Vor mehr als 15 Jahren traf ich die Entscheidung, die USA zu verlassen. Einer der Gründe dafür war meine Hautfarbe. Ständig wurde ich an sie erinnert, Schwarzsein wird in den USA mit Armut und Kriminalität verbunden.
Obwohl ich in New York geboren wurde, wuchs ich in Sambia auf, studierte dann aber in einer kleinen Universitätsstadt im mittleren Westen. Mein Alltag dort als afrikanischer Student (mit US-Nationalität) war jedoch weit von der „Erfahrung Schwarzer“ oder zumindest ihrer Darstellung in den Medien entfernt. Schließlich stellen sie Schwarze eher als Kriminelle, als arm und oft auch als ungebildet dar. Mir blieb gut in Erinnerung, wie oft Afro-Amerikaner in den Nachrichten vorkamen: als Täter oder als von Armut Betroffene.
Deutschland schien der perfekte Ort zu sein, um all den politischen Debatten über „Rassen“ zu entgehen. Denn über „Rassen“ spricht hier offiziell niemand. Die NS-Ideologie wirkt sich bis heute auf den Umgang der Deutschen mit Rassismus und Diskriminierung aus: Jeder Versuch, Gruppen zu definieren und zu erfassen, die in besonderer Weise von rassistischer Diskriminierung betroffen sind, gilt vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte als bedenklich. Deswegen erfasst Deutschland keine Daten über ethnische Zugehörigkeit. Hierfür existieren schlicht keine Kategorien, und viele Deutsche möchten auch keine einführen. Das würde sich anfühlen, als belebe man die Idee des Nationalsozialismus wieder.
Oberflächlich betrachtet, ist das ein Vorteil. Wo es keine „Rassen“ gibt, gibt es auch keinen „Rassismus“, oder?
Aber der Politikwissenschaftler Joshua Kwesi Aikins sagte mir einmal, dass es notwendig und möglich sei, über Diskriminierung zu sprechen und dazu betroffene Gruppen zu benennen – ohne Ausgrenzung zu verstärken. Denn auch über Diskriminierung in der Gesellschaft zu schweigen, kann spalten. Weil Deutschland offiziell überhaupt keine Kategorien hat, um ethnische Zugehörigkeit zu erfassen, gäbe es, so Aikins, nur sehr wenig Bewusstsein für die Folgen von institutionellem Rassismus in der Gesellschaft.
Auf Dating-Plattformen werde ich fetischisiert
Während aber die öffentliche Debatte in Deutschland Diskussionen über diesen Rassismus weitgehend vermissen lässt, erlauben mir meine Begegnungen mit Deutschen nicht, meine Hautfarbe in diesem Land zu vergessen. Oft ist sie Thema in Gesprächen. Als Schwarzer bin ich wiederholt rassistisch exotisiert und als Objekt wahrgenommen worden, beispielsweise in Dating-Plattformen, die Stereotype in teilweise verstörender Art und Weise offenbaren. Beinahe täglich erhielt ich Nachrichten, die zahlreiche Vorurteile gegenüber schwarzen Menschen und ihren Körperteilen beinhalteten. Oft las ich, dass Interessierte schwarze Haut besonders mögen. Für mich nichts anderes als ein Zeichen für Fetischismus, was mir klar machte, dass ich wegen meiner Hautfarbe als Objekt wahrgenommen werde.
Besonders vorsichtig bin ich auch bei Polizisten, sei es auf der Straße oder an Flughäfen. In Saarbrücken hielt mich einst eine Polizeistreife während eines Abendspaziergangs an und fragte nach meinen Papieren. Ich antwortete auf Englisch: „I’m American, and my apartment is only ten minutes away. So you can come back with me if you like“ („Ich bin Amerikaner und meine Wohnung ist nur zehn Minuten entfernt. Sie können mich dorthin begleiten.“). Überraschte Blicke trafen mich. Die Polizisten sagten: „Alles in Ordnung“, und ich konnte meinen Spaziergang fortsetzen. Mein fast perfekter amerikanischer Akzent und meine Nationalität können mir offensichtlich in unangenehmen Situationen behilflich sein.
In Momenten, in denen ich einen Raum betrete, in dem sich mir unbekannte Personen befinden, versuche ich abzulesen, wie diese auf meine Hautfarbe und Anwesenheit reagieren. Ich muss Strategien entwickeln, um in einer Welt zurechtzukommen, in der ich höchstwahrscheinlich unter Verdacht stehe, nur weil ich schwarz bin. Allerdings stoße ich dabei an Grenzen.
Für Weiße ist es einfach, Rassismus zu übersehen, für mich: unmöglich
Auf einer Dienstreise mit zwei deutschen Kollegen wurde ich in Berlin-Tegel einer Taschenkontrolle unterzogen, obwohl ich im Unterschied zu meinen Begleitern keine Videokameras, Mikrofone und Stative im Handgepäck hatte. Die beiden liefen einfach vor mir hindurch, ohne zusätzliche Kontrolle, ohne Demütigung, persönliche Dinge in einem öffentlichen Raum ausbreiten zu müssen. Handelte es sich um eine Zufallskontrolle oder „Racial Profiling“? Die Antwort muss ich schuldig bleiben.
Die Erinnerung an diese schmerzhafte Erfahrung ist jedoch geblieben, vor allem da keiner der Kollegen zu diesem Vorkommnis etwas sagte. Dass sie nicht erkennen konnten, dass ich hier möglicherweise Opfer von „Racial Profiling“ geworden war, zeigte mir, dass es für Weiße stets einfacher ist, rassistische Diskriminierung (sogar absichtlich?) zu übersehen. Für mich ist es unmöglich.
Obwohl ich auf Reisen als Schwarzer immer wieder Verdacht errege, komme ich doch irgendwann ans Ziel. Im Berufsleben ist das allerdings nicht der Fall. Dort kann es schwierig sein, zu erkennen, wann sich Herkunft oder Hautfarbe auf Entscheidungen auswirken, die einen beeinträchtigen. Manchmal rutschen Kollegen Bemerkungen heraus, die einen flüchtigen Blick auf ihre Vorurteile erlauben.
Zu Beginn meiner journalistischen Tätigkeit sagte ein älterer Kollege zu mir: „Du hast nicht das Problem vieler Schwarzer. Du klingst nicht schwarz“, fügte jedoch hinzu: „Dein Problem ist, dass du schwul klingst.“
Das erstaunte mich, da mir meine sexuelle Orientierung gelegentlich die Möglichkeit gibt, den Fokus von meiner Hautfarbe zu lenken – so kann ich mehr als „nur“ ein Schwarzer sein. Und dann erklärt mir ein Kollege, dass exakt diese Gegebenheit, die mir eigentlich als Bewältigungsstrategie dient, im Berufsleben von Nachteil sein könnte.
Meine Hautfarbe weckt bestimmte Assoziationen
Ja, ich habe meine Sprache und meine sexuelle Orientierung immer als Zeichen eines höheren Bildungsniveaus, eines Nicht-Migrantenstatus und einer liberalen Einstellung gesehen. Allerdings ändert das eben nichts an der Tatsache, dass das Erste, was Deutsche an mir bemerken, meine Hautfarbe ist – eine Hautfarbe, die bei vielen Menschen bestimmte Assoziationen weckt, ob bewusst oder unbewusst.
Ein großer Teil dieser Assoziationen basieren, den Aussagen des britischen Schriftstellers Johny Pitts folgend, auf dem transatlantischen Sklavenhandel. In seinem Buch „Afropean – Notes from Black Europe“ schreibt Johny Pitts, dass dieses Verständnis mit „den Hierarchien in der westlichen Zivilisation und in der ganzen Welt“ sowie mit den Erfahrungen des Kolonialismus in den letzten 500 Jahren in Verbindung steht. Das heißt konkret, dass Schwarze immer noch oft dehumanisiert werden.
Der Antidiskriminierungsforscher Daniel Gyamerah sagt, dass Deutschland sich bis heute noch nicht mit seiner Kolonialgeschichte auseinandergesetzt habe. Deswegen fordert er mehr Forschung über anti-schwarze Diskriminierung in Deutschland.
Ein Afrozensus kann helfen, Diskriminierung sichtbar zu machen
Kürzlich rief er deswegen den sogenannten Afrozensus ins Leben: „Wir werden so viele schwarze Menschen wie möglich zu ihrer Lebenssituation befragen. Wir erheben ihre Diskriminierungserfahrungen, ihre Erwartungen an die Politik und ermitteln, welchen Organisationen, von der Polizei bis hin zu Parteien, sie am meisten vertrauen“, sagt Daniel Gyamerah.
Eines der Ziele des Afrozensus ist es, ein umfassendes Bild vom Leben der Schwarzen in Deutschland zu bekommen, um so zu verstehen, welchen Beitrag sie für die Gesellschaft leisten und um herauszufinden, mit welchen neuen Regeln und Initiativen Politiker Diskriminierung in Deutschland verringern könnten. Der Afrozensus wird von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gefördert. Gyamerah hofft, dass dieser nicht nur einmalig, sondern immer wieder durchgeführt wird, um Veränderungen nachvollziehen zu können.
Aikins zeigt einen folgenreichen Widerspruch auf: Deutschland benennt zwar gegenüber der UN Gruppen die in Deutschland von Rassismus betroffen sind, dazu zählen Sinti und Roma, Juden und Jüdinnen, Menschen die als Muslime diskriminiert werden und schwarze Menschen. Dennoch werden diese Diskriminierungserfahrungen nicht differenziert erfasst. Die Folge: Ein viel zu geringes Bewusstsein für die Folgen von institutionellem Rassismus in der Gesellschaft. Da das aber bisher nicht geschehen ist, müsse nun der Afrozensus als Projekt der Zivilgesellschaft diese Lücke füllen.
Ethnische Zugehörigkeit wird im Alltag zwar erkannt, aber eben offiziell nicht erfasst. Inwiefern ziehen Hautfarbe und ethnische Zugehörigkeit wirtschaftliche und gesundheitliche Folgen nach sich? Tragen sie ebenso wie das Geschlecht dazu bei, die tatsächlichen Chancen einer Person zu bestimmen? In den USA versucht man seit Jahren, sich dieser Frage zu nähern, vor dem Hintergrund der Sklaverei und in Bezug auf die Bürgerrechtsbewegung, die einen großen Teil der US-Nachkriegsgeschichte geprägt hat.
Und doch ist klar, dass ethnische Zugehörigkeit nicht nur eine Rolle beim Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen spielt, sondern auch negative Folgen im Gesundheitsbereich mit sich bringen kann, wie derzeit im Falle der Covid-19-Pandemie sichtbar. Schwarze US-Amerikaner sind überproportional stark von der Corona-Pandemie betroffen. Sie verlieren eher ihre Jobs, sie sterben eher an Covid-19. In Großbritannien ist das Bild ähnlich.
Auch wenn in Deutschland bislang keine offiziellen Kategorien für ethnische Zugehörigkeit benannt werden, hat sie trotzdem Folgen im Alltag. Es ist kaum vorstellbar, dass Deutschland hier eine weltweite Ausnahme bildet. Der Afrozensus ist also längst überfällig.
Die Vorstellungen der Gesellschaft darüber, was es bedeutet, schwarz (oder afrikanischer Abstammung) zu sein, sind immer noch weitgehend vom Kolonialismus geprägt. Es war naiv von mir zu glauben, dass ich Fragen und Gedanken über meine Abstammung durch den Umzug nach Europa aus dem Weg gehen könnte. Das muss ich heute zugeben.
Wohin ich hier auch gehe, meine Hautfarbe erregt Aufmerksamkeit und Neugier. Deswegen aber war es bemerkenswert, was Bundeskanzlerin Angela Merkel im März 2020 auf dem Integrationsgipfel sagte. Sie griff meine Erfahrung auf: Schwarze Deutsche, auch wenn sie schon über Generationen hier leben, würden immer wieder zu ihrer Herkunft befragt werden.
In Reaktion auf Merkels Worte formulierte die Erziehungswissenschaftlerin und Geschlechterforscherin Maisha-Maureen Auma: „Die Art, wie wir die Welt sehen müssen, weil wir in einem schwarzen Körper diese Welt navigieren, hat angefangen, Gewicht zu bekommen. Das war eine große Erleichterung: Überhaupt Menschen zu benennen, die stärker eine Zielscheibe von Abwertungen, Geringschätzungen und von Missachtung und Hass sind.“
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel