Die türkische Grenzöffnung für Flüchtlinge, verständlich erklärt

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Flucht und Grenzen

Die türkische Grenzöffnung für Flüchtlinge, verständlich erklärt

Die Türkei hat das Flüchtlingsabkommen mit der EU Ende Februar einseitig aufgekündigt. Daraufhin versuchten tausende Flüchtlinge, vor allem aus Syrien, über die Ägäis oder den Grenzfluss Evros in die EU zu kommen. Ein Überblick über die wichtigsten Fakten.

Profilbild von Belinda Grasnick
Reporterin

Was genau ist an der türkisch-griechischen Grenze passiert?

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat am 29. Februar 2020 angekündigt, die türkische Grenze zu Griechenland zu öffnen – eine Maßnahme, die er im Zuge der Coronakrise Mitte März wieder zurücknahm. Einige tausend Menschen haben nach Erdoğans Ankündigung versucht, die türkisch-griechische Grenze zu übertreten. Und auch Mitte April hat die türkische Regierung offenbar noch einmal Geflüchtete an die griechische Grenze gebracht.

Die Geflüchteten sind allerdings zum größten Teil auf türkischer Seite gestrandet. Etwa 400 sind im März auf Booten über das Mittelmeer nach Lesbos gekommen. Sie mussten an Bord eines griechischen Marineschiffs bleiben und sollten dann möglichst schnell in ihre Herkunftsländer ausgewiesen werden, sagte ein Offizier der Küstenwache.

Der türkische Präsident selbst sprach von Hunderttausenden, bald Millionen, die die Grenze übertreten wollten. Die Zahlen waren aber wohl übertrieben. Erdoğan wollte mit solchen Ankündigungen womöglich den Druck auf die EU erhöhen. Es kursierten einige Berichte, dass die Türkei Busse zur Verfügung gestellt hat, um Menschen an die Grenze zu bringen.

Die EU hat die Menschen daran gehindert, ihre Außengrenze zu übertreten. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex hat eine schnelle Einsatztruppe mit 1.500 Beamt:innen und Ausrüstung an die griechische Grenze geschickt und die griechische Küstenwache hat Boote zum Teil gewaltvoll davon abgehalten, in Griechenland anzulegen. An Land wurden offenbar Wasserwerfer und Tränengas eingesetzt. Es hat sogar Schüsse gegen Geflüchtete gegeben.

Schüsse als EU-Grenzschutzmaßnahme? Das klingt ja fast so, als hätte es sich die AfD gewünscht.

Ja, das stimmt. Einem Bericht des Spiegels zufolge ist der Pakistaner Muhammad Gulzar dabei getötet worden. Mehrere weitere Menschen wurden verletzt. Die griechische Regierung sagt, es habe sich nur um Warnschüsse gehandelt, die die Menschen vom Grenzübertritt abhalten sollten. Der Tod von Gulzar soll ein Unfall gewesen sein. Aber dennoch: Die Schüsse sind eine neue Eskalationstufe dessen, was die EU als „Grenzschutz“ bezeichnet.

Das ist schrecklich. Was kann ich persönlich tun, damit die EU endlich eine Lösung für die Aufnahme von Flüchtlingen findet?

Leider eher wenig. Eine Einigung auf EU-Ebene können Bürger:innen einzelner Mitgliedsländer nicht erzwingen. Aber du kannst deutlich machen, dass du mit der aktuellen Regelung nicht zufrieden bist: Indem du die Seebrücke unterstützt, eine an den Europäischen Rat gerichtete Petition unterzeichnest oder dich per E-Mail an Entscheidungsträger:innen wendest, damit sie sich für eine Lösung einsetzen.

Es muss aber auch klar sein: Nicht alle in der EU sind dafür, den Geflüchteten in Griechenland zu helfen. In vielen Ländern stimmen konservative Parteien dagegen. Auch der deutsche Bundestag hat die Aufnahme von 5.000 besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen anfangs abgelehnt. Einige Tage später hat sich die Große Koalition nun darauf geeinigt, etwa 1.000 bis 1.500 besonders schutzbedürftige Kinder und Jugendliche aus den überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln aufzunehmen.

Wiederholen sich irgendwann wieder die Ereignisse aus dem Jahr 2015, als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kamen?

Nein. Die Ausgangslage ist heute eine völlig andere als im Spätsommer 2015. Vor fünf Jahren sind mehr als 760.000 Menschen über die Westbalkanroute von Griechenland in andere EU-Mitgliedstaaten gewandert, die meisten von ihnen Syrer:innen. Mehrere Tausend von ihnen waren Ende August 2015 am Budapester Keleti-Bahnhof gestrandet. In Ungarn angekommen, befanden sie sich längst innerhalb der Grenzen der EU und hatten damit ein Recht darauf, in einem EU-Mitgliedstaat einen Asylantrag zu stellen.

Die Jahreszahl 2015 ist zum Symbol dafür geworden, dass Deutschland in jenem Jahr eine Million Geflüchtete aufgenommen hat. Die Behörden in vielen Städten und Kommunen waren damals mit der schieren Zahl der Ankommenden überfordert, wie die Bilder der langen Warteschlangen vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales besonders eindrücklich zeigten.

Viele haben die türkische Grenzöffnung im Februar mit 2015 verglichen. Dabei ist so vieles anders:

Die EU-Außengrenze ist weitestgehend abgeriegelt. Es kommen also viel weniger Menschen überhaupt in die EU. EU-Grenzschutzbeamt:innen hindern sie daran, zum Beispiel aus der Türkei nach Griechenland zu gelangen – notfalls auch mit Gewalt, wie die Geschehnisse Anfang März gezeigt haben. Auf den griechischen Inseln befinden sich einige zehntausend Geflüchtete, im größten Flüchtlingscamp Moria auf der Insel Lesbos sind etwa 20.000 Menschen. Zum Vergleich: 2015 sind zum Teil an einem einzelnen Tag 10.000 Flüchtende auf den Inseln angekommen.

Auch die Aufnahme in der EU hat sich verändert. Die Behörden können die Asylsuchenden, die in Griechenland und anderen EU-Außenstaaten ankommen, inzwischen viel einfacher registrieren und anmelden. Und selbst wenn wieder mehr Asylanträge in Deutschland gestellt werden sollten als zuletzt (was bisher nicht wahrscheinlich ist): Die Städte und Kommunen sind inzwischen viel besser darauf vorbereitet. Das sagt auch Berlins regierender Bürgermeister Michael Müller.

Asylsuchende stehen im August 2015 am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales Schlange

Asylsuchende stehen im August 2015 am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales Schlange Sean Gallup/Getty Images

Seit wegen der Covid19-Pandemie auch die innereuropäischen Grenzen geschlossen sind, nehmen Deutschland und die EU ohnehin faktisch keine Geflüchteten mehr auf – nicht einmal besonders schutzbedürftige.

Warum hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Grenzen zur EU?

Die türkische Regierung fühlt sich ungerecht behandelt. Das Kernstück des EU-Türkei-Abkommens von 2016 war die finanzielle Unterstützung der Türkei, um die humanitäre Hilfe im Land voranzubringen. Sechs Milliarden Euro hat die EU für vier Jahre eingeplant, zum Beispiel für Krankenhäuser, Schulen und Infrastruktur (welche Projekte die EU genau fördert, kannst du in diesem Papier (PDF) nachlesen). Die finanziellen Hilfen seien aber Ende 2019 ausgelaufen, sagt der österreichische Migrationsforscher Gerald Knaus im ORF. Er hat das EU-Türkei-Abkommen 2016 mitentwickelt. Die EU habe sich bisher geweigert, über eine Weiterführung der Unterstützung zu sprechen, sagt Knaus.

Hinzu kommt, dass die finanziellen Hilfen zwar in voller Höhe für Projekte geplant sind, bisher aber nur 3,2 Milliarden tatsächlich ausgezahlt wurden. Das Geld fließt erst dann, wenn ein Projekt fertiggestellt ist.

In der Türkei sind etwa vier Millionen Geflüchtete, davon knapp 3,6 Millionen Syrer:innen. Viele fliehen vor Gefechten in der nordsyrischen Provinz Idlib. Der Druck auf die türkische Regierung ist groß, zumal das Land seit 2018 eine schwere Wirtschaftskrise erlebt.

Aber in dem Abkommen zwischen Türkei und EU ging es doch noch um mehr?

Ja, die Türkei hat sich 2016 verpflichtet, ihre Grenzen zur EU abzuriegeln und alle Flüchtenden wieder aufzunehmen, die nach dem 20. März 2016 aus der Türkei nach Griechenland gekommen sind. Die EU hat im Gegenzug zugesagt, besonders schutzbedürftige Flüchtlinge aus der Türkei in ihre Länder zu bringen.

Außerdem sollte der Prozess für eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU wieder aufgenommen werden. Allerdings geht es bei den Beitrittsverhandlungen bisher nicht voran.

Wie ist die Lage in Idlib?

Die nordsyrische Provinz ist die letzte, die nach wie vor nicht unter Kontrolle der Truppen des syrischen Machthabers Baschar al-Assad gebracht wurde. Die Türkei unterstützt syrische Rebellen, zu denen auch dschihadistische Gruppen gehören. Russland kämpft auf der Seite der syrischen Armee. Im Herbst 2018 hatten alle Kriegsparteien einen Waffenstillstand vereinbart. Assad will die Provinz allerdings weiter unter seine Kontrolle bringen – und startete im Dezember 2019 mit Russlands Unterstützung neue Angriffe. Also hat auch die Türkei wieder Kriegsgerät in die Region gebracht. Syrische und türkische Kräfte stehen sich schwer bewaffnet gegenüber. Knapp eine Million Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben.

Der Europäische Rat forderte Ende Februar alle Konfliktparteien auf, die Kampfhandlungen einzustellen. Die deutsche Bundesregierung hat am Mittwoch angekündigt, 100 Millionen Euro für humanitäre Soforthilfe in Idlib bereitzustellen.

Am 5. März haben sich Erdoğan und der russische Präsident Wladimir Putin auf eine Waffenruhe in Idlib geeinigt. Allerdings gibt es immer wieder Angriffe von russischen und syrischen Truppen, sogar auf Krankenhäuser und Schulen in Idlib.

Griechenland hat im März das Asylrecht für einen Monat ausgesetzt. Geht das einfach so?

Das Grundrecht auf Asyl ist genau das: ein Grundrecht. Weder die Genfer Flüchtlingskonvention noch die EU-Asylgesetzgebung sehen Fälle vor, in denen das Asylrecht temporär oder langfristig ausgesetzt werden kann. Jedes Land dürfe die eigenen Grenzen vor „irregulären Bewegungen“ schützen, schreibt das UN-Flüchtlingswerk UNHCR dazu. Allerdings solle dabei auf unverhältnismäßige Gewalt verzichtet werden.

Grundsätzlich kann man sagen: Es ist eine rechtliche Grauzone. Griechenland darf seine Grenzen zwar schließen, muss dabei aber auf Gewalteinsatz verzichten. Die Menschen, die trotz allem in Griechenland ankommen, müssen dort einen Asylantrag stellen können.

Vier deutsche Jurist:innen haben im April ein Gutachten dazu erstellt und darin die Aussetzung des Asylrechts für völkerrechtswirdig befunden.

Bekommt Griechenland Unterstützung von der EU?

Seit 2015 hat die EU Griechenland 2,2 Milliarden Euro für die Unterbringung und schnellere Asylverfahren gezahlt. Das Geld geht größtenteils nicht an die griechische Regierung, sondern wird von Flüchtlingsorganisationen verwaltet, die vor Ort tätig sind. Wegen der Grenzöffnung auf türkischer Seite stellte die EU Griechenland zusätzlich 700 Millionen Euro zur Verfügung – 350 Millionen Euro sofort und 350 Millionen später für „Migrationsmanagement“. An der Grenze hat Griechenland von Beamt:innen der EU-Grenzschutzagentur Frontex Unterstützung bekommen.

Trotzdem nehmen andere EU-Mitgliedstaaten nach wie vor keine Asylsuchenden aus den Lagern auf – auch schon vor den Grenzschließungen wegen der Pandemie. Das liegt am sogenannten Dublin-III-Verfahren, demzufolge Menschen in dem EU-Land einen Asylantrag stellen müssen, in dem sie zuerst angekommen sind. Länder an den EU-Außengrenzen wie Griechenland tragen damit eine hohe Last beim Asylverfahren.

Wieso gibt es denn immer noch keine EU-weite Lösung?

Das Dublin-Verfahren steht seit langer Zeit in der Kritik. Dennoch schaffen die EU-Staaten es nicht, sich auf eine andere Regelung zu einigen.

Das liegt vor allem daran, dass einige Mitgliedsländer einen Verteilungsschlüssel ablehnen. Ungarn und Polen wollen zum Beispiel gar keine Geflüchteten aufnehmen. Andere Länder kritisieren, dass alle Asylantragsteller:innen verteilt werden sollen – auch solche, die keine Aussicht auf Asyl haben. Das Prinzip, den Asylantrag direkt im ersten Land stellen zu müssen, hat nämlich auch zum Ziel, die Menschen möglichst frühzeitig abschieben zu können.

Weil die EU-Mitglieder sich nach wie vor nicht auf eine gemeinsame Lösung einigen können, hängt es weiterhin von der Initiative einzelner Länder und Kommunen ab, ob zum Beispiel aus Seenot Gerettete aufgenommen werden. Für die Aufnahme von Geflüchteten könnte sich jedes einzelne EU-Land natürlich jederzeit entscheiden – das sieht sogar das Dublin-Verfahren vor. Der Oberbürgermeister von Potsdam, Mike Schubert, erinnerte schon Ende Februar daran, dass 140 deutsche Städte als „sichere Häfen“ zur Verfügung stehen würden, um insbesondere Kinder aus griechischen Lagern aufzunehmen.


Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Verena Meyer

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