„Die westliche Ignoranz hat unnötige Opfer gefordert“

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Flucht und Grenzen

Interview: „Die westliche Ignoranz hat unnötige Opfer gefordert“

In Südkorea haben Regierung und Forscher:innen die Corona-Pandemie durch Kontaktverfolgungen und Maskentragen schnell eingedämmt. Von dieser Strategie hätten europäische Länder früh lernen können – haben sie aber nicht. Warum nicht? Das habe ich den Kulturwissenschaftler Jean Yhee gefragt.

Profilbild von Interview von Belinda Grasnick

Südkorea gilt inzwischen als Vorzeigeland in der Corona-Krise. Es hat schnell und klug reagiert, als die ersten Verdachtsfälle auftauchten und bis heute die Kurve flach gehalten. Warum hat Europa nicht rechtzeitig nach Ostasien geschaut und von den Erfolgen dort gelernt? Das hat sich auch der Korea-Experte Jean Yhee gefragt und unsere Redaktion kontaktiert, weil er ein Anliegen hat: Europa war zu schlecht auf die Corona-Pandemie vorbereitet. Es hätte sich in Südkorea abschauen können, wie man effektiv auf das Virus reagiert.


Herr Yhee, Südkorea hat die Corona-Pandemie im Griff, Europa nicht. Was hätte hierzulande anders laufen sollen?

Schon im Januar gab es in Deutschland Medienberichte über das Virus. Aber man hat es nicht als globales, sondern als chinesisches Problem gesehen. Ganz Asien wurde nur als Quelle des Virus wahrgenommen. Die Maßnahmen, die dort getroffen wurden, hatten für Europa und die USA keine Relevanz. Südkorea hat sich sehr früh auf die Pandemie vorbereitet, schon bevor es den ersten Fall im Land gab. Ende Januar wurden die ersten Tests entwickelt. Die Korea Centers for Disease Control and Prevention, quasi das koreanische Robert Koch-Institut, haben alle Informationen über ihre Strategie auf Englisch zur Verfügung gestellt, sogar zweimal am Tag etwas dazu veröffentlicht. Andere Länder hätten von Südkorea lernen können. Aber sie haben die Chance nicht genutzt. Und diese Ignoranz hat unnötige Opfer gefordert.

War Südkorea nicht einfach deshalb besser vorbereitet, weil China so nah ist?

Der Verkehr zwischen China und Europa ist kaum anders als der zwischen China und Südkorea. Klar, der eine Flug dauert zwölf Stunden und der andere nur zwei. Aber alle Länder, die Wirtschaftsbeziehungen mit China haben, waren ansteckungsgefährdet. Es war von Anfang an eine globale Herausforderung. In den vergangenen Jahren gab es einige solche Seuchenausbrüche – zum Beispiel die Schweinegrippe, die sich 2009 von den Vereinigten Staaten aus verbreitete, oder das MERS-Virus, das 2012 zuerst in Saudi-Arabien auftauchte. Danach gab es in vielen Ländern Pandemiepläne, in Südkorea genauso wie in Deutschland und den USA. Aber anscheinend hat nur Südkorea wirklich das getan, was geplant war. Die Regierung hat Maßnahmen umgesetzt, bevor die Situation kritisch war.

Die südkoreanische Erfolgsstrategie basiert vor allem auf zwei Dingen: Masken und Corona-Apps. Zu Beginn der Pandemie war der Tenor in Deutschland ja eher, dass wir eben „anders ticken“ als Menschen in Ostasien. Kann man kollektive Maßnahmen wie die App oder den verpflichtenden Mundschutz in einem Land wie Deutschland schwerer durchsetzen als in Südkorea?

Diese ganze Darstellung ist ein fremdbestimmtes Bild. Schon seit der Aufklärung gibt es diese Vorstellung von der kollektiven ostasiatischen Kultur – dabei haben Asiat:innen nichts dazu beigetragen. Zumindest für Südkorea ist es ein völlig falsches Bild. Man kann das Land nicht mit China oder Japan gleichsetzen, es gibt keinen Überwachungsstaat und auch keine statische politische Landschaft. Aber es gibt einen solidarischen Gedanken in der Bevölkerung: Jede:r trägt Verantwortung und alles, was ich mache, kann Einfluss haben. Und dadurch nehmen viele Südkoreaner:innen auch gewisse Dinge in Kauf, die sie vielleicht vorher nicht für möglich hielten. Damit am Ende wieder demokratische Normalität einkehren kann.

Gehen wir noch einmal die südkoreanische Strategie durch: Von Anfang an wurden viel mehr Menschen auf das Coronavirus getestet als in anderen Ländern, vor allem innerhalb der christlichen Shincheonji-Sekte.

Das ist richtig, aber ehrlich gesagt: Man wusste anfangs gar nicht, dass die Sekte den Kern der Verbreitung gebildet hatte. Es wurden einfach nur alle getestet, die mit positiven Fällen in Kontakt gekommen waren – auch wenn sie keine Symptome hatten.

Woher wusste man denn, wer mit ihnen in Kontakt war?

Weil die Infizierten es mitgeteilt haben. Ganz wichtig war, dass auch Bürger:innen freiwillig zu vielen Teststellen gegangen sind, die durch eine anonymisierte Corona-Karte erfahren haben, dass sie sich in einem Fitnesszentrum aufgehalten haben, in dem mehrere Infizierten waren. Sie wurden auch ohne Symptome gleich getestet.

Ergänzend wurden auch anonymisierte Standortdaten verwendet. Die sammelt jedes Smartphone ja ohnehin. Und sie wurden dann genutzt, um solche Verbreitungsketten ausfindig zu machen, die sich auf herkömmliche Art und Weise nicht rekonstruieren ließen.

Bei einer 61-jährigen Frau, die die 31. positiv getestete Patientin in Südkorea war und der Shincheonji-Sekte angehörte, wusste man mittels Standortdaten ihres Handys, dass sie sich nicht an die von den Behörden verordnete Quarantäne gehalten hatte. Sie war in die Kirche gegangen und hatte einen Schnellimbiss besucht. So konnte man auch ermitteln, wer mit ihr nach ihrer Infektion in Kontakt gekommen war. Finden Sie das nicht datenschutzrechtlich bedenklich?

Die Daten über die Patientin sind ja nicht unkontrolliert in Regierungshand. Wir haben seit 1992 ein Transparenzgesetz, das dem deutschen Informationsfreiheitsgesetz ähnelt. Bürger:innen können Informationen und Daten bei Behörden anfragen. Es gibt auch ein privates Datenschutzgesetz – eine weitere wichtige Säule, um demokratische Werte zu wahren. Außerdem wurde das Epidemieschutzgesetz 2015 nach der MERS-Krise teilweise geändert, um transparent und effizient handeln zu können. Die privaten Daten der Patient:innen, die bei einer von der Weltgesundheitsorganisation WHO als Epidemie eingestuften Erkrankung erhoben werden, müssen unverzüglich von der Behörde gelöscht werden, sobald die entsprechende Maßnahme umgesetzt wurde. Die betroffene Person muss außerdem sofort informiert werden, dass ihre Daten ermittelt werden und welche Behörde diese Daten zu welchem Zweck wie lange behalten wird.

Nach dem Fall der 31. Patientin stellte das südkoreanische Innenministerium eine App vor, die jede:r nutzen kann, der positiv auf das Coronavirus getestet wurde. Darin gibt man seinen Namen an und kann eintragen, wie sich die Symptome entwickeln. Außerdem werden die GPS-Daten überprüft. Wer das Haus trotz verordneter Quarantäne verlässt, wird vom Gesundheitsamt angerufen. Wer die App nicht nutzen will, telefoniert zweimal täglich mit den Beamt:innen, die überprüfen, ob die Quarantäne eingehalten wird. Warum klappt das so gut in Südkorea?

Weil man in den meisten Fällen selbst entscheiden kann, ob man diese App verwenden möchte. Weniger als die Hälfte der Personen in selbstgewählter Quarantäne hat sich dafür entschieden, die App zu nutzen.

Außerdem: Es gibt eigentlich gar nicht nur eine App, die das Innenministerum herausgibt, sondern viele verschiedene. Das ist auch ein Missverständnis. Die drei beliebtesten Corona-Apps in Südkorea haben Privatleute entwickelt. Und auch ganz ohne App kann man auf einer Karte sehen, wo gerade positiv getestete Fälle aufgetaucht sind. Dadurch können die nicht Infizierten einer Ansteckung aus dem Weg gehen. Und das ist der Grund, warum die Menschen in Südkorea nicht so starke Kontaktbeschränkungen brauchen. Im Gegensatz zu vielen europäischen Ländern, auch Deutschland.

Die Verwendung einer App wird hierzulande sehr kritisch gesehen.

Ja, das stimmt. Aber das klingt so, als würden die Maßnahmen in Südkorea nicht kritisch gesehen. Das werden sie aber. Es gab bereits eine gesellschaftliche Debatte über die Maßnahmen – seit 2015. Dabei ging es vor allem darum, dass die damalige Regierung nicht transparent genug mit ihren Plänen für die MERS-Epidemie umging. Die Südkoreaner:innen wollten keine Regierung, die in der Krise patriarchalisch für sie entscheidet. Sie wollten eine aktive Teilnahme. Die Corona-Apps sind eher ein Ergebnis dieser Debatte vor fünf Jahren. Anwender:innen nutzen Apps auch dafür, das verantwortliche Personal im öffentlichen Dienst zu finden und direkt zu kontaktieren.

In der Coronakrise wurde die aktuelle Regierung eher aus einem anderen Grund scharf kritisiert, vor allem aus dem konservativen Lager. Sie wollten einen kompletten Einreisestopp aus ganz China – aus Wuhan gab es ohnehin einen. Die Regierung ist aber dabei geblieben, die Grenzen offen zu lassen. Das war politisch riskant – aber statistisch gesehen auch nicht völlig abwegig, denn die Mehrheit der neu Infizierten hatte sich innerhalb des Landes angesteckt.


Presidential Committee for Hub City of Asian Culture

Jean Yhee arbeitet als politischer Berater und war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Koreastudien der Freien Universität in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kultur, Ästhetik und politisches Denken in Ostasien und Europa.


Vertrauen Südkoreaner:innen ihrer derzeitigen Regierung mehr als Deutsche?

Zumindest hat die südkoreanische Bevölkerung bei der Parlamentswahl vor zwei Wochen der sozialliberalen Regierung ihr Vertrauen geschenkt. Das ist ein sehr überraschendes Ergebnis, denn das liberale Lager hat in Südkorea traditionell eher eine schlechte Ausgangslage. Die Regierung stand jetzt vor der Wahl in der Coronakrise unter enormem Druck. Ihre Motivation bei der Corona-Strategie war letztlich aber nicht, die Wahl zu gewinnen – sondern die Menschen zu schützen. Und das hat die Südkoreaner:innen am Ende überzeugt, obwohl manche von ihnen anfangs kritisch waren. In den USA sieht man momentan eher das Gegenteil: Dort wird Wahlkampf betrieben, aber die Bevölkerung nicht ausreichend geschützt.

Es gibt in Südkorea einen demokratischen Konsens. Die Bürger:innen haben Vertrauen in die Demokratie und wollen gewissenhaft handeln, um sich nicht gegenseitig anzustecken. Am Ende haben ja alle dasselbe Ziel: effiziente Maßnahmen gegen Corona zu finden – bei minimaler Einschränkung der Grundrechte.

In Deutschland macht die Bevölkerung im Moment aber auch das mit, was die Regierung ihr sagt. Nicht aus Konformität, sondern aus Respekt gegenüber den anderen. Die Kontaktbeschränkungen haben die Deutschen größtenteils als Teil einer solidarischen Gesellschaft hingenommen.

Inzwischen gibt es in Deutschland eine Maskenpflicht in Geschäften und im öffentlichen Nahverkehr. Auch eine Corona-App soll nun eingeführt werden. Warum hat es so lange gedauert, bis diese Maßnahmen hier ankommen, obwohl sie in Südkorea geholfen haben, das Virus einzudämmen?

Es gibt in Europa zur Zeit großes Interesse an Ostasien. Allein über Korea wird häufig berichtet, über die Teilung, K-Pop oder den Film „Parasite“. Und mittlerweile auch über das südkoreanische Erfolgsmodell im Kampf gegen die Corona-Pandemie.

Das Problem liegt darin, dass zu wenig qualifizierte Informationen geliefert werden. Stattdessen wird die alte Erklärung bemüht, die sich auf den Konfuzianismus in Ostasien beruft. Es scheint mir, als ob eine orientalistische Sichtweise den sonst hervorragenden Journalismus, die Wissenschaft und die Politik in Deutschland verblendet.

Damit meinen Sie den europäischen Blick auf östlich liegende Länder, der sich meist in einem Überlegenheitsgefühl ausdrückt?

Genau. Dieser Blick schafft weitere Probleme.

Welche denn?

Egal, wie häufig über das Erfolgsmodell Südkorea gesprochen wurde – am Ende werden wir auf die klischeehaften konformen Asiat:innen reduziert. Das erlebe ich auch in Deutschland. Ich werde auf offener Straße angefeindet, weil Leute mich für einen Chinesen halten und mich mit dem Virus gleichsetzen. Das ist Rassismus. Ich glaube, die nächste Gefahr droht uns bereits: Dass aus diesen Anfeindungen Gewalttaten werden. In den letzten Jahren ist das häufig geschehen, zuletzt in Hanau. Jetzt gibt es einige rassistische Angriffe gegen Deutsch-Asiat:innen, zum Beispiel am Wochenende gegen ein südkoreanisches Ehepaar in Berlin.

Vieles an der südkoreanischen Corona-Strategie hat damit zu tun, solidarisch zu sein. Ich finde wichtig, dass wir solidarisch mit allen Menschen sein müssen, die in Deutschland leben. Auch mit den asiatisch-deutschen.


Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Martin Gommel.