Am 15. Oktober veröffentlichte die Internationale Organisation für Migration ein Video auf Twitter. Wenn man es anguckt, sieht man: eine Flughafenhalle, dort laufen ein paar Dutzend Menschen mit Wollmützen und dicken Jacken die Treppe hoch. Doch viele, die auf Twitter kommentierten, sahen: den Untergang des Abendlandes.
https://twitter.com/iomethiopia/status/1184121677669486592
Rechte Medien regten sich auf, dass die Bundesregierung Flüchtlinge „einfliegen lässt“. Ein AfD-Abgeordneter unterstellte der Bundesregierung sogar „einen Fahrplan zur Überfremdung“.
Was ist eigentlich im Video zu sehen? 154 Geflüchtete sind aus der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba nach Kassel gereist: legal, mit dem Flugzeug. Einen Monat später kamen 192 Menschen aus Äthiopien an. Ein sogenanntes Resettlement-Programm hat sie nach Deutschland gebracht. Der Flug aus Addis Abeba ist der erste, mit dem auch Geflüchtete aus Äthiopien nach Deutschland kommen dürfen – das Programm gibt es schon seit sieben Jahren. Aber ganz von vorn:
Resettlement, was soll das sein?
Aus dem Englischen übersetzt bedeutet Resettlement
Umsiedlung, im deutschen Gesetz findet man den Begriff Neuansiedlung. Als weitere Übersetzung gibt es auch den Begriff Härtefallregelung. In den meisten Fällen sprechen wir aber auch in Deutschland von Resettlement.
Resettlement erlaubt Menschen, die einen anerkannten Status als Flüchtlinge haben, die legale Einreise. Und zwar aus dem ersten Land, in das sie geflohen sind, in ein anderes Land, das bereit ist, sie aufzunehmen.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge definiert Resettlement so:
„Resettlement ist ein internationales Instrument zur Lösung langanhaltender Fluchtsituationen. Es soll Geflüchteten Schutz bieten, wenn ihr Leben, ihre Freiheit, Sicherheit, Gesundheit und andere fundamentale Rechte in den Staaten, in die sie bereits geflohen sind – in den sogenannten Erstzufluchtsstaaten – weiterhin gefährdet sind bzw. wenn der dauerhafte Verbleib dort nicht zumutbar erscheint.“
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in einer Kurzanalyse zum Resettlement
Wer kommt durch das Resettlement nach Deutschland?
Für das Resettlement-Verfahren kommen nur Menschen infrage, die vom Flüchtlingshilfswerk UNHCR als Flüchtlinge anerkannt sind. Das UNHCR ist eine Unterorganisation der Vereinten Nationen und schützt und unterstützt flüchtende Menschen. In vielen Ländern leistet das UNHCR auch humanitäre Hilfe in Flüchtlingslagern.
Die Geflüchteten müssen sich in dem Land, in dem sie zuerst Zuflucht finden, beim UNHCR anmelden. Das überprüft anschließend, ob sie besonders schutzbedürftig sind. Denn nur dann haben sie ein Recht darauf, in ein anderes Land umgesiedelt zu werden.
Schutzbedürftig sind Menschen, die in einer besonders schlechten Lage und besonders verwundbar sind, sagt Chris Melzer, Pressesprecher von UNHCR Deutschland. Das können beispielsweise kranke Menschen sein oder Menschen, die einer Minderheit angehören. Auch traumatisierte Menschen oder Frauen und Kinder zählen zur Gruppe der besonders Schutzbedürftigen. Die genauen Kriterien findest du im FAQ auf der Seite des UNHCR.
Deutschland hat weitere Kriterien, nach denen die Menschen ausgewählt werden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schätzt unter anderem ein, wie gut sich ein Geflüchteter wahrscheinlich integrieren wird. Die Ausbildung ist ein Faktor. Wer Familienmitglieder hat, die schon in Deutschland sind, hat ebenso bessere Chancen.
Wie viele Flüchtlinge sind so bisher nach Deutschland gekommen?
Nach Deutschland kommen per Resettlement vor allem Syrer:innen. Sie sind vor dem Bürgerkrieg in die Nachbarländer Türkei, Jordanien und dem Libanon geflohen. Jetzt sollen verstärkt auch Menschen aus Nordafrika und vom Horn von Afrika in der EU aufgenommen werden, vor allem aus Libyen, Ägypten, Niger, Sudan, Tschad und Äthiopien. In diese Länder fliehen zum Beispiel Menschen aus Somalia und Eritrea. An Bord des Flugs aus Äthiopien Mitte Oktober waren vor allem Somalier:innen, sagt Johanna Hamoodi von der Caritas Friedland.
Von 2012 bis 2014 kamen jährlich 300 Geflüchtete mit dem Resettlement-Programm nach Deutschland. 2015 wurde die Zahl auf 500 Menschen erhöht. In den Jahren 2016 und 2017 hat Deutschland insgesamt 1.600 Menschen aufgenommen. Für 2018 und 2019 wurde eine Quote von insgesamt 10.200 Aufnahmen festgehalten.
Bisher sind seit Anfang 2018 aber nur gut 7.000 Geflüchtete in Deutschland angekommen. Die 192 Menschen, die am 14. November mit dem zweiten Flug aus Äthiopien angekommen sind, sind dort eingerechnet. Ob die Quote bis Ende des Jahres erreicht werden kann, ist noch nicht klar. Weil am Anfang des Resettlement-Programms viel Planung und Vorbereitung nötig war, konnte der Großteil der Menschen erst in diesem Jahr nach Deutschland kommen, sagt Markus Lammert, Pressesprecher des Bundesinnenministeriums. Bis Dezember sind noch weitere Einreisen geplant.
Es gibt viele Hürden, die die Geflüchteten überwinden müssen, ehe sie nach Deutschland kommen können. Außerdem befinden sich viele Flüchtende in Staaten, in denen es auch einen Bürgerkrieg gibt – zum Beispiel Libyen. UNHCR bekommt dort keine Hilfe durch staatliche Strukturen, sagt Pressesprecher Chris Melzer.
Aus welchen Ländern wie viele Geflüchtete bisher nach Deutschland gekommen sind, kannst du bei resettlement.de nachlesen, einer von der Caritas Friedland und dem Deutschen Caritasverband betriebenen Seite.
Wie läuft das Verfahren genau ab?
In den Ländern, in denen die Menschen zuerst Zuflucht gefunden haben, lassen sie sich registrieren und können so einen offiziellen Status als Flüchtlinge erhalten. UNHCR-Mitarbeiter:innen überprüfen außerdem, ob sie die Kriterien für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge erfüllen. Dann erstellen sie Listen mit den jeweiligen Fällen und schlagen sie den Ländern vor, die Menschen aufnehmen wollen.
UNHCR kann nicht für Deutschland entscheiden, betont Pressesprecher Chris Melzer. Deutsche Beamte fliegen meist selbst in die Länder, in denen die Geflüchteten Zuflucht gefunden haben, um dort mit den Menschen zu sprechen und eine Sicherheitsüberprüfung durchzuführen. Einige der vom UNHCR vorgeschlagenen Geflüchteten fallen bei der Überprüfung wegen verschiedener Gründe heraus. Erst dann kann das Resettlement der angenommenen Menschen geplant werden.
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet vor Ort Kurse an, in denen die Geflüchteten erste Informationen über das Land bekommen, das sie aufnimmt. Außerdem führt sie medizinische Untersuchungen durch und organisiert die Flüge, sagt Sabine Lehmann, Pressesprecherin der IOM Deutschland. Meistens sind das Charterflüge, mit denen die Geflüchteten als Gruppe im neuen Land ankommen – so wie die 220 Menschen an Bord der Maschine aus Addis Abeba.
In Deutschland kommen die Menschen zuerst für zwei Wochen im Grenzdurchgangslager Friedland in Niedersachsen unter. In einem „Wegweiserkurs“ lernen sie deutsche Wörter, um sich im Alltag zu verständigen, und bekommen Einblicke in das Leben in Deutschland (mehr dazu in einer Reportage der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung.) Außerdem können sie sich von Mitarbeiter:innen der Caritas und der Inneren Mission beraten lassen.
Anschließend werden die Ankommenden auf die einzelnen Bundesländer verteilt. Sie müssen sich in dem Bundesland und teils sogar in der Kommune niederlassen, die ihnen zugeteilt werden. Anfangs wohnen sie in Unterkünften und müssen sich in vielen Behörden anmelden, zum Beispiel beim Einwohnermeldeamt, bei der Ausländerbehörde und beim Jobcenter.
Und natürlich brauchen sie eine Krankenkasse, eine Bank und vielleicht auch eine Schule oder Kita für die Kinder. Das Ziel ist, dass die Menschen in eine eigene Wohnung umziehen, sobald sie können. In Städten mit wachsendem Mietendruck kann das aber auch zu einem großen Problem werden, vor allem wenn sie die Sprache noch nicht so gut sprechen und sich mit dem Wohnungsmarkt nicht auskennen (mehr dazu in dieser Reportage aus München von der Süddeutschen Zeitung).
Wie viele Menschen weltweit sind besonders schutzbedürftig?
Das UNHCR schätzt, dass in diesem Jahr weltweit 70,8 Millionen Menschen auf der Flucht sind. Davon müssten dem Flüchtlingshilfswerk zufolge mindestens 1,4 Millionen Geflüchtete umgesiedelt werden. So viele Menschen werden aber bei weitem nicht von anderen Ländern aufgenommen.
Bisher waren die größten Aufnahmestaaten die USA und Kanada, aber insbesondere in den Vereinigten Staaten ist unter Präsident Donald Trump die Bereitschaft, schutzbedürftige Menschen aufzunehmen, stark gesunken. Barack Obamas Regierung hatte für das Jahr 2017 noch das Ziel gesetzt, 110.000 Menschen aufzunehmen. Nur etwa die Hälfte wurde unter Trump tatsächlich aufgenommen. Für 2018 lag das Ziel bei 30.000 – und nur etwa 12.000 Geflüchtete kamen tatsächlich in den USA an, stellt der Refugee Council USA, ein Zusammenschluss von verschiedenen US-amerikanischen Nichtregierungsorganisationen, in einem Report fest. Die Nichtregierungsorganisation International Rescue Committee schreibt sogar, dass für 2020 nur noch eine Quote von 18.000 Geflüchteten geplant ist.
Unter anderem deshalb hat sich die EU bereiterklärt, mehr Verantwortung zu übernehmen. Seit 2012 gibt es ein EU-Resettlement-Programm. Es gibt EU-weite Quoten für die Aufnahme im Resettlement-Verfahren vor. Allerdings wird keines der Mitgliedsländer zur Aufnahme einer bestimmten Zahl an Menschen verpflichtet, sondern jedes einzelne Land legt freiwillig eine eigene Quote fest. In den Jahren 2018 und 2019 wollte die EU insgesamt 50.000 Geflüchtete aufnehmen.
Das Bundesinnenministerium hat zugesagt, davon insgesamt 10.200 Menschen in Deutschland willkommen zu heißen – genauso wie Frankreich übrigens auch. Welche EU-Länder die Aufnahme von wie vielen Geflüchteten zugesagt haben, kannst du in diesem PDF der Europäischen Kommission nachlesen.
Geht jetzt das Abendland unter, wenn Menschen durch das Resettlement nach Deutschland kommen?
Nein. Resettlement ist ein recht kleines Puzzleteil beim Thema Einwanderung. Das sieht man schon an den Zahlen: Deutschland will laut Koalitionsvertrag jährlich 160.000 bis 220.000 Zuwanderer:innen aufnehmen. Das heißt, nur etwa fünf Prozent davon sind Resettlement-Aufnahmen.
Und ist das die Lösung, wie man Schlepperei und illegale Einwanderung aufhalten kann?
Jein. Das Bundesinnenministerium hält das Resettlement-Verfahren für einen wichtigen Schritt, um besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen einen legalen und sicheren Zugangsweg nach Deutschland zu bieten. „Solche Verfahren tragen dazu bei zu vermeiden, dass sich schutzbedürftige Flüchtlinge in die Hände von Schleusern oder auf lebensgefährliche Fluchtwege begeben“, sagt der Pressesprecher des Innenministeriums Markus Lammert.
Allerdings werden nur wenige Menschen überhaupt als besonders schutzbedürftige Flüchtlinge anerkannt. Es wäre zwar schön, wenn man damit der Schlepperei das Wasser abgraben könnte, aber das sei nur ein nachgeordneter Grund für die Resettlement-Programme, sagt Chris Melzer von UNHCR: „Es geht vor allem darum, Menschen in Sicherheit zu bringen, für die es ein Todesurteil wäre, im Gebiet zu bleiben.“
Auch Sabine Lehmann von IOM Deutschland betont, dass andere legale Einwanderungswege für Migrant:innen ohne anerkannten Schutzstatus nötig sind, um zu verhindern, dass Menschen unterwegs ums Leben kommen und Opfer von Schlepperei werden.
„Wir sind froh über jeden, der diesen Weg gehen kann“, sagt Dominik Meyer, EU-Referent von Pro Asyl. „Das Recht, in der EU Schutz zu suchen, wird durch die Abschottungspolitik untergraben. Resettlement darf das individuelle Asylrecht lediglich ergänzen.“ 1,4 Millionen Plätze müsste es laut UNHCR geben. Aber die EU nimmt nur 50.000 Menschen auf. Dominik Meyer sagt: „Der politische Wille fehlt.”
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.