Als Cem Özdemir mit seiner Kandidatur zum Fraktionsvorsitzenden der Grünen scheiterte, las ich im Online-Magazin Migazin einen Kommentar mit der Überschrift: „Rassismus in Grün. Warum die Grünen Cem Özdemir nicht gewählt haben.“
Darin unterstellt der Autor den Grünen „schnöden Rassismus“ und schreibt, sie hätten Cem Özdemir, „dem Wilden von jenseits des Bosporus“, ein charakterliches Defizit zugeschrieben und ihn deswegen nicht wählen wollen. Und Özdemir sei keine Ausnahme.
„Die Masche, erfolgreiche Migranten abzusägen, hat bei den Bündnisgrünen Methode. 2017 wurde der grüne Bildungs- und Sportpolitiker Özcan Mutlu nach nur einer Legislaturperiode wieder aus dem Bundestag abberufen.”
Der Kommentar stimmte mich nachdenklich. Kann es sein, dass Politiker:innen mit Migrationshintergrund oder Personen of Color auch bei den Grünen Steine in den Weg gelegt werden? Die Grünen geben sich ja wie die Linke oder die SPD besonders bunt und vielfältig. Doch können Linke auch Rassist:innen sein, die ja für sich beanspruchen, „Internationalist:innen“ zu sein? Ich konnte mich nicht entsinnen, etwas darüber gehört oder gelesen zu haben. Doch das muss nichts heißen. Es könnte auch daran liegen, dass die vom Rassismus betroffenen Personen einfach nur schweigen. Die Frage brannte mir auf den Nägeln. Also beschloss ich, das herauszufinden.
So habe ich recherchiert
Um dem Rassismus bei linken Parteien auf die Spur zu kommen, habe ich erstmal nach Politiker:innen mit Migrationshintergrund innerhalb von Bündnis 90/Die Grünen, der SPD und der Partei Die Linke gesucht. Eine bereits erstellte und online zugängliche Liste vom Mediendienst für Integration erleichterte mir dabei die Arbeit.
Laut dieser Liste des Mediendienstes für Integration sitzen im Deutschen Bundestag 58 Politiker:innen mit Migrationshintergrund. Dazu kommen die Politiker:innen in den Landtagen. Also schaute ich mir die Fraktionen der jeweiligen Parteien in den 16 Bundesländern an und habe 49 weitere Politiker:innen mit Migrationshintergrund ausfindig gemacht. Ich habe also insgesamt 107 Politiker:innen mit Migrationshintergrund für ein Interview angefragt.
In einem zweiten Schritt habe ich mit den Politiker:innen gesprochen. Alle wollten, dass ich ihre Aussagen anonym behandele. Diesem Wunsch komme ich nach, da die Brisanz des Themas für mich offensichtlich ist. Ihre Namen sind der Redaktion bekannt. Ihre Positionen durfte ich erwähnen.
Doch nicht nur die Politiker:innen interessierten mich, sondern auch die Jugendverbände dieser Parteien. Denn ich dachte mir, wenn es Rassismus innerhalb der Parteien geben sollte, dürfte das den Werdegang von jungen Menschen mit Migrationshintergrund maßgeblich prägen. Aber auch, dass sie offener sprechen würden, weil sie noch keine Posten haben, um die sie bangen müssten.
Der folgende Text ist so aufgebaut, dass du zuerst die Zitate der Politiker:innen findest und dann Nurten Karakas’ Analyse dazu. Karakas ist Dozentin an der Universität Hildesheim und lehrt rassismuskritische Bildung.
Die Hautfarbe ist tatsächlich ein Thema
Ein Bundestagsmitglied der SPD-Fraktion sagt:
„Man spricht von ‚Quoten-Migranten‘ innerhalb der Partei. Wir haben einen schwarzen Abgeordneten im Bundestag. Da habe ich manchmal das Gefühl, dass man ihn als Beispiel gerne nach vorne schiebt oder auch in gewisse Positionen gebracht hat. Ich denke, damit hatte er am Anfang auch schwer zu kämpfen. Wenn man Leuten immer Positionen andient, weil sie dunkelhäutiger sind oder dunkelhaariger, dann hat es ja auch eine Symbolkraft. Aber es kann auch eine Überforderung dieser Person sein. Das haben wir durchaus auch erlebt.“
Ich frage Nurten Karakas, ob man in diesem Fall bereits von Rassismus sprechen muss. Karakas betont zunächst, dass die Betroffenen selbst die Freiheit haben, Situationen als rassistisch zu definieren. Dann sagt sie:
„Hier werden Menschen auf ihre Hautfarbe reduziert, da diese eine ‚Symbolkraft‘ haben soll. Man kann das als positiven Rassismus bezeichnen. Wenn etwa eine Kindergärtnerin dunkelhäutige Kinder als ‚meine Schokolade‘ bezeichnet, dann glaubt sie, dass das süß ist und gut gemeint. Aber dennoch reduziert sie ein Kind auf die Hautfarbe. Ein Kind besteht aber nicht nur aus der Hautfarbe, sondern es ist ein Individuum. Im Zitat des SPD-Politikers schwingt der Vorwurf mit, der Abgeordnete sei auserwählt worden, damit er im Schaufenster als schwarze Person stehen kann. Die Qualifikation steht nicht im Vordergrund.“
Die Hautfarbe ist offenbar auch bei Bündnis 90/Die Grünen ein Thema. Eines ihrer Bundestagesmitglieder berichtet:
„Ein klassisches Beispiel war, dass ich auf meine dunkle Hautfarbe angesprochen wurde. So nach dem Motto: ‚Du kommst von woanders her und hast also eine dunklere Hautfarbe.‘ Dabei kam ich aus dem Urlaub. Diese Situation und Frage habe ich als diskriminierend und unangenehm empfunden.“
Rassismus-Expertin Karakas sagt dazu:
„Die andere Hautfarbe wird damit verknüpft, dass die Person nicht von hier sei. Dahinter steht die Annahme, dass Deutschsein gleich Weißsein ist. Wer nicht weiß ist, kann kein Deutscher sein. Dabei gibt es ja auch schwarze Deutsche in Deutschland, seit Jahrhunderten. Man kann sie nicht mal mit dem Begriff des Menschen mit Migrationshintergrund fassen. Aber sie erleben Rassismus aufgrund ihrer Hautfarbe.“
Antimuslimischer Rassismus ist in linken Parteien verbreitet
Nicht nur die Hautfarbe, sondern auch Religion kann rassistische Äußerungen hervorrufen. Eine muslimische Person von der Linksjugend [’solid], der Jugendorganisation der Partei Die Linke, sagt:
„Von einer Genossin mit Kopftuch wurde behauptet, sie könne nicht links sein, weil das nicht mit dem Islam zusammenpasse. Eine andere muslimische Genossin, die im Jugendverband aktiv war, wollte nicht mehr mitmachen, weil sie sich nicht ernst genommen fühlte. Auch Anti-Deutsche sehen Muslime als rückständig. All das verpackt man in eine vermeintliche Religionskritik. Der linke Jugendverband und die Partei Die Linke tun wenig dagegen.“
Karakas sagt:
„Manche Wissenschaftlerinnen nennen das antimuslimischen Rassismus. Das ist eine junge Form des kulturellen Rassismus. In der NS-Zeit waren die Juden die sogenannten anderen, davor waren es die Schwarzen. Das wurde an biologischen Merkmalen festgemacht. Aber dadurch, dass es zunehmend verpönt war, schlecht über Juden oder Schwarze zu sprechen, hat es eine andere Form angenommen. Beispielsweise ist es total legitim zu sagen: ‚Ja, aber deren Kultur ist ja so anders. Die sind ja anders. Oder der Islam ist nun mal anders.‘ Das sind Aussagen, die von der Gesellschaft nicht unbedingt als rassistisch verortet werden. Aber das hat was mit Rassismus zu tun. Also: ‚Wir und die anderen.‘ Das wird am Kopftuch festgemacht. Diese Form des antimuslimischen Rassismus hat gerade nach 9/11 zugenommen. Und es ist eine besondere Form, weil sie oft nur Frauen betrifft. Sie werden gesellschaftlich gleich mehrfach diskriminiert, als Frauen und als Muslimas. Man kann auch fragen, ob es Parteimitglieder bei der Linken gibt, die gläubige Christen sind. Wird das thematisiert?“
Manche Diskussionen über das Thema Islam oder auch Kopftuch scheinen bei der SPD anders zu laufen. Ebenfalls ein SPD-Mitglied des Bundestages sagt dazu:
„Es geht um eine sehr symbolträchtige Politik. Man arbeitet mit Bildsprache. Also, man sagt, dass man vor allem jüngere Frauen mit Kopftuch holt, um Weltoffenheit zu signalisieren. Weil es sich so gut macht auf den Bildern. So wird die junge Frau mit Kopftuch akzeptiert – die junge Frau ohne Kopftuch, jedoch mit Migrationsgeschichte, akzeptiert man weitaus weniger. Es sei denn, sie sieht gut aus.“
Karakas meint:
„Problematisch wird es, wenn Menschen darauf reduziert werden, dass sie Vertreter von kopftuchtragenden Personen sind. Daran zeigt sich nochmal, dass in politischen Parteien Menschen mit Migrationshintergrund mit oder ohne Kopftuch nicht selbstverständlich sind, sondern als etwas besonderes in den Vordergrund gestellt werden müssen. Das ist eine oberflächliche Auffassung von Vielfalt, also nach dem Motto ‚Let’s celebrate diversity‘, ohne aber die gesellschaftlichen und strukturellen Benachteiligungen dahinter zu sehen.“
Das SPD-Mitglied berichtet von einem weiteren Fall:
„In einem Gespräch mit Genossen wurde unterstellt, dass der muslimische Glaube per se ein unfreundlicheres, diskriminierendes Frauenbild hätte. Und ich wurde auf einer semi-öffentlichen Veranstaltung dazu aufgefordert, mich öffentlich davon abzugrenzen und Frauenrechte zu schützen.“
Wie sieht das die Rassismus-Expertin? Karakas erklärt:
„Die pauschale Vorstellung, dass Frauenrechte und Islam unvereinbar sind, ist wieder ein Ausdruck des antimuslimischen Rassismus. Europa definiert sich ja oft als Teil einer europäischen, christlich-jüdischen Tradition, als Abendland, und damit als Gegenbild zum muslimischen Morgenland, wo das Frauenbild als rückständig, als unterdrückend gesehen wird. Man kann natürlich über Islam und Frauenrechte diskutieren, aber Frauen können aus sehr unterschiedlichen Motiven Kopftuch tragen. Wenn diese Vorwürfe von der Mehrheitsgesellschaft ausgehen, muss man immer bedenken, dass es ein Fall von antimuslimischem Rassismus sein könnte. Das ist etwas anderes, als wenn inner-islamische Kreise eine Debatte über das Frauenbild im Islam anstoßen.“
Im Kern geht es bei der Rassismusfrage immer darum, wer Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen bekommt, meint Karakas.
Ein Beispiel dafür ist die Aussage einer politisch aktiven Person bei der Linksjugend [’solid]. Sie berichtet Folgendes:
„Es gibt große Vetternwirtschaft innerhalb der Linken. Politiker mit Migrationshintergrund bekommen eher Listenplätze in Wahlbezirken, wo es von vornherein klar ist, dass sie dort nicht gewählt werden können. Nach außen hin geben sie sich bunt und divers. Aber im Endeffekt werden nur die Weißen in den Landtag geschickt. Wichtige Positionen oder Stellen werden nur unter den Weißen vergeben und einander zugespielt. Das ist rassistisch.“
Bei der SPD scheint es in dieser Frage eher anders herum zu laufen:
„Wenn es um Personalentscheidungen geht, entscheidet man sich im Zweifelsfall eher für jemanden mit Migrationshintergrund. Das sorgt aber auch für Probleme im Verhältnis zu anderen, die eine Stelle dann vielleicht nicht bekommen. Das schafft Grabenkriege.“
Rassismus-Expertin Karakas:
„Dass manche Menschen sich bei Personalentscheidungen benachteiligt fühlen – würde die Partei das überhaupt diskutieren, wenn die Menschen, die eine gute Position bekommen, Angehörige der Mehrheitsgesellschaft wären? Wahrscheinlich nicht.”
Ein weiteres Beispiel nennt eine Person aus dem Landessprecherrat der Linken, die Folgendes berichtet:
„Vor einigen Jahren hatte der Landessprecherrat der Linksjugend [’solid] zehn Posten zu vergeben und diese wurden mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund besetzt. Die damalige Landessprecherin der Linken in unserem Bundesland, auch eine Frau mit Migrationshintergrund, sagte: ‚Wie kommt es denn in der Öffentlichkeit an, wenn zehn Migranten da sind?‘ Das ist nicht gut.”
Karakas kontert:
„Man muss sich fragen, warum sie diese Frage stellt. Wenn zehn Herkunftsdeutsche gewählt werden, dann wundert es niemanden. Um Rassismus oder andere Formen von -ismen zu erkennen, muss man manchmal die Identitäten ändern. Warum werden sie auf ihren Migrationshintergrund reduziert oder angesprochen? Warum steht das so sehr im Vordergrund?“
Auch Sprache und Sprechweisen sind gängige Mittel der Diskriminierung
Rassismus kann sich auch darin zeigen, wie man mit Migrant:innen spricht. Ein Mitglied der Grünen-Bundestagsfraktion berichtet:
„Wenn jemand in der Partei einen Akzent hat, sprechen andere ihn manchmal automatisch anders an. Da ist sofort dieses Stereotyp im Kopf, die Person mit Akzent sei arm oder ein Flüchtling, der erst seit Kurzem in Deutschland lebt. Man spricht zum Beispiel langsamer, obwohl diese Person vielleicht einen Doktor-Titel hat.“
Karakas sagt sieht darin ein Beispiel für sprachliche Diskriminierung:
„Rassismus macht sich auch an Sprache fest. Das kann dazu führen, dass Menschen mit Akzent bestimmte Fähigkeiten oder Qualifikationen abgesprochen werden. Sie werden dann von bestimmten Ressourcen ausgeschlossen, können nicht teilnehmen oder zum Beispiel nicht aufsteigen. Bei Rassismus werden zwei Gruppen konstruiert: ‚wir‘ und ‚die anderen‘. Wir Deutschen sprechen und die anderen tun das nicht. Immer, wenn diese Unterteilung erfolgt, kann man von Rassismus sprechen. Oft wird es an der Sprache festgemacht, hier ist es die Hautfarbe.“
Eine andere Person aus der Linksjugend [‘solid] hat folgende Erfahrung gemacht:
„In der Landesvollversammlung diskutierte ich mit einer Genossin. Da wurden wir angemahnt. Man sagte uns: ‚Ihr müsst eure Diskussionskultur anpassen.‘ Und das nur, weil wir etwas lauter als die anderen diskutiert haben. Der unterschwellige Vorwurf an uns war, wir seien emotional und deswegen nicht professionell. Wir kommunizieren halt anders. Das hat nichts mit Professionalität zu tun.“
Das meint Karakas dazu:
„Hier schwingen Stereotype mit, die Menschen mit Migrationshintergrund oder Personen of Color zugeschrieben werden. Dass sie zum Beispiel besonders emotional seien oder auch laut sprechen würden. Die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland gilt als weniger gefühlsbetont und rational, diese Eigenschaften gelten als erstrebenswert.“
Linke Politiker:innen wollen nicht als Migrant:innen wahrgenommen werden
All diese Erfahrungen können dazu führen, dass Politiker:innen mit Migrationshintergrund nicht als Migrant:innen wahrgenommen werden wollen.
Das zeigt zum Beispiel diese Beobachtung eines SPD-Bundestagsabgeordneten:
„Ich habe einen Kollegen, der möchte absolut vergessen machen, dass er einen Migrationshintergrund hat. Man kann es natürlich nicht immer verstecken, weil man einen Namen hat, der einen verrät. Aber der erste Habitus signalisiert eher: ‚Ich möchte nicht mit meinem Migrationshintergrund wahrgenommen werden.‘ Weil sein Migrationshintergrund als Malus gesehen wird.“
Karakas dazu:
„Menschen legen sich unterschiedlichste Strategien gegen Diskriminierung zurecht, um Teil dieser Gesellschaft zu sein. Und eine dieser Strategien kann sein, den eigenen Migrationshintergrund auszublenden oder so zu tun, als ob es ihn nicht gäbe. Das zeugt von einem Parteiklima oder Organisationsklima, das gegenüber als anders wahrgenommenen Menschen nicht sehr freundlich ist. Wenn aber hier von Malus gesprochen wird, kann es auch damit zusammenhängen, dass die Person keinen unverdienten Bonus haben möchte, sondern dass man sie aufgrund ihrer Fähigkeiten beurteilt.“
Und jetzt?
Niemanden wundert es mehr, wenn Mitglieder der AfD öffentlich rassistische Sprüche äußern. Aber dass Politiker:innen im linken Spektrum ebenfalls rassistische Denkmuster haben können, wird selten diskutiert.
Wie ist es zu erklären, dass Politiker:innen der Linken, der SPD oder den Grünen sich rassistisch verhalten? Alle meine Interviewpartner:innen haben darauf bestanden, dass ich ihre Aussagen anonym behandele. Was sagt diese Unsicherheit über die linken Parteien und die deutsche Öffentlichkeit aus? Die zitierten Äußerungen der Politiker:innen gelangen meist nicht an die Öffentlichkeit. Welche parteiinternen Strukturen müssten die Parteien etablieren, um dem Rassismus in ihren eigenen Reihen entgegenzuwirken? Und wie lassen sich Parteien im linken Spektrum vom Rechtsruck der Gesellschaft beeinflussen?
Und last but not least: Was sagen die Parteien zu den Zitaten? In einem zweiten Text werde ich all diese Fragen beantworten.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Martin Gommel.