Das Coronavirus erreicht die griechischen Flüchtlingslager und die EU tut: nichts

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Flucht und Grenzen

Das Coronavirus erreicht die griechischen Flüchtlingslager und die EU tut: nichts

Rund 42.000 Menschen auf viel zu engem Raum können sich nicht einmal regelmäßig die Hände waschen. Sie werden jetzt noch mehr allein gelassen als vor der Pandemie.

Profilbild von Belinda Grasnick
Reporterin

Dies ist die vierte Version dieses Textes. Seit drei Wochen versuche ich, etwas über die Situation der Geflüchteten auf den griechischen Inseln zu schreiben. Es sollte ein Bericht werden, der erklärt, was die Hilfsorganisationen fordern und wie die europäischen Regierungen vorgehen. Aber es ist mir nicht gelungen. Am Ende war der Text zwar 10.000 Zeichen lang und enthielt jede Menge Zitate. Man hätte ihn aber auch in wenigen Sätzen zusammenfassen können:

Die Lage in den griechischen Aufnahmelagern ist unmenschlich. 42.500 Menschen halten sich auf den Inseln in Lagern auf, die für 6.000 Menschen gedacht waren, und es gibt nicht einmal genügend Wasser, um sich regelmäßig die Hände zu waschen. Dennoch tut keine Regierung etwas, um ihnen zu helfen. Eine Lösung gibt es deswegen im Moment nicht.

Wegen dieses letzten Satzes musste ich diesen Text so oft überarbeiten. Denn, wenn ich keine Lösung sehe, was bringt so ein Bericht dann? Wer interessiert sich überhaupt für die Geflüchteten in einer Zeit, in der jede:r sich – verständlicherweise – zuerst einmal um die eigene Familie sorgt?

Je länger ich an dem Bericht gearbeitet hatte, desto fadenscheiniger erschienen mir aber die Antworten der Behörden. Ein Unterschied ist auffällig: Innerhalb der Landesgrenzen wird die Bundesregierung aktiv, es gibt ein solidarisches Miteinander in Deutschland. Das Wichtigste ist nun, zuhause zu bleiben, um seine Mitmenschen zu schützen. Auch innerhalb der EU helfen die Menschen einander – Deutschland hat Italien hunderttausende Atemschutzmasken geschickt. Das finde ich alles gut und richtig. Aber wieso gilt diese Solidarität nicht für die Geflüchteten in Griechenland?

Hilfsorganisationen fordern schon seit Wochen eine Evakuierung

Bereits Mitte März haben Hilfsorganisationen gefordert, die griechischen Lager zu evakuieren, weil ein Ausbruch der Krankheit Covid-19 dort fatal wäre. Die hygienischen Voraussetzungen vor Ort sind nicht ausreichend, damit sich die Menschen vor einer Ansteckung schützen können. Inzwischen ist bei zwei Geflüchteten in Lagern auf dem griechischen Festland Covid-19 diagnostiziert worden, mehrere weitere wurden positiv getestet. Nach wie vor fehlen in den Lagern selbst aber Orte, an denen Infizierte in Quarantäne gebracht werden könnten, um die anderen zu schützen.

Warum tut die EU nichts? Liegt es nicht auf der Hand, dass den Geflüchteten und letztlich allen in Europa besser damit gedient wäre, wenn die Lager aufgelöst und die Menschen auf einzelne EU-Mitgliedstaaten verteilt werden würden, wo sie besser in Quarantäne gebracht und behandelt werden könnten? Immerhin könnte sich das Virus so nicht unkontrolliert in einem Teil der EU ausbreiten.

Als ich meine Recherche angefangen habe, wollte ich mich insbesondere auf die unbegleiteten Minderjährigen konzentrieren. Schließlich hatten acht EU-Länder, darunter Deutschland, zugesagt, insgesamt 1.600 Kinder und Jugendliche aufzunehmen. Trotz der Bereitschaft dieser Länder ist aber tagelang, sogar wochenlang nichts passiert.

Klar, zwischendurch hatten viele Länder die Grenzen innerhalb der EU abgeriegelt. Aber es sollte dennoch möglich sein, einige hundert Menschen einreisen zu lassen und erst einmal geschützt unterzubringen. Sogar Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte in der Zwischenzeit bekräftigt, dass er die Minderjährigen weiterhin aufnehmen will, auch wenn die Grenzen geschlossen sind. Am Dienstag hat das Bundesinnenministerium erklärt, 50 unbegleitete Minderjährige aus Griechenland zu holen. Luxemburg nimmt 12 weitere auf.

Gemessen an dem, was versprochen wurde, ist das sehr wenig. Noch mehr Menschen aus den Lagern zu holen wäre ein zutiefst solidarischer Vorgang: Wir unterstützen die Geflüchteten, weil gerade weltweit eine absolute Ausnahmesituation ihren Lauf nimmt. Auch Menschen aus den EU-Ländern sind dafür. In Deutschland haben erst am Wochenende in vielen Städten Menschen trotz der Kontaktbeschränkungen für die Aufnahme der Geflüchteten demonstriert.

Die Behörden weisen die Verantwortung von sich

Die Regierungen tun allerdings wenig. Die EU-Kommission sollte die Aufnahme in den einzelnen Mitgliedstaaten koordinieren, ist aber derzeit damit beschäftigt, Griechenland bei der Versorgung der Geflüchteten zu unterstützen. Temperatur-Checks, neue Hygienevorschriften und Besuchsstopps sollen das Risiko einer Corona-Epidemie in den Lagern vorerst senken. Außerdem kümmere man sich darum, die Geflüchteten auf das griechische Festland zu bringen, sagt eine Sprecherin der EU-Kommission. Zuständig dafür sei die griechische Regierung. Allerdings galt bei alledem die Zeitangabe: innerhalb der nächsten Wochen. Die Aussage der Sprecherin ist inzwischen selbst zwei Wochen alt.

Gibt es vielleicht gar kein großes Interesse daran, die Geflüchteten aus den Lagern zu holen – trotz des hohen Ansteckungsrisikos? Bei jeder Anfrage wurde ich zu einer anderen Behörde geschickt. Das Bundesinnenministerium verweist auf die EU-Kommission, die Internationale Organisation für Migration und das UN-Flüchtlingswerk UNHCR. Die EU-Kommission wartet darauf, dass Griechenland handelt. Der UNHCR-Sprecher wiederum sagt, dass die griechische und die deutsche Regierung zuständig seien.

Jetzt, wo es die ersten bestätigten Fälle in Geflüchtetenlagern in Griechenland gibt, ist es noch wahrscheinlicher, dass sich auch auf den Inseln Menschen anstecken. Die beiden betroffenen Lager auf dem Festland wurden komplett unter Quarantäne gestellt. Dieser Logik folgend könnten die Inseln zu großen Quarantäne-Stationen werden, sobald dort bestätigte Fälle auftauchen: Niemand darf mehr von der Insel weg, höchstens Ärzt:innen noch dorthin.

Genau das ist doch der Knackpunkt: Während die Menschen in Deutschland zuhause bleiben, um möglichst niemanden anzustecken, bleibt es weiterhin möglich, dass sich das Virus in den griechischen Lagern rasant verbreitet. Die Solidarität, die für deutsche Risikopatient:innen aufgebracht wird, fehlt im Umgang mit den Geflüchteten.

Sicherheit vor der Ausbreitung des Virus brauchen alle Menschen

Nicht erst wenn das Virus sich auf einer Insel ausbreitet, müssen die EU-Länder Griechenland dabei helfen, sichere Voraussetzungen für alle Menschen zu schaffen, die sich dort aufhalten. Das bedeutet: eine gute, feste Behausung und ausreichend Wasser, Toiletten, Duschen und Desinfektionsmittel für alle. Ärzt:innen müssen Corona-Tests durchführen können und genügend Platz haben, um Infizierte in Quarantäne bringen zu können.

Ein anderer Weg wäre nach wie vor, die Lager zu evakuieren. Die Geflüchteten (und zwar alle, nicht nur die Minderjährigen) müssten dann schnellstmöglich innerhalb der EU verteilt werden. Dort könnten sie anfangs in Quarantäne gebracht, von Ärzt:innen untersucht und gegebenenfalls behandelt werden.

Ein Grundsatz der Ersten Hilfe besagt, dass man anderen Menschen nur dann helfen kann und soll, wenn man selbst in Sicherheit ist. Das kennen wir alle aus dem Flugzeug: Die Atemmaske soll man zuerst bei sich anlegen und dann seine Mitmenschen unterstützen. Dieser Maßstab gilt in gewisser Weise auch in Zeiten der Corona-Pandemie. Die Kontaktbeschränkungen in Deutschland und die Ausgangssperren in anderen EU-Ländern sind das, was wir zu unserer eigenen Sicherheit im Moment tun können. Ist das ausreichend, um sich nun unseren Mitmenschen zuzuwenden?

Oder anders gefragt: Wann haben wir uns denn selbst genug geschützt, ehe wir solidarisch sind? Das ist keine einfache Frage, zugegeben. Auch in einer fünften oder sechsten Version dieses Textes hätte ich sie nicht abschließend beantworten können. Aber sie muss beantwortet werden – von den Regierungen.


Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel