„Die Missionare des Christentums erklärten einst: Ihr habt kein Recht, als Juden unter uns zu leben. Die nachfolgenden weltlichen Herrscher verkündeten: Ihr habt kein Recht, unter uns zu leben. Die deutschen Nazis schließlich verfügten: Ihr habt kein Recht zu leben.“ (Raul Hilberg in: „Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust“)
Das allermeiste, was ich im Hebräischunterricht gelernt habe, habe ich mittlerweile wieder vergessen. Mit ein wenig Mühe und Not bekäme ich das בְּרֵאשִׁית בָּרָא („Am Anfang“), also den ersten Vers der Tora, auf die Reihe. Dabei war ich gar nicht mal so schlecht in Hebräisch. Wer, wie ich es vor zehn Jahren getan habe, evangelische Theologie studiert, muss drei Sprachen lernen: Hebräisch, Griechisch und Latein. Ich habe Griechisch und Latein gehasst. Technokratische Sprachen mit Hunderten Ausnahmen und komplizierten grammatischen Verrenkungen, die kein normaler Mensch auf diesem Planeten versteht.
Hebräisch hingegen war nicht besonders schwer. Mit knapp 500 Vokabeln konnte man einen Großteil der Narrativ-Erzählungen in der Bibel übersetzen. Das machte, auch wenn man es sich von außen kaum vorstellen mag, richtig Spaß. Die Bibel ist voller Sex and Crime, die Geschichten sind ziemlich schräg, aber unterhaltsam. Was mich allerdings am meisten faszinierte, war das Eintauchen in die mir vollkommen unbekannte Welt des Judentums. An der Ruhr-Universität in Bochum, wo ich studiert habe, war das Verständnis des Jüdischen fundamental, um sich dem Christlichen wenigstens ansatzweise zu nähern. Im Rahmen des Studiums habe ich mehrere Synagogen besucht, habe mit Jüdinnen und Juden in die Bibel geschaut und mit Rabbinern über die Auslegung einzelner Verse diskutiert.
Das alles war gewissermaßen mein erster Kontakt mit dem Judentum in Deutschland. Bis ich an die Universität kam, kannte ich keine Jüdinnen und Juden. Manchmal fuhr ich an der einen oder anderen Synagoge vorbei und schüttelte den Kopf über die Tatsache, dass noch immer derart viel Polizeipräsenz notwendig ist, um das jüdische Leben in Deutschland zu beschützen. Mein gesammeltes Wissen über das Judentum stammte bis dahin aus den horrenden Texten in meinen Geschichtsbüchern und aus Filmen.
„Schindlers Liste“, „Das Leben ist schön“ und „Der Pianist“. Zwischendurch stolperte ich über den Film „Shoa“ von Claude Lanzmann, ein Monumentalwerk, das zwischen stundenlanger bedrückender Stille die Überlebenden zu Wort kommen lässt. Später sah ich „Die Todesmühlen“, „Nazi Concentration Camp“, „Nacht und Nebel“ sowie „Night Will Fall“, die allesamt die Befreiung der Konzentrationslager Ausschwitz, Bergen-Belsen und Dachau dokumentierten.
Nichts von alledem verstand ich. Das allermeiste verstehe ich auch heute nicht.
Warum schützen wir jüdisches Leben nicht?
Einerseits saß ich nach meinem Abitur an einer deutschen Universität, studierte die christliche Religion, lernte die hebräische Sprache, besuchte Synagogen und versuchte, die schwer in ihren Bart hineinmurmelnden Rabbiner zu verstehen.
Und andererseits: Krawumm. Holocaust. Alte Schwarz-Weiß-Bilder. Eine andere Zeit, derselbe Ort. Dasselbe Deutschland. Dasselbe Christentum. Dasselbe Judentum. Damals wie heute. Ich bekam es nicht in meinen Kopf. Das alles soll hier stattgefunden haben? Pogromnacht? Rassengesetze? Konzentrationslager? Gaskammern?
Ich kann mir bis heute nicht vorstellen, wie sich die Erkenntnis anfühlen mag, dass die eigene Familie an diesem Menschheitsverbrechen beteiligt war. Oder dass die eigene Familie durch dieses Menschheitsverbrechen ausgelöscht wurde.
Meine eigenen Eltern flohen in den 1980er Jahren aus einem Bürgerkrieg in Sri Lanka und kamen als Asylsuchende nach Deutschland. Meine Mutter war Hindu, mein Vater Katholik. Die gemeinsamen Feinde im Heimatland waren Buddhisten. Mit dem Judentum hatten beide nichts am Hut. Und ich bis zu meinem Studium auch nicht.
Mein Kontakt mit dem Judentum, meine Beschäftigung mit dem Holocaust und auch das Bekenntnis zu Deutschland als meiner Heimat, als ich mit 16 Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit annahm, verursachten ein heftiges Störgefühl, eine nahezu unerträgliche „kognitive Dissonanz“ in mir: Wenn wir uns alle darüber einig waren, dass der Holocaust das schlimmste anzunehmende Menschheitsverbrechen war, warum tun wir nicht alles in unserer Macht Stehende, um die Täter zu verfolgen, die Opfer zu entschädigen und jeden, wirklich ausnahmslos jeden Antisemitismus bereits in seinen Anfängen mit der vielbeschworenen vollen Härte des Rechtsstaats in die Schranken zu weisen? Warum schützen wir jüdisches Leben nicht?
Warum leitet sich aus dem alljährlich postulierten „Nie wieder!“ kein gesamtgesellschaftlicher Auftrag ab? Der Auftrag, die Juden zu schützen und die Nazis zu verfolgen?
Letzteres geschah in der Bundesrepublik nicht. Und geschieht auch heute nicht. Bis zuletzt machten Nazis Karriere in der Bundesrepublik Deutschland. Als Lehrer, als Ärzte, als Richter, als Diplomaten, vor allem aber in der Bundeswehr, in der Polizei, im Bundeskriminalamt und beim Bundesnachrichtendienst.
Holocaust-Überlebende mussten die Nazis zur Verantwortung ziehen
Die Nazis zu verfolgen, sie ihrer Verantwortung zu stellen, blieb oft den Überlebenden des Holocaust überlassen. Menschen wie Simon Wiesenthal, Fritz Bauer, Kurt Teil, Philipp Auerbach und Hanns Alexander machten es sich zur Lebensaufgabe, Nazis zu jagen und sie nicht davonkommen zu lassen. Sie waren allesamt Überlebende der Shoa und sie ermittelten unerbittlich, häufig unter enormem Druck und entgegen der Ablehnung der gesamten Bundesrepublik. In dem Spielfilm „Der Staat gegen Fritz Bauer“ wird dabei deutlich, mit welchen Mitteln zahlreiche ranghohe ehemalige Nazis in den Parteien, in den Ministerien, in Bundeskriminalamt und Bundesnachrichtendienst diese Aufklärungsarbeit sabotierten.
Über den Nazijäger Philipp Auerbach schreibt der Spiegel:
„Bereits 1949 stellte der CSU-Gründer und bayerische Justizminister Josef Müller einen Staatsanwalt eigens dafür ab, belastendes Material gegen Auerbach zu sammeln. Im Januar 1951 durchsuchte die Polizei das von Auerbach geleitete Landesentschädigungsamt. Zehn Wochen lang besetzten die Beamten die Münchener Behörde, Entschädigungsanträge wurden in dieser Zeit kaum noch bearbeitet. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Das Amt sollte mit Hilfe gefälschter Dokumente mehrere 100.000 Mark an Wiedergutmachungsgeldern erschlichen haben. Viele Deutsche fühlten sich dadurch in ihrem antisemitischen Vorurteil bestätigt, dass Juden zu ihrem eigenen finanziellen Vorteil lügen und betrügen.“
Und weiter:
„Journalisten und Politiker bedienten diese Vorurteile. Manche ganz offen, bei anderen schlichen sich weitverbreitete Ressentiments in Nebensätzen ein. So erwähnte etwa der Spiegel im Februar 1951 in einem Artikel über Auerbachs Tätigkeit als Präsident des bayerischen Landes-Entschädigungsamtes ganz nebenbei ‚Juden, denen KZ-Haft und Tod zahlloser Angehöriger den Maßstab gesetzlicher Notwendigkeit getrübt hatten.‘ Bayerns Justizminister Müller, der mehr und mehr zu Auerbachs erbittertstem Gegenspieler wurde, geht noch einen Schritt weiter. Er sagte, er könne nicht zusehen, dass Bayern von einem jüdischen ‚König‘ regiert werde. Außerdem machte er Auerbachs Verhalten für den wachsenden Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland verantwortlich.“
Auerbach wird diffamiert, denunziert und am Ende von einer Gruppe aus ehemaligen NS-Richtern, ehemaligen SA-Mitgliedern und ehemaligen NSDAP-Gutachtern verurteilt. Zwei Tage nach seiner Verurteilung nimmt sich Auerbach das Leben, weil er diese Schande und die Entehrung nicht ertragen kann. Als auf seiner Beerdigung jüdische Demonstranten gegen den bayerischen Justizminister demonstrieren, setzt die Polizei Wasserwerfer ein.
Ein Wahnsinn. Ein Staat, der das erlittene Unrecht nicht wiedergutmacht. Die Täter unbehelligt in den Staatsdienst übernimmt und gegen die Opfer vorgeht.
Überhaupt. Die Opfer.
Viele Holocaust-Überlebende leben unter der Armutsgrenze
Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg verhandelte Deutschland in mehreren Runden neben der Entschädigung für die Kriegsfolgen auch Entschädigungsleistungen mit Staaten, die Heimat für die Überlebenden des Holocaust wurden. Grundlage dafür war unter anderem das Bundesentschädigungsgesetz (BEG), das (ja, wirklich!) 1965 die „nationale Ehre“ wiederherstellen und einen „würdigen Schlussstrich“ ziehen sollte. Die Novelle des BEG hieß denn auch BEG-Schlussgesetz.
Würdig war dieser Schlussstrich allerdings nur für die Bundesrepublik. Nicht für die Opfer und Überlebenden des Holocaust. Von diesen leben heute zwischen 40 und 50 Prozent weltweit unterhalb der Armutsgrenze. In der Sowjetunion sind es beinahe 100 Prozent. Selbst in den USA müssen sich Opfer der Shoa zwischen Essen und Heizen, zwischen Pflege und Inkontinenz-Windel entscheiden. In Israel müssen Anspruchstellerinnen, die Mittel aus dem Bundesentschädigungsgesetz erhalten wollen, ihre Zugehörigkeit zum deutschen Volk anzeigen. Was zuweilen zu folgendem Irrsinn führt:
„Da sitzen dann Holocaust-Überlebende und müssen Aufsätze schreiben und müssen begründen, weshalb sie immer ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum abgegeben haben, wo dann irgendeiner in seiner Prüfung in seinem Aufsatz mittendrin schreibt: Was tue ich denn hier? Ich sitze nun hier, meine Familie ist ermordet worden, und ich schreibe einen Aufsatz, in dem ich erkläre, dass ich mich immer zum deutschen Volkstum bekannt habe. Bin ich denn verrückt?“
Diese Aufsätze sind unter anderem deshalb notwendig, weil beispielsweise Holocaust-Überlebende aus Osteuropa keine Leistungen aus dem Bundesentschädigungsgesetz erhalten, sondern nur in „humanitären Härtefällen“ aus einem eigens dafür geschaffenen Sonderfonds entschädigt werden. Und das seit 1990, also 45 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Die sowjetischen Kriegsgefangenen wiederum werden erst seit 2015 entschädigt, wobei von diesen ehemals 5,3 Millionen Menschen nur noch 400.000 am Leben sind.
In Deutschland leben heute viele Holocaust-Überlebende von der Grundsicherung, also von Hartz IV. Manchen, die als Jüdinnen nur knapp der Erschießung oder der Deportation nach Auschwitz entgangen sind, wird die Krankenversicherung gekündigt, weil sie nach dem Tod des Ehemanns nicht die richtigen Kategorien erfüllen, um ihrerseits als Holocaust-Überlebende anerkannt zu werden. Sie ziehen zu ihren Kindern in die Fremde, weil sie sich eigene Wohnungen nicht leisten können und müssen regelmäßig ihre Einkommensverhältnisse nachweisen. Diese Menschen sind jenseits der 80, 90 Jahre alt.
Der zuweilen niederträchtige Umgang mit den Überlebenden des Holocaust zeigt sich nicht nur am Geld, sondern auch an der Wiederanerkennung der deutschen Staatsangehörigkeit, nachdem ihnen diese während der Zeit des Nationalsozialismus entzogen worden ist. Zuletzt blockierten SPD und CDU ausgerechnet in der Auschwitz-Gedenkwoche ein Gesetz, das den Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit für Holocaust-Überlebende erleichtert hätte.
Während nationalsozialistische Massenmörder also unbehelligt Karriere machen, müssen Holocaust-Überlebende jahrzehntelang darum kämpfen, überhaupt wieder als Deutsche anerkannt zu werden. Nur um anschließend hierzulande in entwürdigender Armut zu leben.
„Die Deutschen werden den Juden den Holocaust niemals verzeihen“
Wir alle müssten darüber rasend werden vor Wut. Wie kann das sein? Wie kann das in Deutschland sein? Ich verstehe es nicht. Und da ist sie wieder, die kognitive Dissonanz. Die verhindert, dass ich wenigstens ansatzweise begreife, wie wir uns nach dem Holocaust derart verhalten können. Und mit „wir“ meine ich „wir“. Wir alle, die Zugewanderten wie die Einheimischen, die wir uns geschworen haben, dass dieses Land eine Heimat für Jüdinnen und Juden sein kann, sein muss. Wie. Kann. Das. Alles. Sein?
Sind die Juden den Nichtjuden in diesem Land egal? Oder sind sie gar störend bei dem Projekt „Würdiger Schlussstrich“, ein Stachel im Fleisch bei dem Projekt „Wiederherstellung der nationalen Ehre“? Wahrscheinlich ist es das. Die schiere Existenz von Jüdinnen und Juden in diesem Land erinnert an die Schmach des Holocaust, an die Abartigkeit der Deutschen, die den Menschheitsvertrag aufgekündigt und den Zivilisationsbruch verübt haben. Nichts wünschen sich viele Deutsche mehr als „Normalität“ und ein Ende „dieser zwölf Jahre“, die ja doch nur ein „Vogelschiss“ sein sollen in über „Tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“.
Der Psychoanalytiker Zvi Rix soll einmal gesagt haben, „die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.“ Es scheint, als läge er damit nicht gänzlich falsch. Und es sieht auch nicht danach aus, als ob die „Deutschen“ das in naher Zukunft zu ändern gedachten.
Jeder fünfte Mensch in diesem Land würde kein jüdisches Familienmitglied akzeptieren, jeder vierte Mensch in diesem Land denkt antisemitisch. Nach dem Erstarken rechter Kräfte in Chemnitz denken jüdische Gemeindemitglieder offen darüber nach, Deutschland zu verlassen. Währenddessen kann die Pressesprecherin des Bundesinnenministeriums nicht die Frage beantworten, ob das Judentum zu Deutschland gehört.
Ob. Das. Judentum. Zu. Deutschland. Gehört.
Die Nichtanerkennung des Judentums in Deutschland ist kein Versehen. Die Umschmeichelung nationalsozialistischer Täter und die Demütigung der Opfer der Shoa ist kein Versehen. Keine Unachtsamkeit. Kein dummer Zufall. Es ist nichts anderes als ein in die Tiefe der deutschen Seele eingravierter Hass gegen Juden. Der ewige Antisemitismus. Strukturell. Sekundär. Antizionistisch.
Seit Jahrzehnten werden jüdische Gräber beschmiert und geschändet. Im Jahr 1947 (!) schrieb der deutsche Philosoph Theodor Adorno in seiner Dialektik der Aufklärung:
„Die Schändung jüdischer Friedhöfe ist kein Anzeichen für oder ein Ausdruck von Antisemitismus, sondern eben dieser selbst.“
Wie aktuell diese Worte noch heute sind, lässt sich daran bemessen, dass in mindestens jeder zweiten Woche ein jüdischer Friedhof geschändet wird. Im Schnitt sind es 26 Verwüstungen und Schändungen pro Jahr. Seit 1945.
Und dann sind da die öffentlichen Aufmärsche, Demonstrationszüge und Versammlungen durch Neonazis, die wir Deutschen seit Jahrzehnten achselzuckend hinnehmen. Neonazi-Organisationen wie der „Dritte Weg“, die in Plauen aufmarschieren, in bedrückend optischer Ähnlichkeit zu den Braunhemden der SA. Die zahllosen „Rudolf Heß“-Kundgebungen der NPD in Dortmund und Fulda, wo Neonazis von der Polizei ungestört Nationalsozialisten verherrlichen, Volksverhetzung verüben und Zuwanderer und Gegendemonstranten angreifen. Oder die Rechtsrockkonzerte in Themar, in Ostritz, überhaupt in Thüringen. Das alljährliche Gerede vom „Bomben-Holocaust“ in Dresden.
Was macht es mit Jüdinnen und Juden, die all das mitansehen müssen? Die mitansehen müssen, dass die Polizei selbst bei rechtsextremen Straftaten nicht eingreift?
Aus antisemitischen Worten werden antisemitische Taten
Die antisemitischen Worte, die antisemitischen Bekundungen, die lauten judenfeindlichen Rufe und die leise antisemitische Zustimmung, sie schaffen ein Grundgefühl, das aus diesen Worten Taten werden lässt. Taten, die weit über Propagandadelikte und Sachbeschädigung hinausgehen. Die in Gewaltakte und Morde hineinmünden, die einen Terror gegen Juden ermöglichen.
„Terror gegen Juden“, so heißt das Buch von Ronen Steinke, einem Journalisten der Süddeutschen Zeitung, der als Jurist über Kriegsverbrechertribunale promoviert und am Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main zum Holocaust geforscht hat. Seine Arbeit „Fritz Bauer. Oder: Auschwitz vor Gericht“ bildete die Grundlage für den oben erwähnten Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“. Ronen Steinke ist selbst jüdisch.
Der Staat, so Steinke, dieser Staat, unser Staat, er versage bei der Bekämpfung des Antisemitismus.
Ronen Steinke zählt über 1.000 (in Worten: eintausend) antisemitische Gewalttaten in der Bundesrepublik Deutschland auf, die allesamt nur eines zum Ziel haben: die Tilgung jüdischen Lebens aus diesem Land. Er schildert, wie die Polizei 1980 nach dem Mord an dem ehemaligen Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, Shlomo Lewin, unmittelbar das Umfeld des Opfers verdächtigt. Wie sie ihn mit dem Mossad in Verbindung zu bringen versucht. Wie sie in alle Richtungen ermittelt. Nur nicht in Richtung der Nazis von der „Wehrsportgruppe Hoffmann“. Steinke berichtet von den Drohbriefen, die nun auch an den Nachfolger Lewins, Arno Hamburger, eingehen.
„Arno Hamburger, du verfluchte Judensau, Shlomo Lewin war der Erste, du bist der Nächste. Du kannst dich darauf vorbereiten.“
Hamburger erhält eines Tages Besuch von der Polizei, die ihn nicht als Zeugen, sondern als Verdächtigen vernehmen will. Die Polizisten vermuten ein jüdisches Mordkomplott. Gewissermaßen ein Mord im Milieu. Die Polizisten stören die Trauerfeier des Ermordeten, verdächtigen nahezu alle jüdischen Mitmenschen Lewins und versenden landesweite Memos, um dessen Liebesleben zu erforschen. Die Parallelen zum Polizeiversagen im Fall NSU springen einem förmlich ins Auge. Steinke erklärt auf Basis dieser und anderer Vorfälle, dass die allermeisten Fälle antisemitischer Gewalt gar nicht erst angezeigt werden, weil es keinerlei Vertrauen in die deutsche Polizei und die deutsche Justiz gibt. Weil kaum einer in der jüdischen Gemeinschaft glaubt, dass Repräsentanten dieses Staates fähig oder wenigstens willens wären, solche Fälle aufzuklären.
Die Juden, sie sind wieder einmal auf sich allein gestellt. Sie schützen sich selbst, koordinieren sich mit der israelischen Botschaft, die zusammen mit den jüdischen Gemeinden Strategien zum Schutz der Synagogen entwickelt, die Sicherheitsleute in die jüdischen Einrichtungen entsendet. Die vielgerühmte Tür an der Synagoge in Halle, die den Massenmord an Jüdinnen und Juden verhindert hat, wurde von der Jewish Agency bezahlt, einer karitativen Organisation in Jerusalem, die neben der Tür auch eine Videokamera spendete. Ohne den Einsatz dieser israelischen Organisation, ohne die Videokamera, ohne die Tür hätte es ein Massaker an Juden gegeben. Verübt von einem Nazi. In Deutschland.
Der deutsche Staat, die deutsche Gesellschaft, die deutsche Politik, die deutschen Sicherheitsbehörden. Sie haben keinen Anteil an diesem Glück. Sie alle haben versagt.
Ronen Steinke beschreibt des Weiteren, wie seit jeher jüdische Kinder in Deutschland zur Schule gehen. Wobei, nein, das ist falsch. Sie gehen nicht, sie werden gefahren. Sie werden in einem Minibus in (!) die Schule hineingefahren. Um in diese Schule hineinzugelangen, muss der Bus zwei Schleusen und mehrere Wachleute passieren, die aufpassen, dass sich niemand in die Schule schmuggelt. Die Lehrer gehen durch einen separaten Eingang und durchqueren Metalldetektoren. Hinter einer dicken Glasscheibe sitzt ein junger Israeli, der ebenfalls aufpasst, dass sich niemand unbefugt in das Gebäude einschleicht. Mehrmals im Jahr wird über Probealarme das Verhalten bei einem Terrorangriff trainiert. Die Kinder, von denen hier die Rede ist, können zum Teil noch nicht einmal lesen und schreiben, wissen aber, wie man sich im Falle eines Terrorangriffs verhält.
Der Staat versagt bei der Bekämpfung von Antisemitismus
Nach dem Anschlag in Halle sollte alles anders werden, sollte dem Antisemitismus der Garaus gemacht werden. Horst Seehofer, Bundesinnenminister der Bundesrepublik Deutschland, wusste auch wie. Er wollte (festhalten!), die „Gamerszene“ stärker in den Blick nehmen. Nach einem rechtsextremen, rassistischen, antisemitischen Anschlag auf eine Synagoge. Von einer grundsätzlichen Erhöhung der Sicherheitsmaßnahmen rund um jüdische Einrichtungen hörte man von Horst Seehofer allerdings nichts. Sein damaliger Amtskollege Holger Stahlknecht, Innenminister in Sachsen-Anhalt, zeigte sich gar genervt davon, dass Polizisten nun permanent Synagogen bewachen sollten. Diese Einsatzkräfte würden schließlich an anderer Stelle fehlen.
Diese beiden Wortmeldungen beschreiben ganz gut das Kompetenzfeld, innerhalb dessen die Auseinandersetzung um den Anschlag in Halle stattfand. Erwähnt werden müssen auch die Polizisten, die auf ein Hakenkreuz aus Taschentüchern traten, das ein Antisemit vor der Synagoge in Halle platziert hatte, die die Taschentuch-Reste abstreiften und anschließend wegwarfen, wodurch Beweismittel vernichtet wurden. Erwähnt werden muss auch der Polizist, der im Zuge des Anschlags in Halle ein Sicherheitskonzept für die Synagogen in Hannover entwickelte und wenig später bei einer Querdenker-Demo als Redner auftrat, die Bundesregierung mit dem „Dritten Reich“ verglich und seine Kollegen zur Befehlsverweigerung aufrief.
Der Staat. Wie er immer und immer und immer wieder versagt bei der Bekämpfung des Antisemitismus. Wie all dies nicht zu politischen Konsequenzen führt. Wie gerade diejenigen Medien, die gerne über Skandale und über Fehlverhalten der Bundesregierung berichten, auffällig still sind.
Wobei man sich manchmal wünschen würde, dass sie still blieben. Zuweilen sind sie laut, in manchen Fällen sogar schrill und überbieten sich mit Solidaritätsbekundungen in Richtung der Jüdinnen und Juden in diesem Land. In manchen Fällen verurteilen sie den Antisemitismus und den Judenhass in ungewohnter Schärfe. Allerdings, und das ist auffällig, nicht jeden (!) Antisemitismus. Nur diesen einen ganz bestimmten Antisemitismus.
Den Antisemitismus der Anderen.
Philipp Amthor beispielsweise, der sich zeitweise vollkommen unironisch als CDU-Innenexperte vorstellte, sagte am 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz folgende Worte:
„Klar ist auch, das darf man nicht vergessen, dass Antisemitismus natürlich vor allem in muslimisch geprägten Kulturkreisen besonders stark vertreten ist. Vor dem Hintergrund der Migration der vergangenen Jahre sind an dieser Stelle natürlich viele Sorgen für die jüdische Bevölkerung da.“
Vor allem in muslimisch geprägten Kulturkreisen. Vor dem Hintergrund der Migration der vergangenen Jahre. Worte zum Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz.
Amthors Parteifreund Horst Seehofer lässt angesichts der antisemitischen Ausschreitungen der vergangenen Tage verlautbaren:
„Wir werden nicht tolerieren, dass auf deutschem Boden israelische Flaggen brennen oder jüdische Einrichtungen angegriffen werden. Jüdinnen und Juden müssen in Deutschland sicher leben können. Nie wieder dürfen Jüdinnen und Juden in unserem Land in Angst leben. Wer antisemitischen Hass verbreitet, wird die volle Härte des Rechtsstaates zu spüren bekommen. Ich sage deutlich: Deutschland darf kein Rückzugsraum für Terroristen sein. Die Sicherheitsbehörden sind hellwach und tun alles, um die Menschen in unserem Land zu schützen.“
Ein Statement, das ein klitzekleines bisschen anders klingt als die angekündigten Ermittlungen innerhalb der „Gamerszene“, nachdem ein weißer Antisemit beinahe ein Blutbad angerichtet hätte. Es ist übrigens derselbe Seehofer, der nach der Aufdeckung rechtsextremer und antisemitischer Chatgruppen innerhalb der Polizei keinen erhöhten Handlungsbedarf sah und stattdessen aktiv die wissenschaftliche Erforschung extremistischer Strömungen in der Polizeiorganisation behindert.
Seehofers Amtskollege Herbert Reul, Innenminister in NRW, fordert ebenfalls ein hartes Vorgehen gegen den Antisemitismus der arabischstämmigen Menschen in Deutschland und mahnt eine „stärkere Sensibilisierung arabischstämmiger Zuwanderer“ an. Man könnte meinen, die Begriffe „Antisemitismus“ und „arabischstämmig“ dürften niemals für sich alleine stehen oder gar in anderen Zusammenhängen benutzt werden. Reul ist übrigens derjenige, der bei mehreren Gelegenheiten kundtat, dass es mit ihm keine Studie zum Extremismus innerhalb der Polizei geben werde. Es ist derselbe Reul, in dessen Polizei die Aufdeckung einer möglicherweise „vierstelligen Anzahl“ an Fällen von Rechtsextremismus und Antisemitismus bevorsteht. Konkret soll es um das „Verwenden von Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen“ wie zum Beispiel Hakenkreuz, Hitlergruß oder NS-Runen sowie um Fälle von Volksverhetzung gehen. In der deutschen Polizei, die die Synagogen in diesem Land beschützen soll. Das ist ganz wörtlich zu verstehen: Erst gestern wurde bekannt, dass ein Polizist dessen Einsatzhundertschaft für den Schutz der Synagoge in Münster verantwortlich ist, öffentlich die Abbildung eines Wehrmachtspanzers an seinem Einsatzrucksack trug. Aufgefallen war dies im Rahmen einer Demonstration gegen Antisemitismus. Der Dienstherr dieses Polizisten: Herbert Reul.
Auslöser für die aktuelle Diskussion über Antisemitismus ist der Nahostkonflikt, der seit mehr als 70 Jahren andauert. Worum geht es da? Warum wird er nicht gelöst? Esther Göbel erklärt in diesem Text die Hintergründe dieses Konfliktes.
Schuld an Judenfeindlichkeit? Die Anderen
All diejenigen, die in den vergangenen 75 Jahren im Zusammenhang mit dem Antisemitismus in Deutschland ein Schweigegelübde abgelegt zu haben schienen, entdecken nun, wo der Judenhass eindeutig aus arabischen und muslimischen Kreisen in die Öffentlichkeit dringt, ihre Sprachfähigkeit wieder und äußern sich lautstark. So, wie es ist, könne es schließlich nicht bleiben, nachher nähmen uns die Ausländer noch unseren Antisemitismus weg.
Selbst der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, der noch vor wenigen Tagen das rechtsextreme und antisemitische Umfeld verharmloste, in dem der CDU-Politiker Hans-Georg Maaßen hin und wieder vorzufinden ist, überrascht nun mit einer deutlichen und klaren Verurteilung der antisemitischen Umtriebe, die von arabischen und muslimischen Menschen ausgeht.
Der Antisemitismus der Anderen.
Diese Doppelmoral, diese geheuchelte Anteilnahme, diese falsche Solidarität mit den Jüdinnen und Juden in diesem Land ist kein Alleinstellungsmerkmal der Politik. Auch Teile der Medienlandschaft haben ihren Anteil daran, dass die Judenfeindlichkeit immer nur dann öffentlich diskutiert wird, wenn man sie für eine eigene rassistische Agenda verwenden kann.
Im direkten Anschluss an den antisemitischen Anschlag in Halle, schrieb Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender des Axel-Springer-Konzerns, einen Leitartikel in der Welt mit dem Titel „Nie wieder: ‚Nie wieder‘!“ In diesem diagnostiziert Döpfner ein „Systemversagen der offenen Gesellschaft“ und beschreibt anhand unterschiedlicher Vorfälle, woran er dieses Systemversagen festmacht. Schauen wir mal, ob sich in seinen Schilderungen ein Muster erkennen lässt. Noch einmal zur Erinnerung: Es geht um den antisemitischen Anschlag in Halle, eine klar rechtsextreme rassistische Gewalttat.
- Vorfall 1: Syrer dringt mit Messer in Synagoge ein
- Vorfall 2: Laster rammt acht Autos, Zeugen meinen, „Allah“ gehört zu haben
- Vorfall 3: Ein Fußballspieler des HSV soll sein Alter falsch angegeben haben (das steht da wirklich!)
- Vorfall 4: Asylbewerber ersticht einen Mann mit einem Schwert
- Vorfall 5: Kölner Silvesternacht
- Vorfall 6: Kuwait Airways weigert sich, jüdische Passagiere zu transportieren
- Vorfall 7: „Pro Palästina“-Demo mit antisemitischem Gebrüll
- Vorfall 8: Bundespräsident sendet Glückwunschbriefe in den Iran
- Vorfall 9: Die Flüchtlingspolitik
- Vorfall 10: Verschweigen von Ausländerkriminalität
Von rechtsextremem Terror ist in dem gesamten Beitrag (!) keine Rede. Kein Wort zum Holocaust, kein Wort zum Jahrzehnte währenden Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft, kein Wort zum NSU, kein Wort zu Walter Lübcke. Nichts. Gar nichts. Stattdessen: Aufzählung über Aufzählung, in denen Araber, Muslime, Asylbewerber und Ausländer die Hauptrolle spielen. Sie sollen für das „Systemversagen der offenen Gesellschaft“ verantwortlich sein. Sie ganz allein.
Damit bewegt sich Mathias Döpfner exakt auf der Linie des Axel-Springer-Verlags.
In einer Kampagne aus dem Jahr 2014 titelte die Bild: „Stimme erheben – Nie wieder Judenhass“. Auf die Frage: „Wer sind die neuen Juden-Hasser?“, heißt es dort:
„Der Judenhass, der sich derzeit entlädt, ist ein importierter, ein Judenhass mit Migrationshintergrund. Seine Protagonisten sind zum allergrößten Teil Araber und Türken, unterstützt von Bio-Deutschen, deren Großeltern noch selber „Juda verrecke!“ gebrüllt haben. (…) Das Gewissen mancher arabischen und türkischen Mitbürger schlägt erst aus und dann zu, wenn sich ihre Wut gegen die Juden bzw. Israel richten kann. Erstens weil sie meinen, damit Zustimmung bei den Mitbürgern ohne Migrationshintergrund zu finden, zweitens weil sie sonst keine Gelegenheit haben, Dampf abzulassen und sich bemerkbar zu machen. Wann und wo sonst dürfen verschleierte Frauen bei politischen Demonstrationen mitlaufen? Der Antisemitismus ist der ‚Sozialismus der dummen Kerle‘, hat August Bebel gesagt, einer der Urväter der SPD. Die dummen Kerle von heute schreien nicht ‚Heil Hitler‘, sondern ‚Allahu Akbar‘. Sie wollen sich nicht von den Fesseln ihrer Traditionen, sondern Palästina von den Juden bzw. Zionisten befreien.“
An anderer Stelle berichtet der damalige Vize-Chef der Bild am Sonntag, Nicolaus Fest:
„Ich bin ein religionsfreundlicher Atheist. Ich glaube an keinen Gott, aber Christentum, Judentum oder Buddhismus stören mich auch nicht. Nur der Islam stört mich immer mehr. Mich stört die weit überproportionale Kriminalität von Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund. Mich stört die totschlagbereite Verachtung des Islam für Frauen und Homosexuelle. Mich stören Zwangsheiraten, ‚Friedensrichter‘, ‚Ehrenmorde‘. Und antisemitische Pogrome stören mich mehr, als halbwegs zivilisierte Worte hergeben. (…) Ist Religion ein Integrationshindernis? Mein Eindruck: nicht immer. Aber beim Islam wohl ja. Das sollte man bei Asyl und Zuwanderung ausdrücklich berücksichtigen! Ich brauche keinen importierten Rassismus, und wofür der Islam sonst noch steht, brauche ich auch nicht.“
Auch in diesen beiden Texten findet sich kein einziger Verweis auf rechten Antisemitismus, auf rechtsextremen Terror gegen Juden. Stattdessen ist die Rede vom „Judenhass mit Migrationshintergrund“, von „arabischen und türkischen Mitbürgern“, davon, dass es keine Muslime in Deutschland brauche. Das Gerede vom „importierten Antisemitismus“, es steht in der meistverkauften Zeitung Deutschlands.
Für den Axel-Springer-Verlag ist der Antisemitismus, in beinahe allen Fällen, der Antisemitismus der Anderen.
Antisemitismus dann anprangern, wenn rassistische Vorurteile gestärkt werden können
Man könnte meinen, die Herrschaften bei Bild und zuweilen auch Welt ließen keine noch so abwegige Gelegenheit ungenutzt, um den Antisemitismus in Richtung Islam umzulenken. Als das Kanzleramt ein Gemälde des Künstlers Emil Nolde wegen dessen Vergangenheit im Nationalsozialismus entfernen ließ, hieß es in der Bild-Zeitung:
„Streiten kann und muss man über die Frage, ob, wo – gar im Kanzleramt? – und wie in einer Demokratie ‚belastete Kunst‘ gezeigt werden solle. Unbestreitbar wollte Frau Merkel auch (neudeutsch) ein ‚Zeichen‘ gegen Antisemitismus setzen. Gegen Zeichen dieser Art ist – Merkel-Lob – weniger als nichts einzuwenden. Es wäre freilich überzeugender, wäre diese Entscheidung zu einem weniger politisch überkorrekten (um nicht zu sagen: opportunistisch) gewählten Zeitpunkt getroffen worden. Erst recht überzeugender würde die wirkliche First Lady Deutschlands handeln, wenn ihre Regierung es nicht bei wohlfeilen Lippenbekenntnissen und leeren Gesten beließe. Sie sollte den in Deutschland dominanten islamischen Antisemitismus wort- und tatenreich bekämpfen. Stattdessen beteiligt sich Deutschland unter ihrer Regie, gemeinsam mit Außenminister Heiko Maas an maßlos antiisraelischen und teils antijüdischen UNO-Entschließungen. Auf diese Weise werden Legenden zu Völkerrecht umfunktioniert.“
Ein Gemälde im Kanzleramt, abgehängt wegen der nationalsozialistischen Vergangenheit des Künstlers, ist der Bild Anlass genug, um vor dem „dominanten islamischen Antisemitismus“ zu warnen.
Zuweilen rutschen Medien des Axel-Springer-Verlags allerdings selbst in antisemitische Abgründe. So dankte die Bild einem SA-Obergruppenführer für seine Arbeit in der Frankfurter Polizei von 1933 bis 1943 und die Welt verglich schamlos Luisa Neubauer mit Josef Goebbels, indem sie Neubauer mit den Worten „Wollt Ihr die totale Angst?“ untertitelte. Nach einiger Zeit änderte die Redaktion die Überschrift und titelte fortan: „Die Auslöschungsfantasien der Aktivisten“.
„Die totale Angst“, „Auslöschungsfantasien“. In der Antisemitismusforschung nennt man ein solches Verhalten „sekundären Antisemitismus“, der die Worte und Taten der Nationalsozialisten durch Entlehnung verharmlost. Auffällig ist zudem die Inbrunst, mit der die Welt-Chefredaktion in Kontroversen häufig Partei für diejenigen ergreift, denen Antisemitismus vorgeworfen wird. Zuletzt geschehen bei der Süddeutschen Zeitung, die einen antisemitischen Text gegen Igor Levit publizierte und bei Hans-Georg Maaßen, der sich regelmäßig in Gefilde begibt, wo der offene Judenhass blüht.
Eines wird bei alledem deutlich. Dieselben Medien, die in anderen Fällen antisemitische Grenzüberschreitungen bei Menschen wie Lisa Fitz, Lisa Eckhart, Uwe Steimle oder Hans-Georg Maaßen verharmlosen und staatliche Organisationen wie Polizei und Bundeswehr trotz erwiesener und belegter antisemitischer Vorfälle verteidigen, verfallen in das immer gleiche wiederkehrende Reaktionsmuster, wenn es um den Antisemitismus der Anderen geht. Wenn Ausländer oder Muslime für antisemitische Vorfälle verantwortlich gemacht werden können: Wenn sich der Antisemitismus-Vorwurf in rassistische Kampagnen umleiten lässt.
Dabei ist absolut unstrittig, dass es diesen „anderen“ Antisemitismus gibt. Dass dieser Antisemitismus gar in gefestigten Strukturen zutage tritt. Wenn beispielsweise Musiker mit Zuwanderungsgeschichte in ihren Rap-Texten antisemitische Zeilen singen, wenn jedes Fußballspiel einer jüdischen Fußballmannschaft gegen eine muslimische Mannschaft zu einem Risikospiel wird, bei dem am Ende die Polizei erscheinen muss. Wenn in einer öffentlichen Schule jüdische Kinder von muslimischen Kindern beleidigt und bedroht werden. Und auch, und vor allem, wenn sich in Moscheen antisemitische Predigten in den Köpfen von Islamisten festsetzen und zu antisemitischen Worten und Taten führen. Im schlimmsten Fall zu Toten. Wie bei mehreren islamistischen Anschlägen der Vergangenheit geschehen.
Dies alles ist real. Dies alles ist eine reale Gefahr für die Freiheit unserer Gesellschaft und für das Leib und Leben der Jüdinnen und Juden in diesem Land. In dieser Sache gibt es keine zwei Meinungen, wer diesen Antisemitismus verharmlost, untergräbt unser demokratisches Wertefundament. Es muss allerdings möglich sein, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen. Den Antisemitismus in der muslimischen Gemeinschaft zu bekämpfen, ohne ihn als willkommene Ablenkung vom rechten und rechtsextremen Antisemitismus zu begreifen.
Auch Linke thematisieren muslimischen Antisemitismus
Eine beliebte Behauptung unter CDU-Politikern und Axel-Springer-Journalisten lautet, „linke“ Medien würden aus politischen Gründen über diese Form des Antisemitismus nicht berichten. Sie würden Straftaten durch Muslime und Asylbewerber verschweigen. Sie würden diesen importierten Antisemitismus verharmlosen. Dies ist ein Narrativ, das beinahe alle Redakteure von Bild und Welt in den vergangenen Tagen in den sozialen Medien geäußert haben. Was sich zudem mit dem „Nie wieder!“-Text von Mathias Döpfner deckt, der in seinem Text davon erzählt, dass solcherart antisemitische Vorfälle „verschwiegen oder beschwichtigend verharmlost“ würden, dass „Deutschlands Politik- und Medieneliten den Schlaf der Selbstgerechten“ schliefen und „den Traum der Political Correctness“ träumten. (Manchmal muss auch ich doppelt hinschauen, um mich zu vergewissern, dass ich keine AfD-Pressemeldung vor mir habe.)
Man muss nicht besonders tief schürfen, um die Motive hinter solcherlei Vorwürfen freizulegen. Wenn alle anderen aus Angst und Rückgratlosigkeit schweigen, erscheinen diejenigen, die sich dieser Angst widersetzen als besonders mutig. Erscheint das eigene Medium wie „Westfernsehen“. Dann können sogar Bild-Redakteure, die sonst Witwen schütteln und Waisenkinder demütigen, Helden sein. Nichts anderes wird mit solcherlei Behauptungen bezweckt.
Nur, sie sind allesamt falsch. Mit großer Sicherheit gar erlogen.
Wer beispielsweise bei der Bundeszentrale für politische Bildung nach antisemitischen Grundmustern innerhalb der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland recherchiert, stößt auf folgende Beiträge:
- Antisemitismus bei Muslimen
- Antisemitische Narrative in deutsch-islamistischen Milieus
- Antisemitismus im Islamismus
- Islamischer Antisemitismus
- Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft
Ähnliches widerfährt, wer bei der linken Taz nach Artikeln zu diesem Thema sucht. Dort finden sich Artikel wie:
- Antisemitismus in der Schule: Ausgrenzung macht das Herz krank
- Pädagogin über Antisemitismus: „Überall dient ‚Jude‘ als Schimpfwort“
- Studie aus Berlin: Antisemitismus in jedem Jugendclub
- Arabischer Antisemitismus: Die Missgunst der Abgehängten
Dasselbe in der Zeitung Neues Deutschland:
- Beretta als Profilbild. Nach antisemitischen Posts: Moscheeverbandschef tritt zurück
- Antisemitismus ist Schulalltag. Judenfeindlichkeit und Islamismus sind an Berliner Schulen weit verbreitete Phänomene
- Das linke Islam-Tabu. Linke überlassen die Religionskritik zunehmend den Rechten – und stabilisieren ungewollt den strukturellen Rassismus
Letzteres ist ein Artikel aus dem Jahr 2014. In einer Zeitung, die „Journalismus von links“ macht und sich als „sozialistische Tageszeitung“ versteht, die dafür plädiert, den Antisemitismus im Islam schärfer in den Blick zu nehmen.
Das Leben von Jüdinnen und Juden in diesem Land ist gefährdet. Es war immer schon in Gefahr. Und auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, scheitern wir als Gesellschaft regelmäßig daran, das Leben und die körperliche Unversehrtheit unserer jüdischen Mitmenschen zu schützen. Mehr noch: ihnen ein Leben und Frieden und Unbeschwertheit zu ermöglichen. Solange jüdische Kinder in Hochsicherheitsgebäuden zur Schule gehen müssen, solange nicht die deutsche Polizei, sondern eine einfache Holztür den Schutz jüdischer Gemeindemitglieder gewährleistet, solange scheitern wir daran, das jüdische Leben in diesem Land zu schützen. Und solange wir den Antisemitismus in diesem Land nur dann anprangern, wenn er in unsere politische Agenda hineinpasst, wenn wir ihn zu rassistischen Kampagnen ummünzen, weil er Klicks bringt und Auflage, weil sich damit Wählerstimmen kaufen lassen, weil man dadurch vom eigenen Versagen und vom eigenen Judenhass ablenkt, solange signalisieren wir der gesamten jüdischen Gemeinschaft in diesem Land, dass sie uns egal ist, viel schlimmer noch, dass wir bereit sind, ihre Sicherheit, ihre Unversehrtheit und ihr Leben für unsere Zwecke zu instrumentalisieren.
Die vom Antisemitismus Betroffenen wissen um dieses böse Spiel. Ronen Steinke schreibt dazu in seinem Buch:
„Noch nie nach 1945 hat es hierzulande etwas anderes gegeben, keine Normalität und keine Ruhe, die erst jetzt durch Flüchtlinge aus arabischen Ländern gestört worden wäre.“
Auch die Vorsitzende der jüdischen Studierendeninitiative Berlin, Anastassia Pletoukhina, macht darauf aufmerksam, dass es zwar unterschiedliche Formen des Antisemitismus gebe, dass sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft damit aber nicht so leicht aus der Affäre ziehen könne.
„Oft wird alles in einen Topf geworfen und irgendwo ein Schuldiger gesucht, so wie jetzt die Muslime. Ja, es gibt muslimischen Antisemitismus in Deutschland, der ganz gezielt adressiert werden muss. Aber ich würde auch ganz klar sagen: Lenkt bitte nicht von eurem eigenen Antisemitismus ab. Der geht nämlich auch von der sogenannten deutschen Mehrheitsgesellschaft aus.“
Das eine tun, ohne das andere zu lassen. Unabhängig davon, ob es nun der Antisemitismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft oder der Antisemitismus der Anderen ist.
Dieses Land, meine Heimat, ist auch Heimat für Jüdinnen und Juden. Dafür gilt es zu streiten und zu kämpfen. Das ist die wahre Essenz des „Nie wieder!“
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert