Mohammed Ibrahim studierte, demonstrierte gegen das Assad-Regime und wurde gefangen genommen. Im Gefängnis wurde er gefoltert, kam frei. Dann flüchtete er nach Deutschland – in einem Schlauchboot, zu Fuß, mit dem Bus. Er lebt inzwischen in Köln, wo ich ihn auch kennengelernt habe, wir sind seit einem Jahr befreundet. Er möchte anonym bleiben, deshalb habe ich seinen Namen geändert.
Triggerwarnung: Der Beitrag enthält teils drastische Schilderungen von Folter und Gewalt. Achtung, dieser Inhalt kann verstören.
Ich bin in einem kleinen Ort in der Nähe von Idlib in Syrien geboren. Ich habe zehn Geschwister, zwei ältere und acht jüngere. 2010, da war ich 18 Jahre alt, habe ich angefangen, Französisch auf Lehramt zu studieren. Ein Jahr später haben die Demonstrationen gegen das Regime von Baschar al-Assad in meiner Stadt angefangen. Und ich bin mit meinen Freunden hingegangen.
In Syrien laufen Demonstrationen anders als in Deutschland. Übers Internet werden vorher Treffpunkt und Zeit verabredet. Die Menschen versammeln sich an einem Ort für eine halbe Stunde oder Stunde. Bis die Soldaten kommen. Dann ist alles vorbei. Denn dann werden Menschen verhaftet und erschossen. Deshalb fliehen alle.
Am 15. März 2012, dem Jahrestag des Beginns der Demonstrationen, ist bei uns in der WG der Strom ausgefallen. Es war warm, also bin ich mit meinem Mitbewohner rausgegangen. Unterwegs haben wir gehört, dass es eine Demonstration in der Altstadt gibt. Wir haben dann mitdemonstriert.
Ich schwitzte, da wussten sie, dass ich auf der Demonstration gewesen war
Nach einer Stunde sind die Soldaten gekommen und alle sind weggelaufen, so wie immer. Ich kam auf die Idee, in ein Geschäft zu gehen und so zu tun, als würde ich mir etwas kaufen. Die Soldaten sind reingekommen, sie haben meinen Körper angefasst und gemerkt, dass ich schwitze. Da wussten sie, dass der Schweiß von der Demonstration kam.
Sie haben mein T-Shirt über meinen Kopf gezogen, damit ich nichts mehr sehen konnte. Sie brachten mich in ein Fahrzeug, zusammen mit anderen Demonstranten. Wir fuhren zu einem Checkpoint und mussten dort vier Stunden warten.
Wenn ich daran zurückdenke, waren diese wenigen Stunden schlimmer als die 45 Tage, die ich später im Gefängnis verbringen sollte.
Wir standen unter Stress: Werden sie uns nach Hause schicken? Werden sie uns umbringen? Sie haben uns geschlagen und mir haben sie dreimal mit einem Taser Stromschläge versetzt. Wir mussten demütigende Dinge sagen, zum Beispiel: „Meine Schwester ist eine Schlampe.“
Dann sind wir weitergefahren. Wir mussten uns auf einem großen Platz versammeln. Dort habe ich das Schild gesehen, dass wir in der Militärbasis der Stadt sind. Da habe ich geweint, ich wusste, was mich hier erwartet. 50 Soldaten haben uns erst einmal eine Stunde lang verprügelt.
In 45 Tagen Gefängnis habe ich zehn Kilo abgenommen
Sie haben mich in eine Zelle gebracht. Sie war zwei Quadratmeter groß, wir waren zu viert. Sie war dunkel, es roch nach Schweiß. Es konnten nicht alle gleichzeitig schlafen, einer musste wach bleiben und stehen. Eine Ratte möchte dort nicht leben.
Einer der Wärter kam aus Idlib, so wie ich. Er hat mich immer gefragt, ob ich etwas brauche. Manchmal hat er mich für fünf Minuten rausgebracht und mir eine Zigarette und etwas zu Essen gegeben. Wenn er an der Reihe war, die Essensrationen zu verteilen, bekam unsere Zelle immer mehr. Meine Mitgefangenen hatten echt Glück, dass ich da war.
Zum Frühstück gab es Kartoffeln und Eier, die nicht durchgekocht waren. Ich habe versucht, eine Kartoffel zu essen und es ging einfach nicht, weil sie nur fünf Minuten gekocht war. Und Brot gab es. Das war frisch und warm. Zum Mittagessen gab es Bulgur oder Reis und ein bisschen Fleisch. Manchmal haben wir ein Stück Tomate bekommen, manchmal für fünf Leute zehn Oliven. Es gab gerade genug, dass man nicht stirbt. In 45 Tagen habe ich über zehn Kilo abgenommen.
Wir durften zwei Mal pro Tag aufs Klo. Deswegen wollte ich nicht zu viel essen. Auf dem Weg wurden wir immer geschlagen. Einfach, weil wir den Wärtern nicht sympathisch waren. Wir hatten auch nur fünf Sekunden Zeit auf Toilette. Mal haben die Wärter schneller, mal langsamer gezählt. Und wenn du in diesen fünf Sekunden nicht fertig warst, wurdest du einfach mit deiner Scheiße rausgeholt. Das sind eigentlich Kleinigkeiten im Gegensatz zur Folter.
Die Verhöre waren immer morgens um sieben. Deshalb habe ich mir zum Schlafen eine Jacke angezogen. Ich dachte, wenn sie mich holen und schlagen, dann tut es nicht so weh. Ich habe gebetet, dass sie mich holen, ich wollte gefoltert werden. Ich konnte nicht mehr warten. Politische Gefangene in syrischen Gefängnissen werden vergessen. Viele verbringen Jahrzehnte im Gefängnis. Ich hatte Angst, dass mir das auch passiert.
Ich wollte lieber sterben, als etwas zu gestehen
Am Morgen des elften Tages wurde ich zum Verhör abgeholt. Meine Augen waren verbunden, meine Hände gefesselt. Ich habe alles abgestritten, habe gesagt, dass ich nur studiere und mich nicht für Politik interessiere. Mein Bruder saß zweieinhalb Jahre im Gefängnis. Von ihm habe ich gelernt, lieber zu sterben, als etwas zu gestehen.
Als ihnen die Geduld ausging, haben sie mich verprügelt. Sie haben mir auf die Eier geschlagen und in den Bauch, bis ich nicht mehr atmen konnte. Dann haben sie mich an den Händen aufgehängt, sodass ich nur noch auf den Zehenspitzen stehen konnte. Das ganze Körpergewicht hängt an den Händen, stundenlang. Irgendwann werden die Füße taub und die Hände bluten.
Das letzte war dann Strom. Durch einen Spalt in meiner Augenbinde habe ich das Kabel gesehen. Da hatte ich wirklich Angst. Erst wollte ich alles gestehen, alles, was sie wollten. Dann merkte ich: Es macht ja keinen Unterschied. Wenn ich nicht gestehe, werde ich geschlagen, wenn ich gestehe, dann werde ich geschlagen. Und meine ganze Familie wird wegen mir leiden.
Also habe ich nichts gesagt. Drei Tage hintereinander haben sie mich mit Stromschlägen gefoltert, morgens und abends.
Kaputte Schuhe, die Klamotten zu groß für den Körper, aber ich war glücklich
Nach drei Tagen musste ich ein Protokoll unterschreiben und meinen Fingerabdruck abgeben. Damit war das Verfahren abgeschlossen. Dieser Tag ist wie ein Fest für Häftlinge. Entweder kommst du ins Zivilgefängnis – dort hat man keine Freiheit, aber wird immerhin nicht gefoltert. Oder du bist frei.
Nach 45 Tagen wurde ich zu einem Gericht gebracht. Der Richter kam aus Idlib, meiner Heimatstadt. Ich glaube, er kannte meine Familie, deshalb hat er gesagt, dass ich nach Hause darf.
Mitten in der Nacht lief ich zu meiner Wohnung. Meine Klamotten waren für meinen Körper zu groß geworden, meine Schuhe waren kaputt, aber ich war glücklich. Ich habe meinen Bruder angerufen, er hat meiner Familie Bescheid gesagt. Ich wollte nicht, dass meine Mutter auf einmal meine Stimme am Telefon hört, dann hätte sie noch einen Herzinfarkt gekriegt.
Ich habe lange darüber nachgedacht, wie es den Menschen geht, die mit mir im Gefängnis waren. Jedesmal wenn ich am Esstisch saß, habe ich an die anderen gedacht. Ich wünsche ihnen, dass sie getötet werden. Ich finde es einfacher zu sterben, als dort zu leben.
Für meine gefälschten Papiere hätte ich umgebracht werden können
Ich habe weiter studiert und als ich fertig war, hätte ich Wehrdienst leisten müssen. Das wollte ich nicht, also bin ich in den Libanon gereist. Ich hatte gefälschte Papiere, auf denen stand, dass ich noch studieren würde und deshalb noch keinen Wehrdienst leisten muss. Ein guter Freund von mir malt perfekt (er macht jetzt eine Ausbildung zum Bauzeichner in Hannover). Er hat mir den Stempel von der Uni mit der Hand gemalt. Diese Papiere habe ich an den Kontrollpunkten vorgezeigt, an denen ich vorbei musste.
Ich war verrückt, dass ich das gemacht habe. Wenn sie mich erwischt hätten, dann wäre ich direkt an diesem Kontrollpunkt umgebracht worden.
Sie stellen einem bei der Kontrolle dumme Fragen, aber man muss irgendwie eine vernünftige Antwort geben. Sie fragen zum Beispiel: „Na, willst du Freiheit?“ Darauf muss man antworten: „Warum Freiheit? Wir sind doch frei!“ Man darf nichts gegen die Regierung im Handy haben, aber auch nichts für sie. Man muss wirklich neutral sein. Wenn jemand ein Foto von Assad als Hintergrundbild hat, heißt das: Da stimmt doch irgendwas nicht, der hat sich vorbereitet.
Im Libanon habe ich als Träger gearbeitet. Das ist doch absurd: Ich habe studiert und am Ende musste ich Obst und Gemüse aus einem Fahrzeug ausladen. Irgendwann habe ich gehört, dass ein neuer Markt aufmacht und sie Kaufmänner suchen. Ich habe mich einfach als Kaufmann ausgegeben und dort gearbeitet. Das habe ich ein Jahr lang gemacht. Ich konnte davon leben und meiner Familie jeden Monat 1.000 Dollar schicken.
Dann ist mein Reisepass abgelaufen, und ich musste das Land verlassen. Sollte ich zurück nach Syrien fahren? Und dort im Krieg leben? Ich habe mich also auf den Weg in die Türkei gemacht. Ich habe einen Job in einer Klamottenfabrik gefunden, dort habe ich Sachen gebügelt.
In der Türkei arbeiten die syrischen Flüchtlinge schwarz. Das ist für die türkische Regierung kein Problem, die wissen das auch. Aber weil wir nicht registriert sind, kann es sein, dass die Chefs Arschlöcher sind. Es kann sein, dass man monatelang arbeitet und der Chef einem einfach kein Geld gibt. Ich hatte zum Glück einen netten Chef. Trotzdem war es ein Risiko. Ich habe immer von 9 bis 16 Uhr gearbeitet. Ich bin dann nach Hause gegangen und um 21 Uhr habe ich die nächste Schicht bis um 5 Uhr gemacht. Ich wollte so viele Schichten wie möglich machen und möglichst viel Geld verdienen.
Im Schlauchboot über das Meer weinte einer wie ein kleiner Junge
Nach drei Monaten hatte ich keinen Bock mehr. Es ändert sich nichts im Leben, du verdienst Geld und gibst es wieder aus für Miete und die Familie. Ich wollte etwas Neues machen, studieren und mich entwickeln. In der Türkei ging das für mich nicht. Da habe ich angefangen, an Europa zu denken. Das war im August 2015. Ich hatte Angst davor, in einem Gummiboot übers Meer zu fahren, viele Menschen sterben.
Ich habe mich mit einem Schleuser getroffen, mit dem schon ein Bekannter gefahren ist. Ich hatte also ein bisschen Vertrauen zu ihm, dass er uns wirklich fährt und nicht das Geld klaut. Ich gab ihm 1.250 Dollar in bar. In derselben Nacht saß ich im Boot.
Es war ein Schlauchboot, 40 Menschen, man konnte sich überhaupt nicht bewegen, so eng war es. Und es war still, denn jeder hatte Angst. Es waren Familien dabei, Kinder. Irgendwann fing ein junger Mann an zu weinen, wie ein kleiner Junge.
Normalerweise dauert so eine Fahrt ein oder zwei Stunden. Aber die Schleuser haben von einer anderen Stelle abgelegt als sonst, da die türkische Polizei viel kontrollierte. Deswegen dauerte die Fahrt länger. Nach dreieinhalb Stunden sahen wir immer noch die Türkei hinter uns, aber Griechenland vorne nicht. Wir bekamen Angst. Wir waren genau in der Mitte des Meeres, habe ich auf meinem Handy gesehen. Sollten wir weiterfahren oder umkehren? Wir haben abgestimmt und die Mehrheit war für Griechenland. Am Ende sind wir unbeschadet angekommen.
Dann stürmten wir die mazedonische Grenze
Von Griechenland aus bin ich zu Fuß und mit dem Bus weiter an die mazedonische Grenze. Dort warteten schon mehrere tausend Flüchtlinge. Nach vier Tagen haben wir gemerkt, dass wir hier unsere Zeit und unser Geld vergeuden. Es ist normal, dass man sich in Gruppen organisiert, alle haben ja den gleichen Weg. Wir waren eine Gruppe von 60 Leuten. Jede Gruppe hatte einen Leiter, das ist jemand, dem alle vertrauen.
Unsere Gruppenleiter haben vereinbart: Wenn sie uns bis heute Nacht um zwei Uhr nicht reinlassen, dann werden wir die Grenze einrennen. Egal was passiert, wir möchten rein. Sie werden vielleicht auf uns schießen, aber sie werden nicht alle treffen. So haben wir es dann gemacht. Wir waren Tausende, sie waren vielleicht 50 Polizisten. Nach zwei Stunden waren wir auf der anderen Seite der Grenze.
Von Mazedonien gingen wir nach Serbien, Ungarn, Österreich. Und am Ende nach Deutschland.
Die nächste Station war ein Container in Deutschland
Ich landete in einer Kleinstadt bei Köln. Dort habe ich zum ersten Mal ein Zimmer bekommen. Das waren Container. Wir hatten nichts, keine Küche, kein Geschirr. Und unser Deutsch war so schlecht, deswegen konnten wir nicht fragen, ob das so bleibt. Ich war schockiert, die erste Nacht habe ich geweint: Ich war 24, ich hatte studiert und jetzt saß ich in einem Container.
Nach dem Asylantrag musste ich acht Monate auf mein erstes Interview beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge warten. Und dann noch einmal zwei Monate, bis mein Antrag angenommen wurde. Nebenher habe ich die ganze Zeit Deutsch gelernt. Eine ältere Frau hat mich zuhause unterrichtet. Sie war wirklich die beste Deutschlehrerin, die ich je kennengelernt habe. Nach einem Jahr und neun Monaten habe ich einen C1-Test gemacht, damit ich an der Uni studieren konnte.
Mein syrischer Abschluss wurde nicht anerkannt. Ich hätte noch einmal ein Lehramtsstudium aufnehmen müssen, um etwas damit anzufangen. Ich war damals sehr verloren. Ich habe nächtelang nicht geschlafen, weil ich nicht wusste, was ich mit meiner Zukunft machen soll. Sollte ich eine Ausbildung machen? Sollte ich arbeiten gehen? Oder doch auf Lehramt studieren?
Die Begegnung veränderte mein Leben
In einem Café in Köln habe ich einen Unternehmensberater kennengelernt. Er hat mir ein Praktikum angeboten. Ich habe angenommen. Er war mein Chef, er wurde mein Vorbild, ich wollte alles von ihm lernen. Er hatte Wirtschaftsinformatik studiert, also habe ich auch Wirtschaftsinformatik studiert. Ich fing bei ihm als Werkstudent an.
Dann bewarb ich mich bei der Konrad-Adenauer-Stiftung um ein Stipendium. Ich habe mich drei Monate lang vorbereitet, viele Zeitungen gelesen und mich mit Tagespolitik auseinandergesetzt. Das Stipendium habe ich dann bekommen. Es ist eine sehr große Hilfe für mich.
Dieser Abend, als ich meinen neuen Chef kennenlernte, war der Schlüssel für mein Leben in Deutschland. Ich kann ihm nie in meinem Leben dankbar genug sein. Ich habe einen Job, in dem ich mich beruflich entwickeln kann, etwas, das mit meinem Studium zu tun hat und das ich mit Stolz in meinen Lebenslauf schreiben kann.
Mein Antrieb ist meine Familie. Ich gebe nicht auf, weil ich meine Familie versorgen muss. Ich habe einen kleinen Bruder, der gerade sein Abitur gemacht hat. Ich wünsche mir, dass er irgendwann nach Deutschland kommt und hier Medizin studiert. Er hat die Note 1,1 – in dieser Kriegszeit ist das ein Wunder. Meine Familie hat in diesem Jahr richtig viel gelitten, sie mussten ständig an einen anderen Ort fliehen.
Die Syrer:innen müssen sich erst an den Leistungsdruck und an das Jobcenter gewöhnen
Ich habe das alles geschafft, weil ich mich getraut habe. Ich bin stolz auf mich, dass ich es probiert habe. Und bis jetzt läuft es eigentlich ganz gut. Ich investiere viel Zeit in mein Studium und in meine Arbeit. Ich glaube nicht, dass ich ein richtig kluger Typ bin, der alles auf den ersten Blick versteht. Nein, ich kämpfe mit mir selber, wenn ich lernen muss. Das Studium ist nicht einfach, aber ich werde nicht aufgeben. Und es lohnt sich. Für mich, meine Zukunft, meine Geschwister, meine Eltern. Ich kann nichts ändern im Leben anderer Menschen, aber ich kann bei mir selber was ändern.
Bevor ich studiert habe, habe ich zweieinhalb Jahre vom Jobcenter gelebt. Das Jobcenter ist für viele ein Hindernis. Das hat einige Syrer ein bisschen faul gemacht. Ich kenne das von mir selbst: Es war schwer zu entscheiden, dass ich studieren und arbeiten gehe. Plötzlich musste ich meine Miete selbst zahlen! Ich war dann alleine verantwortlich für mich. Diesen Schritt muss man sich trauen.
Man kommt aus einem Kriegsland und ist hier auf einmal zwischen Deutschen. Auf einmal ist man hier in einer Gesellschaft, wo man anders denkt, anders tickt. Es gibt so eine Konkurrenz hier, alle sind erfolgreich. Irgendwann wollte ich auch so leben. Irgendwann dachte ich: Ich werde vom Jobcenter nie reich und außerdem ist es doch langweilig, nichts zu machen.
Viele Menschen denken: Integration ist, dass man deutsche Freunde hat und so lebt wie Deutsche. So habe ich nie gedacht. Am Ende bedeutet Integration, Steuern zu zahlen. Man kann religiös leben, man kann jede Woche in die Moschee gehen. Gegen sowas hat Deutschland gar nichts. Wir integrieren uns, indem wir Arbeiter werden und etwas tun und nicht bloß Geld vom Jobcenter kriegen.
Meine Familie habe ich seit sieben Jahren nicht gesehen
Ich bin jetzt 28 Jahre alt und Student im vierten Semester. Viele meiner Kommilitonen sind genauso weit wie ich, und maximal 24. Ich bin manchmal neidisch: Warum hatten sie so viel Glück im Leben? Es hat lange gedauert, bis ich das verarbeitet habe. Heute weiß ich: Ich bin auch erfolgreich, aber auf eine andere Art und Weise. Ich habe gearbeitet, ich habe meine Familie unterstützt, ich musste in verschiedene Länder fliehen. Ich musste ein ganz anderes Leben führen.
Meine Familie habe ich seit sieben Jahren nicht gesehen. Ich sehe bei Videoanrufen, dass meine Eltern älter werden. Mein jüngster Bruder ist gerade zehn Jahre alt geworden. Als ich ihn verlassen habe, konnte er nicht mal richtig sprechen und jetzt redet er mit mir wie ein erwachsener Mensch.
Meine alten Freunde haben jetzt zwei, drei Kinder. Wäre das nicht schöner, wenn ich jetzt zwei Kinder hätte, anstatt in Deutschland allein zu bleiben? Das sind Fragen, die man sich manchmal stellt. Eine Antwort habe ich nicht darauf.
Früher habe ich mich schuldig gefühlt, ein Flüchtling zu sein. In den Nachrichten hat man die ganze Zeit gehört, dass von uns gesprochen wird, dass gerade eine Katastrophe passiert. Man schämt sich, obwohl man nichts gemacht hat. Aber jetzt lebe ich gerne hier. Ob ich irgendwann zurückgehe, kann ich jetzt noch nicht sagen. Ich fühle mich wohl hier, ich kann viele Dinge erreichen, die ich in meinem Land nicht erreichen kann. Nächstes Jahr will ich die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Bei den nächsten Wahlen kann ich dann hoffentlich mitwählen.
In unserer Serie „Was ich wirklich denke“ lassen wir Menschen sprechen, die interessante Berufe haben, die in herausfordernden oder besonderen Lebenssituationen stecken oder die etwas Ungewöhnliches erlebt haben. Trifft das auf dich zu und willst du davon erzählen? Dann melde dich unter: theresa@krautreporter.de
Redaktion: Philipp Daum, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel