachsenden Verunsicherung. Mit einem medialen Dauerfeuer schürten Rechtspopulist:innen die Angst vor einem dauerhaften „Kontrollverlust“. Das traf in der breiten Mitte vieler Gesellschaften einen Nerv. Die Politik reagierte – und schottete Europa nach und nach ab.
Seither lenkt die Angst vor ähnlichen Szenarien das Handeln der EU, der Ausnahmezustand von 2015 gilt als Rechtfertigung für Abschreckungs- und Externalisierungspolitik. Und aus der rechtlichen Kategorie „Flüchtling“ ist eine rein politisch-ideologische Frage geworden, die Gesellschaften in ganz Europa spaltet.
Jeder Diskussion um die Gewährleistung geltender Rechte, um die Rettung von Leben und die würdige Behandlung von Menschen im Einklang mit europäischem Recht wird die Frage vorgeschoben, ob es denn wirklich Flüchtlinge seien. Diese Umdeutung aller Menschen an den Außengrenzen in illegale Migrant:innen erschwert von Vornherein den Zugang zum Asylrecht. Entsprechend konsequent ist der einzige Punkt, auf den sich alle EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Asylpolitik einigen können: So wenig Menschen wie möglich sollen die Außengrenzen erreichen – um fast jeden Preis.
Redaktion: Philipp Daum und Esther Göbel; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger.