In den vergangenen Tagen haben mehrere Videos von Polizeieinsätzen die Debatte über Polizeigewalt in Deutschland befeuert: Eine Aufnahme aus Frankfurt zeigt, wie Polizisten heftig auf einen am Boden fixierten Mann eintreten. Bei einem Einsatz in Hannover schlägt ein Polizist eine Frau, die dazwischen gehen möchte, gegen den Hals.
Aber diese Polizeikontrolle eines 15-Jährigen in Hamburg beschäftigt inzwischen besonders viele Menschen:
https://twitter.com/yerimseniavrupa/status/1295419330344243205
Der Jugendliche war laut Stellungnahme der Polizei Hamburg „in den letzten Tagen bereits mehrfach aufgefallen“, weil er „mit dem Elektro-Roller wiederholt verbotswidrig den Gehweg benutzt“ hatte. Er habe nicht bei der Feststellung seiner Identität geholfen und stattdessen mit den Armen um sich geschlagen und „teils seine Faust“ geballt. Das kann man am Anfang des gesamten Videos auch sehen (zum Beispiel hier auf Instagram). Die Polizist:innen haben anschließend Pfefferspray eingesetzt und den Jugendlichen am Boden gefesselt.
Nun ist die Frage: Waren die „Einsatztechniken“, die die Polizist:innen angewendet haben, verhältnismäßig? Hätte es auch andere Lösungen gegeben? Polizeistellen lehnen solche Fragen von Medien und Bürger:innen häufig ab und behaupten, jegliche Kritik stelle die Polizist:innen unter Generalverdacht. „Unsere Polizei leistet täglich einen großartigen und vor allem rechtsstaatlichen Dienst für die Menschen in unserem Land – es wäre angebracht ihnen den Rücken zu stärken und nicht in den Rücken zu fallen!“, schreibt etwa der Jugendverband des Deutschen Beamtenbundes auf Facebook.
Dabei geht es gar nicht darum, jemandem in den Rücken zu fallen. Diese Wir-gegen-die-Sprache trägt eher dazu bei, dass diejenigen, die schon skeptisch sind, noch skeptischer werden. Denn die Polizei ist Trägerin des staatlichen Gewaltmonopols. Das bedeutet, dass sie Gewalt anwenden darf, wenn es notwendig ist – ohne damit gegen das Gesetz zu verstoßen. Damit sie diese Aufgabe verantwortungsvoll ausführen kann, braucht es Prüfung, Kontrolle und: öffentliche Kritik.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser
Hinter dem „staatlichen Gewaltmonopol“ steht folgender Gedanke: Dass Bürger:innen selbst keine Gewalt anwenden, funktioniert nur, wenn es eine öffentliche Stelle gibt, die über diesen Gewaltverzicht wacht und ihn durchsetzt – notfalls mit Gewalt. Diese Stelle wird dafür mit besonderen Rechten ausgestattet. In der Regel ist das die Polizei.
Die Betonung liegt auf notfalls. Gewalt läuft allen demokratischen Idealen zuwider. Sie ist das Gegenteil einer zivilisierten Debatte. Das gilt für Bürger:innen – aber es gilt eben auch für die Polizei.
Wenn eine staatliche Stelle unter bestimmten Bedingungen Gewalt gegen seine Bürger:innen einsetzen darf, schafft das ein Machtgefälle. Und das ist ein weiteres demokratisches Ideal: Alle Macht muss kontrolliert werden. Wir können nicht einfach davon ausgehen, dass sie niemals missbraucht wird. Es braucht eine Balance, ein Zusammenspiel der Gewalten, und in unseren modernen Demokratien ist „die Öffentlichkeit“ auch so eine Gewalt geworden, manchmal sogar eine effektivere als die Justiz. Sie ist Teil der Kontrolle. Und es scheint so, als ob die Institution „Polizei“ und all diejenigen, die sie blind verteidigen, gerade Probleme haben, genau das zu akzeptieren.
Die Verteidiger haben Recht, wenn sie sagen, dass auch bei Kritik und Beschwerden der Dienstweg eingehalten werden kann. Die Bundeszentrale für politische Bildung nennt neben der öffentlichen noch drei weitere Arten der Kontrolle: administrative, strafrechtliche und politische.
Aber: Die öffentliche Kontrolle ist in Deutschland im Moment die wertvollste. Denn auch an den drei anderen Kontrollformen gibt es Kritik.
Dabei üben nicht nur Journalist:innen die öffentliche Kontrolle aus, sondern auch Nichtregierungsorganisationen, Bürgerinitiativen – und wir alle als Privatpersonen. Welche Gewalt finden wir als Gesellschaft angemessen? Um diese Frage zu klären, sollten wir alle mit am Tisch sitzen.
Sollte sich zeigen, dass eine bisher übliche Taktik für die Öffentlichkeit nicht mehr akzeptabel ist, muss die Polizei über Alternativen nachdenken.
Dabei geht es nicht um einen Generalverdacht, sondern darum zu verhandeln: Finden wir das richtig? Haben die Polizist:innen ihr Gewaltmonopol verantwortungsvoll eingesetzt? Gibt es bessere Herangehensweisen? Deshalb ist es gut, dass es die Videos der Polizeieinsätze in Frankfurt, Hannover und Hamburg gibt. Statt alle Kritik pauschal beiseite zu wischen, wäre es gut, wenn sich die Polizei als Institution selbst hinterfragt, so wie es auch alle anderen Menschen und Organisationen machen müssen, die in diesem Land Macht haben und Verantwortung tragen.
Einzelne tun das schon. Der Vorsitzende des Vereins Polizei Grün, Kriminalhauptkommissar Oliver von Dobrowolski, zum Beispiel äußert sich oft kritisch zu Polizeieinsätzen. Allerdings wird er dafür von Kolleg:innen auch gern mal als „Kollegenschwein“ beschimpft. Genau diese Einstellung, dass die eigene Institution auf keinen Fall kritisiert werden darf, ist ein Problem. Und das Problem kann sich auch auf den anderen Ebenen der Kontrolle zeigen, die ich vorhin erwähnt habe.
Die anderen Kontrollinstanzen funktionieren nur bedingt
Fangen wir mit der Selbstprüfung an: die administrative Kontrolle. Sie bedeutet, dass die Polizei selbst schaut, ob Polizist:innen die staatliche Gewalt rechtmäßig ausüben. Wenn es bei Beamt:innen Anhaltspunkte für ein Dienstvergehen gibt, muss ein:e Dienstvorgesetzte:r ein internes Disziplinarverfahren einleiten. Je nach Schwere des Vergehens können die Vorgesetzten dann verschiedene Maßnahmen ergreifen, etwa einen Verweis aussprechen oder eine Geldbuße verlangen. Nach dem Polizeieinsatz in Frankfurt wurde nun ein Disziplinarverfahren gegen drei Polizisten eingeleitet. Allerdings war der öffentliche Druck durch die veröffentlichten Videos auch ziemlich groß, sodass die Dienststelle handeln musste.
Die strafrechtliche Kontrolle setzt dann ein, wenn ein:e Bürger:in Polizist:innen anzeigt. Dann kommt es zu Ermittlungen, die die Staatsanwaltschaft übernimmt – oft aber auch die Polizei selbst durchführt. Erst nach den Ermittlungen wird entschieden, ob Anklage erhoben oder das Verfahren eingestellt wird. So müssen Polizist:innen quasi gegen ihre eigenen Kolleg:innen ermitteln. Wie groß ist da der Aufklärungswille? In vergangenen Jahren wurde in mehr als 90 Prozent der Fälle das Verfahren eingestellt.
Der Polizeiforscher Tobias Singelnstein hat außerdem im vergangenen September in einem Zwischenbericht einer aktuellen, nicht-repräsentativen Studie festgestellt, dass viele Betroffene von Polizeigewalt gar keine Anzeige erstatten – weil sie davon ausgehen, dass sie damit sowieso keinen Erfolg haben.
Die dritte Ebene, die politische Kontrolle, liegt beim Parlament, in Deutschland also beim Bundestag. Dort gibt es immer wieder Diskussionen über Polizeireformen. Die Grünen haben zum Beispiel einen Antrag zu „verfassungsfeindlichen Tendenzen in der Polizei“ gestellt, der im Juni aber von der Mehrheit der Abgeordneten abgelehnt wurde. Der Bundestag setzt sich mehrheitlich aus den Parteien zusammen, die auch die Bundesregierung stellen. Weil Kritik an polizeilichen Handlungen auch für das Innenministerium heikel werden kann, gibt es womöglich keinen sonderlich stark ausgeprägten Willen, die polizeilichen Strukturen zu überprüfen. Ein Anhaltspunkt: Dass Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sich weigert, wissenschaftlich untersuchen zu lassen, ob und inwiefern seine Beamt:innen Personen nur deswegen kontrollieren, weil ihre Hautfarbe nicht „weiß“ ist. Zudem sehen sich konservative Parteien selbst als die Parteien von „Recht und Ordnung“. Im Zweifel stellen sie sich lieber vor die Sicherheitskräfte.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International fordert schon lange unabhängige Untersuchungsinstanzen für die Polizei. Ein Vorteil für die Polizeiarbeit wäre dabei, dass Polizist:innen im Zweifelsfall auch entlastet werden könnten. Denn wenn Verfahren gegen Polizist:innen nach polizeilichen Ermittlungen eingestellt werden, hat das einen Beigeschmack. Wenn eine unabhängige Behörde feststellt, dass ein Einsatz verhältnismäßig war, ist das höchstwahrscheinlich glaubwürdiger.
So könnte auch die deutsche Polizei der ganzen Kritik Herr werden: Indem sie nicht einfach abwiegelt, denn dann wird diese Kritik nur stärker, lauter, unnachgiebiger. Sondern indem die Polizei beim eigenen Dienstherrn darauf drängt, dass sich strukturell etwas ändert. Denn auch hier gibt es ein Machtgefälle. Einzelne Polizist:innen können vor Ort etwas ausrichten, sich anders verhalten, öfter deeskalieren. Viele von ihnen tun das schon lange. Wenn aber die Innenminister:innen und Polizeipräsident:innen nicht beginnen, ihre eigenen Behörden zu reformieren, wird das wenig ausrichten. Das Vertrauen der Bevölkerung schmilzt dahin, mit jedem veröffentlichten Video mehr. Denn wenn die Polizei-Verantwortlichen reagieren, wie sie immer reagieren, senden sie eine Botschaft, die so nicht stimmt, aber eben hängen bleibt: Im Grunde können die Beamt:innen machen, was sie wollen.
Liebe Polizei, zeig uns, dass das nicht stimmt.
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Martin Gommel