Sechs Wochen Quarantäne, ohne Internet, überwacht von Kameras

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Flucht und Grenzen

Sechs Wochen Quarantäne, ohne Internet, überwacht von Kameras

Die Bewohner einer Sammelunterkunft für Geflüchtete waren komplett von der Außenwelt abgeschnitten.

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Reporterin

Vier Tage nach Ende der Quarantäne sieht Fabrice Njundem Moussa immer noch müde aus, als er vor dem Rathaus in Hennigsdorf auf mich wartet. Die letzten sechs Wochen durfte er seine Unterkunft nicht verlassen. Er tippt auf seinem Handy herum, vor ihm steht ein rosafarbenes, etwas verrostetes Damenrad. Der untere Teil seines Gesichts ist von einem weißen Mund-Nasen-Schutz bedeckt, den er abnimmt, als ich mich zu ihm setze.

Quarantäne, das bedeutet in Moussas Fall: sechs Wochen lang nicht die Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete im brandenburgischen Hennigsdorf verlassen. Während die meisten Menschen in Deutschland trotz Auflagen weiter in den Supermarkt gehen konnten, durfte er nicht selbst einkaufen, sondern musste Bestellungen beim Betreiber der Unterkunft abgeben. Er durfte zwar das Gebäude verlassen – aber nur, wenn sonst niemand auf dem Gelände unterwegs war. Während ich trotz allem im Wald joggen gehen und mit meinem Freund im Park sitzen konnte, durfte er nur in unmittelbarer Nähe des Gebäudes bleiben. Vom 17. April bis einschließlich 2. Juni galten diese Vorschriften für die etwa 40 Bewohner:innen von Haus 4 in der Gemeinschaftsunterkunft in Hennigsdorf – jeden Tag. Dabei hatte die große Mehrheit von ihnen sogar einen negativen Corona-Test.

„Wir waren komplett von der Außenwelt abgeschnitten“, sagt Moussa. In der Unterkunft gibt es kein Internet. Er kann nur über mobiles Internet mit seinen Freund:innen und seiner Familie in Kontakt bleiben. Wenn er aber nicht selbst einkaufen geht, kann er sich auch kein Guthaben für die Prepaid-Karte holen. Einen Handyvertrag kann er ohne Aufenthaltsgenehmigung auch nicht abschließen.

Für Geflüchtete, die mit vielen Mitbewohner:innen auf engem Raum leben, ist die Coronakrise eine größere Herausforderung als für viele andere im Land. Sechs Wochen Quarantäne für Menschen mit negativem Corona-Test? Was ist in der Unterkunft in Hennigsdorf passiert?

Moussa stammt aus Kamerun. Vor zwei Jahren ist er nach Deutschland gekommen. Seit August 2018 lebt er in der Gemeinschaftsunterkunft in Hennigsdorf. Die Wohnsituation dort ist schon unter normalen Umständen schwierig. In Quarantäne wird sie zum Extrem.

Wir sehen eine Atemmaske, die von Mousse vor seiner Jacke gehalten wird.

Auf jeder Etage gibt es ein Bad und eine Küche, die sich etwa 30 Menschen teilen. In den Zimmern stehen je nach Größe zwei bis vier Betten. Meistens werden Menschen gleicher Nationalität zusammen in einem Zimmer untergebracht. „Aber nur weil wir aus dem gleichen Land kommen, heißt das nicht, dass wir automatisch gut miteinander auskommen“, sagt Moussa. Er teilt sein Zimmer mit drei anderen Kamerunern. Einer von ihnen hat regelmäßig „Krisen“, sagt Moussa. Er zeigt mir ein Video, in dem er langsam das Zimmer filmt. Der Raum ist mit Möbeln vollgestellt. An einem Schrank sieht man eine eingedrückte Stelle, etwa faustgroß. An Wände und Möbel sind mit schwarzem Filzstift Wörter und Zeichen gekritzelt. „Das war mein Mitbewohner“, sagt Moussa. Weil er dieses Zusammenleben nicht mehr aushalten konnte, ist er während der Quarantäne in ein anderes Zimmer umgezogen. Bei einem Freund war ein Bett frei, weil dessen Mitbewohner positiv auf Covid-19 getestet worden ist.

Mehr als 400 Menschen waren zeitweise in Hennigsdorf in Quarantäne

Mitte April gab es in der Hennigsdorfer Unterkunft Reihenuntersuchungen auf das Coronavirus. 68 Menschen wurden positiv auf Covid-19 getestet, deshalb haben die Behörden alle fünf Häuser der Gemeinschaftsunterkunft unter Quarantäne gestellt. Das betraf mehr als 400 Menschen. Am längsten dauerte die Quarantäne in Haus 4 – dem Haus, in dem Moussa wohnt.

Moussa selbst ist zweimal auf das Coronavirus getestet worden – am 21. April und am 5. Mai. Beide Tests waren negativ. Er zeigt mir ein Schreiben des Amtsarzts vom 8. Mai, in dem steht: „Ihr Test ist negativ. Eine Erkankung an Covid-19 konnte nicht nachgewiesen werden. Da Sie jedoch Kontakt mit Personen hatten, die positiv auf SARS-CoV-2 getestet wurden, erhalten Sie in Kürze einen Absonderungsbescheid.“ Dieser „Absonderungsbescheid“ kam am selben Tag – und bedeutete im Klartext: Die Quarantäne geht vorerst weiter bis zum 21. Mai. Da war Moussa schon seit drei Wochen von der Außenwelt abgeschnitten.

Die Verwaltung des Landkreises Oberhavel schreibt mir per E-Mail, die Quarantäneanordnungen basierten auf dem Infektionsschutzgesetz. Laut dem Gesetz sollten Kontaktpersonen von positiv auf das Coronavirus Getesteten häuslich isoliert werden. Das heißt: Wer in engen Kontakt mit einer Person gekommen ist, die einen positiven Corona-Test hat, muss in Quarantäne. Als enger Kontakt gilt schon, 15 Minuten mit der Person zu sprechen. Weil die Bewohner:innen der Gemeinschaftsunterkünfte sogar mit den positiv Getesteten zusammen in einem Haus gewohnt haben, mussten sie alle in Quarantäne.

In Moussas Gebäude dauerte die Quarantäne vor allem deshalb so lang, weil eine tschetschenische Familie sich geweigert hatte, nach der Infektion eines Familienmitglieds in einem anderen Gebäude in Isolation zu gehen, sagt er. Die Pressesprecherin des Landrats im Landkreis Oberhavel, Ivonne Pelz, bestätigt das. Nicht einmal eine sogenannte Binnenisolation innerhalb des Hauses habe die Familie akzeptiert.

Wenn die Familie sich nicht geweigert hätte, umzuziehen oder innerhalb des Hauses isoliert zu werden, hätte die Quarantäne für die anderen Bewohner:innen kürzer sein können. Dann wäre am 8. Mai, als ein weiterer Fall im Haus festgestellt wurde, die Uhr von neuem losgegangen: zwei Wochen Quarantäne. Sie hätten sich wahrscheinlich schon am 22. Mai wieder frei bewegen können – zehn Tage früher als es letztendlich der Fall war. Aber so mussten alle 40 Bewohner:innen warten, bis das Mitglied der Familie genesen war. Erst danach konnte die zweiwöchige Quarantäne für alle beginnen.

Die Behörde hat zwar gesetzmäßig gehandelt, aber der Fall zeigt eins: Eine Unterbringung von vielen Menschen auf so engem Raum kann zum Problem werden. Plötzlich hing die Bewegungsfreiheit von 40 Menschen davon ab, wie eine einzelne Familie sich verhält.

Die Bewohner:innen wurden nicht ausreichend informiert

Ende April hatten die Bewohner:innen von Haus 4 einen offenen Brief zu ihrer Situation geschrieben, den der Flüchtlingsrat Brandenburg auf Facebook veröffentlicht hat. „Wir sind nicht zufrieden, wie wir behandelt werden“, steht darin. Sie fordern Updates zu den Tests und wollen wissen, wie lange die Quarantäne andauern wird. Sie fragen nach WLAN und eigenen Briefkästen. Es sind keine übertriebenen Forderungen, aber sie bleiben unbeantwortet.

Eine psychologische Betreuung gab es nicht und auch die Kommunikation mit ihren Helfer:innen sei während der Quarantäne abgeschnitten gewesen, sagt Moussa. Der Flüchtlingsrat Brandenburg gibt mir die Auskunft, dass die Mitarbeiter:innen teilweise per Telefon Kontakt mit den Bewohner:innen halten konnten – allerdings hauptsächlich mit denjenigen, die sie schon vorher beraten hatten.

Wir sehen ein dreistöckiges Haus mit flachem Dach, davor ein Fußballplatz neben einer Wiese – Moussa schiebt auf dem Weg am Haus vorbei sein Fahrrad.

Wir laufen gemeinsam zur Unterkunft. Unterwegs begegnen wir vielen Menschen, die Moussa grüßen. Sie fahren mit dem Fahrrad die 1,5 Kilometer bis ins Zentrum der Stadt oder sind zu Fuß am Rand der viel befahrenen Straße unterwegs. Auf dem Gelände der Gemeinschaftsunterkunft stehen viele Fahrräder, die meisten vor Haus 4. Das Gebäude ist als einziges auf dem Gelände von einem Bauzaun begrenzt, vor dem Haus steht ein weißes Partyzelt, in dem einige Menschen sitzen und quatschen.

Als ich kurz einen Blick in Moussas Zimmer werfen will, werde ich vom Wachschutz an der Tür davon abgehalten. Ich sehe Videokameras in den Gängen, auch außen am Gebäude hängt eine Überwachungskamera. „Vor der Quarantäne war alles in der Unterkunft in Ordnung“, sagt Moussa. Über die Kameras hätten sich die Bewohner:innen aber trotzdem gewundert – und auch dagegen protestiert.

Die Unterbringung der Geflüchteten muss sich ändern

Ein paar Tage nach unserem Gespräch schreibt Moussa mir, dass es ihm schon etwas besser geht. Aber ich weiß, was er sich wünscht: eine „würdige“ Unterbringung. Mit diesem Wunsch ist er nicht allein.

Am 1. Juni demonstrierten in Potsdam mehrere hundert Menschen unter anderem dafür, Sammelunterkünfte im Land Brandenburg komplett abzuschaffen und Geflüchtete in Wohnungen unterzubringen.

Nicht nur in Brandenburg gibt es Protest gegen die Massenunterbringung. Bewohner:innen einer Unterkunft im sächsischen Dölzig haben schon Ende März einen offenen Brief geschrieben, dass sie sich nicht genügend vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus geschützt fühlen. Sicherheitsabstand sei nicht möglich, Seife und Desinfektionsmittel fehlten in der Unterkunft in Dölzig. Ende Mai demonstrierten etwa 100 Menschen in Leipzig gegen die Bedingungen in der Unterkunft.

Einer Studie der Universität Bielefeld zufolge können Gemeinschaftsunterkünfte für Geflüchtete wegen der hohen Personendichte zu Hotspots für Corona-Infektionen werden. Nach der Feststellung eines Falls ergebe sich ein Ansteckungsrisiko für alle übrigen Bewohner:innen von 17 Prozent.

In einer Unterkunft in Berlin-Buch waren Ende Mai ebenfalls 25 Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Eine Quarantäne für Nichtinfizierte war dort aber nicht nötig – weil die Bewohner:innen einzelne Wohneinheiten mit eigenen Bädern und Küchen haben. So kann die Unterbringung funktionieren.

Zumindest die Stadtverordnetenversammlung von Potsdam hat Anfang Juni beschlossen, die Forderung nach Einzelunterbringung umzusetzen. Kristin Neumann vom Flüchtlingsrat Brandenburg sieht das als ersten Schritt in die richtige Richtung: „Dem Beschluss müssen nun Taten folgen, aber die Erkenntnis, dass Sammelunterkünfte für Geflüchtete ungeeignet sind, ist schon einmal viel wert.“


Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Fotos: Belinda Grasnick; Bildredaktion: Martin Gommel.