Eltern, die Kinder im Kita-Alter haben, kennen und fürchten die Zettel, die zu dieser Jahreszeit regelmäßig die Eingangstüren schmücken: „Wegen mehrerer Krankheitsfälle im Team bitten wir euch, eure Kinder wenn möglich noch vor dem Mittagessen zu holen oder zu Hause zu betreuen.“ Und wo sich Eltern treffen, geht es schnell nur noch um ein Thema: die Kitakrise.
Bei mir war es Weihnachten wieder so weit: In unserer Kita hatte gerade eine Erzieherin gekündigt, schon die zweite in diesem Jahr – und das, obwohl es bald mit der Eingewöhnung unseres zweiten Kindes losgehen soll. Da mischt sich auch in die Freude, dass eine dritte Erzieherin im Team schwanger geworden ist, ein wenig Sorge um die eigenen Kinder. Meine Freundin aus Stuttgart lacht. „Das ist ja gar nix. Bei uns in der Kita haben die Erzieher monatlich gewechselt. Und dafür zahlen wir dann 900 Euro.“ Ich bin ein wenig schuldbewusst. In Berlin ist die Kita fast kostenlos.
Dann fällt mir ein: „Wenigstens habt ihr einen besseren Betreuungsschlüssel als wir.“ Eine andere Freundin, die auch in Stuttgart wohnt, kontert: „Der bringt einem aber auch nichts, wenn immer alle krank sind oder kündigen.“ Ihre Kita hat gerade erst die Öffnungszeiten verkürzt, und zwar dauerhaft. Um vier Uhr nachmittags ist jetzt Schluss – sie schafft mit Ach und Krach eine 75-Prozent-Stelle, das Geld wird da in der teuren Großstadt trotz der Vollzeit-Stelle ihres Freundes schon einmal knapp.
Solche Geschichten kann ich zu Dutzenden erzählen. Da ist die Berliner Kollegin, die Monate für die Eingewöhnung ihrer Tochter brauchte, weil so viele Erzieher:innen fehlten und sie immer wieder mit dem Kind zu Hause bleiben musste. Da ist die Mutter, die mir erzählt, dass in ihrer Kita sogar die Küchenkräfte irgendwann in den Gruppen eingesprungen sind. Und die andere Mutter, deren Kita seit Monaten keine Leitung hat. Einfach so die Kita wechseln geht natürlich auch nicht – denn Plätze sind rar. Und anderswo ist es schließlich auch nicht besser. Das weiß man ja aus den Gesprächen mit den anderen Müttern.
Frauen wie mich bringt das in eine seltsame Lage. Jahrelang verteidigten wir – die Politik im Rücken – die frühe Kinderbetreuung: Sie sei nicht nur gut für die Karrieren der Mütter (die in den meisten Familien immer noch hauptsächlich für die Kinder zuständig sind), sondern auch für die Kinder selbst. Sie würden gefördert, hätten Kontakt zu anderen Kindern und viel Abwechslung. Und in der Tat schien sieben Jahre nach der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz ab dem Alter von einem Jahr die sehr deutsche Diskussion um die Rabenmutter endlich abgeräumt. Selbst meine im ländlichen Westdeutschland sozialisierte Mutter verteidigte vor ihren bayerischen Freundinnen die Tatsache, dass ihre Berliner Enkeltochter mit einem Jahr in die Kita kam.
Doch die katastrophale Situation in den Kitas wirft die Frage wieder auf: Ist das wirklich der richtige Weg – für die Kinder, für uns alle?
Auf dem Papier ist die Situation besser als in der Realität
Als ich mit einem älteren Kollegen darüber spreche, sagt er: „Seid doch froh. Als meine Kinder klein waren, gab es kaum Kitaplätze für Einjährige.“ Einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz gab es erst recht nicht. Die Kitas seien damals auch nicht Kostenlos gewesen – wie es jetzt in immer mehr Bundesländern, darunter auch Berlin, der Fall ist. Und er hat ja recht, es wird gar nicht alles immer schlimmer.
Auf dem Papier ist sogar einiges besser geworden. Das zeigt zum Beispiel das „Ländermonitoring frühkindliche Bildungssysteme“ der Bertelsmann Stiftung. Die Zahl der Kitaplätze hat sich rasant erhöht – und auch die Zahl der pädagogischen Fachkräfte, die in Kitas arbeiten: von etwa 380.000 im Jahr 2008 auf rund 582.000 im Jahr 2018. Auch hat sich der Betreuungsschlüssel seitdem im Bundesdurchschnitt leicht verbessert. Erzieher:innen müssen heute also im Schnitt auf weniger Kinder aufpassen als noch 2008 – wenngleich sich die Betreuungsschlüssel von Bundesland zu Bundesland stark unterscheiden.
Schlechter sieht es aus, wenn man sich die Realität hinter den Zahlen ansieht. Davon erzählt mir Maja Miljenovic, bis vor kurzem stellvertretende Leiterin einer Kita eines etablierten Trägers im Berliner Stadtteil Wedding, in der 120 bis 130 Kinder betreut werden. Miljenovic hat vor fünf Jahren ihre Erzieher:innenausbildung abgeschlossen und sagt: „Seit 2018 ist die Situation katastrophal.“ Viele Kolleg:innen, die jahrelang in der Kita gearbeitet hätten, seien gegangen. Der Grund: „Die Anforderungen an den Beruf haben sich geändert.“
Zum einen würden heute viel mehr Kinder unter drei Jahren in den Kitas betreut als noch vor ein paar Jahren. „Früher gab es in einer Gruppe vielleicht ein Kind mit einem Jahr, ein paar Zweijährige und viele Dreijährige“, erzählt Miljenovic. „Heute sind es 13 Ein- bis Zweijährige, die viel getragen, gewickelt und intensiver betreut werden müssen.“ Das schlage gerade den älteren Kolleginnen auf den Rücken, die Bandscheibe. „Und einige sagen schlicht: Das ist nicht mein Ding.“
Außerdem seien die Ansprüche an die Qualität der Arbeit gestiegen. Prinzipiell eine gute Entwicklung: „Kitas verstehen sich heute als Bildungseinrichtungen.“ Doch die gestiegenen Ansprüche kosteten Geld, sagt Miljenovic: „Wir haben viel mehr Teamsitzungen als früher, führen außerdem Lern- und Sprachtagebücher, beobachten die Kinder genauer.“ Und gerade für diese gestiegenen Ansprüche bräuchte es Top-Personal – das nach den Kündigungen aber nicht nachgekommen sei. Im Gegenteil. „Ich musste allein im vergangenen Jahr drei Leute in der Probezeit wieder entlassen.“
Für sie bedeutet das: Der bessere Betreuungsschlüssel steht nur auf dem Papier. „In der Realität stand ich nicht selten allein mit acht Krippenkindern da.“ Das bedeute Stress für sie und für die Kinder. Zettel, in denen sie Eltern bittet, die Kinder früher abzuholen oder gleich zu Hause zu lassen, hat sie in den schlimmen Monaten regelmäßig ins Fenster gehängt. Da hinter ihrer Kita ein großer Träger steht, gelang es ihr zwar verhältnismäßig gut, den Betrieb am Laufen zu halten, da immer wieder Kolleg:innen einspringen konnten. „Aber für kleine Kinder ist es nicht ideal, wenn jeden Tag ein anderer Mensch für sie zuständig ist.“
Und für das verbleibende Personal sei es belastend, mehr und mehr Mitarbeiter kündigten. Auch Miljenovich entschied sich schließlich, ihre Leitungsfunktion aufzugeben. Sie hatte das Gefühl, zwischen ihren Aufgaben als Leiterin und dem ständigen Einspringen in den Gruppen keine der beiden Aufgaben richtig zu erfüllen.
„Gerade für die schönen Sachen bleibt oft keine Zeit“
Das ist eine Situation, die Kitas in ganz Deutschland kennen. Erzieher:innen sind nicht nur in Berlin knapp. Das liegt zu einem großen Teil daran, dass der anspruchsvolle Beruf nach wie vor schlecht bezahlt wird.
Laut einer Umfrage, die Ende März beim Deutschen Kita-Leitungskongress, einem Treffen von Kita-Leiter:innen, in Düsseldorf vorgestellt wurde, führt personelle Unterbesetzung in Kitas zu immer mehr Einschränkungen, sowohl beim Betreuungsangebot als auch bei den Öffnungszeiten. An der Umfrage haben 2.628 Kitaleiter:innen teilgenommen. 90 Prozent von ihnen gaben an, in den vergangenen zwölf Monaten mit zu wenig Personal gearbeitet zu haben.
„Gerade für die schönen Sachen bleibt oft keine Zeit“, erzählt Maja Miljenovich. „Unsere Kita hat zum Beispiel eine Kooperation mit einer Kletterhalle. Aber von zehn Terminen mussten wir sechs ausfallen lassen, weil nicht genügend Personal da war.“ Das Laternenfest musste sie auch absagen. Für die Eltern sei die Situation auch sehr belastend, in den Entwicklungsgesprächen gäbe es viel Kritik. Sie seien allerdings bei allem Frust auch empathisch – schließlich wissen sie, dass das Problem nicht allein an ihrer Kita liegt. Sondern am System.
Lange dachte ich: Gleichberechtigung = Erwerbsarbeit
Genau so geht es mir auch. Auf die Idee, die schlechte Situation in den Kitas den Erzieher:innen anzulasten, käme ich nie. Im Gegenteil, ich habe höchsten Respekt für unsere Kitaleiterin. Sie jongliert mit Zeitarbeitskräften, sucht neues Personal, springt selbst in den Gruppen ein – und macht gerade die Eingewöhnung mit meinem Sohn selbst. Und meine Dreijährige rennt jeden Tag durch die Kitatür, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen, auf der Suche nach ihrer besten Freundin: „Wo ist Emma?“ Ich gucke manchmal noch ein paar Minuten durch die Glastür zu, wie die beiden in irgendeinem Spiel versinken. An solchen Tagen gehe ich entspannt und mit freiem Kopf an den Schreibtisch, zu Terminen.
Trotzdem haben die vergangenen Jahre mich ziemlich schmerzhaft darauf aufmerksam gemacht, dass das, was ich lange Zeit unter Gleichberechtigung verstand, ziemlich kurz gedacht war. Für mich galt: Gleichberechtigung = Erwerbsarbeit. Für mich war immer klar, dass ich meinen Beruf (den ich zudem noch echt gerne mag) nicht aufgeben werde. Und meine Kinder eben in die Kita gehen. Und so ist es heute. Ich arbeite mal 32, mal 35, selten 40 Stunden die Woche. „Vollzeitnah“ nennt man das wohl.
Für diesen Weg gibt es ja auch genügend gute Gründe: Frauen, die jahrelang aus dem Beruf aussteigen oder die Arbeitszeit stark reduzieren, verlieren dort oft den Anschluss. Nach einer Trennung stehen sie doof da, denn Väter müssen zwar für ihre Kinder Unterhalt zahlen, nicht aber für die Frau, die für die Kindererziehung Arbeitsstunden reduziert, auf Karriereschritte verzichtet oder gar den Beruf ganz aufgegeben hat. Diese Frauen rutschen dann leicht in die Armut ab – und stehen am Ende ihres Lebens mit einer Mini-Rente da. Wer nicht arbeitet, guckt in die Röhre.
Und da ist ja schon der erste Denkfehler: Denn natürlich arbeiten diese Frauen. Sie kaufen ein, putzen Wohnungen, spielen mit ihren Kindern, gehen mit ihnen zur musikalischen Früherziehung, schmieren Pausenbrote, helfen bei den Hausaufgaben, kochen Mittag- und Abendessen, waschen Wäsche. Sie bekommen nur kein Geld dafür. Zwölf Milliarden Stunden unbezahlte Arbeit leisten Frauen am Tag, hat kürzlich eine Oxfam-Studie ergeben.
Und die Menschen, die Frauen wie mir einen Teil dieser Arbeit abnehmen, bekommen zwar Geld – aber signifikant weniger als ich für meinen Job. Das gilt für die Erzieher:innen meiner Kinder ebenso wie für die Paketboten, die mir Klamotten und die Biokiste bringen. Es gilt für Putzfrauen, Pfleger, Krankenschwestern – kurz für alle, die Aufgaben übernehmen, für die Feministinnen den Begriff „Care-Arbeit“ verwenden.
Was ist Care-Arbeit wert?
„Care und Erwerbstätigkeit stehen in einem parasitären Verhältnis zueinander“, schreibt etwa die Soziologin Paula-Irene Villa. Der Arbeitsmarkt brauche Arbeitskräfte. Und damit diese überhaupt zur Verfügung stünden, brauche es Care-Arbeit. Irgendjemand muss einkaufen gehen, damit abends etwas zu Essen auf dem Tisch steht – entweder man selbst, ein Familienangehöriger oder der Lieferdienst muss das Abendessen bringen. Irgendjemand muss die Kinder betreuen, die irgendwann einmal neue Arbeitskräfte sein werden. Entweder man selbst, der Partner, die Partnerin oder eine Erzieherin.
Diesen Jobs, die in die Sphäre der Hausfrau fallen, in ihrer professionellen Form als deren Verlängerung entstanden sind, gehe es wie allem Weiblichen, sagt Villa: „Gesellschaftlich in höchsten Sonntagsredentönen romantisiert und zugleich alltäglich ausgebeutet.“ Das liege auch daran, dass sich der Wert dieser Tätigkeiten nur bedingt mit den Logiken des Marktes berechnen lasse: Welchen direkten, messbaren Mehrwert schafft es, dem kranken Kind was vorzulesen? Eine Stunde am Tag den pflegebedürftigen Vater zu besuchen? Die Balkonpflanzen zu gießen?
Diesen Zwiespalt zu lösen, sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, nichts, was jeder privat tun könne, schreibt Soziologin Villa – denn das laufe allzu oft nur auf eine „Ausbeutung anderer Menschen zur Herstellung der eigenen Autonomie“ hinaus. Autsch. Genau da hat sie mich, die ich Erfüllung in meinem Beruf finde, es für eine Errungenschaft der Emanzipation halte, dass ich nicht auf das Einkommen meines Mannes angewiesen bin. Während die Erzieherin meiner Kinder Mühe haben dürfte, von ihrem Gehalt eine Wohnung in Berlin zu bezahlen. Sie müsste unbedingt besser bezahlt werden, so viel ist klar.
Ich will mich kümmern
Das ist allerdings nur der Anfang, sagt Villa. Was noch fehlt, ist die Erkenntnis: Ganz und gar rationalisieren und ökonomisieren werden sich diese Arbeiten nie lassen. Und sollen es auch nicht. „Care ist auch – und davon sprechen wir bislang viel zu wenig – Freude, Sinn, Lust, es ist Anerkennung und Realisierung der sozialen Natur unserer selbst“, schreibt Villa, „dass wir nicht sein können und wollen ohne die Zuwendung von anderen und an andere.“
Und auch das stimmt. Nach der Kita noch Zeit zu haben, mit den Kindern ein Eis zu essen, ihnen zuzugucken, wie sie im Sandkasten Sand von einem Förmchen ins andere füllen, ihnen Abendessen zu kochen (das sie verschmähen und Nudeln mit nix bestellen) ist mir mindestens ebenso wichtig wie die Anerkennung von Kolleg:innen und Leser:innen. Für mich kann „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ nicht nur heißen, möglichst viel Care-Arbeit irgendwo hin auszulagern. Denn ich will mich auch selbst kümmern.
Gerade gelingt mir das Nebeneinander von Erwerbs- und Care-Arbeit einigermaßen zufriedenstellend, weil ich in einer privilegierten Situation bin: Mein Einkommen reicht auch bei 32 Arbeitsstunden gut zum Leben und für die Altersvorsorge (wenngleich da noch Luft nach oben ist). Ich kann von zu Hause arbeiten, spare mir daher lange Wege ins Büro. Ich habe flexible Arbeitszeiten. Und ich muss anders als viele andere Frauen nicht neben meinem Job noch Hausarbeit und Erziehung (nahezu) alleine wuppen – denn mein Mann hat nach der Geburt unserer Tochter auch die Arbeitszeit reduziert und erledigt die Hälfte der Aufgaben rund um unsere Familie.
Ein übliches Modell ist das nicht, nur die wenigsten Männer verzichten für die Familie auf Arbeitszeit – rein finanziell sicher eine gute Entscheidung, siehe oben. Vielleicht muss ihnen aber tatsächlich häufiger jemand sagen: Ihnen entgeht etwas.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildrfedaktion: Martin Gommel.