„Unsere Reaktion auf rechten Terror muss heißen: Solidarität! Sie muss heißen: Nie wieder! Sie muss heißen: Widerstand! Und sie muss heißen: eine andere Gesellschaft, in der nicht nur manche vom Staat geschützt sind, sondern alle.“ Zum Prozessauftakt gegen den rechtsextremen Attentäter von Halle hat der Autor Max Czollek deutliche Worte gefunden. Sie wurden in den vergangenen Wochen vielfach auf Twitter, Facebook, Instagram und Co. zitiert und geteilt. Denn die meisten Menschen in Deutschland stimmen ihm schließlich zu: Rechter Terror muss weg. Und wir müssen uns dagegen stellen.
In diesem Text soll es um Rassismus gehen. Warum steige ich also mit einem Zitat ein, das sich auf einen rechtsradikalen Angriff bezieht? Ganz einfach, weil beides unumgänglich zusammenhängt. Max Czollek zeigt das mit dem letzten Satz des Zitats: Alle Menschen sollten in dieser Gesellschaft geschützt werden. Und, auch wenn ich den Terroranschlag in Halle und andere rechtsextreme Hassdelikte verurteile, kann es sein, dass ich gleichzeitig in meinem täglichen Leben dazu beitrage, dass nicht alle Menschen hierzulande gleich behandelt werden.
„Es scheint tatsächlich Leute zu geben, die beides sind – rassistisch und nichtrassistisch. Sehr viele sogar“, stand vor kurzem in der Zeit („Wie rassistisch sind Sie?“ heißt der Artikel, online mit Bezahlschranke, den ich sehr empfehle). Genau deshalb möchte ich noch einmal an die ganzen Texte anknüpfen, die wir in den vergangenen Wochen zum Thema Rassismus veröffentlicht haben. Denn mir ist aufgefallen, dass es wegen dieser Texte eine gewisse Empörung gibt. Ich habe bei manchen Kommentaren eine Weigerung herausgelesen, sich mit Rassismus zu beschäftigen. Einige KR-Mitglieder wollen keinen „persönlichen Schuldvorwurf“ oder finden, dass es „hanebüchener Unsinn“ sei, in unserer gesellschaftlichen Struktur immer wieder rassistische Elemente zu finden.
Gleich vorweg: Ich möchte hier niemandem unterstellen, dass er oder sie absichtlich ein rassistisches Arschloch ist. Ich glaube sogar fest daran, dass die meisten von uns sehr bemüht sind, keine Arschlöcher zu sein. Dennoch tragen wir oft unbewusst mit unserem Verhalten dazu bei, dass Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten bestehen bleiben. Wenn wir das nicht wollen, müssen wir uns bewusst werden, was bisher falsch läuft. Damit das klappt, können wir Einiges tun. Ich habe deshalb drei Schritte zusammengetragen, die auf diesem Weg helfen können.
Schritt 1: Versuche, die Struktur zu verstehen
Bevor man handeln kann, muss man ein Problem verstehen. Deshalb zunächst einmal eine Definition des Begriffs Rassismus, die ich im Gespräch mit dem Kollegen Stephan Anpalagan gefunden habe: Rassismus ist die Ausgrenzung von Menschen wegen ihrer imaginierten Herkunft. Wichtig ist hierbei das Wort „imaginiert“, also vorgestellt. Denn es geht überhaupt nicht darum, ob eine Person deutsch ist oder nicht. Stephan ist genauso deutsch wie ich. Dennoch wird er in Deutschland auf der Straße viel eher kritisch angeguckt als ich. Er beschreibt das in diesem Facebook-Post sehr anschaulich.
Die Aussage „Ich sehe keine Hautfarben“ ist übrigens ein Teil des Problems. Denn die Aussage ist nicht nur faktisch falsch (wir alle können Unterschiede im Aussehen verschiedener Personen wahrnehmen), sie spielt auch die Erfahrungen von Betroffenen herunter. Mein Kollege Chiponda Chimbelu hat in diesem Text erklärt, warum es zwar anfangs angenehm für ihn war, dass man in Deutschland nicht über Hautfarben spricht – er es aber inzwischen als Problem ansieht. Die britische Autorin Reni Eddo-Lodge hat 2014 sogar für sich festgestellt, dass sie nicht mehr mit Weißen über Hautfarbe sprechen möchte. Einen Auszug aus ihrem später veröffentlichten Buch findest du hier.
Was man eigentlich mit dem Satz „Ich sehe keine Hautfarben“ ausdrücken möchte, ist ja: „Ich behandle alle Menschen gleich.“ In einer Gesellschaft, in der Vorurteile so tief sitzen, ist das aber unmöglich. Der US-amerikanische Rassismusforscher Ibram X. Kendi hat in seinem Buch „How to Be an Antiracist“ zum Beispiel beschrieben, dass er als Jugendlicher selbst Angst vor anderen Schwarzen hatte, weil sie in den USA als besonders gefährlich gelten (das Buch habe ich hier vorgestellt). Das ist doch verrückt, oder?
Jede:r trifft Vorausurteile – also schnelle Urteile über eine Situation oder einen Menschen. Das ist normal und sogar ein sehr nützlicher Mechanismus, der uns vor Gefahren bewahrt. Was Vorausurteile aber von Vorurteilen abgrenzt, ist, dass wir das Urteil revidieren, sobald wir neue Informationen bekommen (Genaueres dazu kannst du in dieser Magisterarbeit nachlesen). Und das ist unsere Aufgabe: Uns der Vorausurteile bewusst zu werden und sie nicht als Wahrheiten stehen zu lassen.
Die Ausgrenzung wegen der imaginierten Herkunft geht im Übrigen über die Hautfarbe hinaus. Rassismus kann sich auch gegen Religionen richten. Antimuslimischer Rassismus wird in Deutschland oft geleugnet. Betroffene von antimuslimischer Gewalt werden sogar selbst dafür verantwortlich gemacht. Aber es gibt diese Art von Ausgrenzung, sie ist sogar alltäglich.
Rassismus gegen Weiße gibt es übrigens nicht. Aber es gibt gruppenbezogene Diskriminierung auch gegenüber Weißen. Zum Beispiel dann, wenn wir denken, alle Rom:nja und Sinti:zze seien verwahrlost (mehr dazu erfährst du in diesem Video von Ze.tt). Oder Pol:innen hätten eine besondere Neigung dazu, Autos zu stehlen. Das sind unsinnige, verallgemeinernde Aussagen gegen Bevölkerungsgruppen, mit denen wir uns über andere erheben. Wir brauchen sie nicht.
Schritt 2: Ertrage Komplexität
Trotz alledem kann es natürlich sein, dass du mal eine Situation erlebst, in der sich eines deiner Vorurteile bestätigt. Dann ist es wichtig, einen Schritt zurückzugehen und die Situation zu verstehen. Denn nur weil etwas in einem Fall zutrifft, muss das nicht für eine ganze Gruppe gelten. Das Leben ist komplex, und Menschen sind es sowieso. Alle Menschen machen Fehler und tun Gutes – oft sogar mehrmals am Tag. Genauso wie wir uns nichtrassistisch und rassistisch zugleich verhalten können.
Die Kommentator:innen unter den KR-Texten wollen wegen ihres Weißseins zum Teil nicht in „Kollektivverantwortung“ genommen werden. Okay. Aber dann müssen sie ja erst recht einsehen, dass andere Menschen keine Sprecher:innen für eine angenommene Gruppe sind.
Nehmen wir mal ein positives Vorurteil, das in einem Kommentar unter einem unserer Texte erfragt wurde: „Ist es rassistisch, wenn ich sage, dass Afroamerikaner oft besser springen können?“ Das ist nicht per se rassistisch. Natürlich kann es sein, dass einige Afroamerikaner:innen sportlich sehr begabt sind. Womöglich können sie im Durchschnitt sogar besser springen. Zum Problem wird die Aussage, wenn daraus eine Verallgemeinerung folgt. Die durchschnittliche Begabung bedeutet nämlich im Umkehrschluss nicht, dass alle Schwarzen in den USA sportlicher sind oder dass sie – noch schlimmer! – eher sportlich als akademisch begabt sind. Aus solchen falschen Schlüssen speisen sich unsere Vorurteile, die sich dann durch den sogenannten Bestätigungsfehler verfestigen – nämlich dadurch, dass wir Informationen eher als wahr annehmen, wenn sie unsere Vorurteile bestätigen.
Wenn ich einmal denke, dass Afroamerikaner:innen sportlicher sind und dann den afroamerikanischen Basketballspielern Kareem Abdul-Jabbar, Michael Jordan oder Kobe Bryant zuschaue, könnte sich mein Vorurteil bestätigen. Wenn dann in einer Schulklasse der schwarze Jugendliche lieber Matheaufgaben macht, als dem Basketballteam beizutreten, irritiert das vielleicht. Dabei hat der Jugendliche mit den zuvor genannten wahrscheinlich genauso viel gemeinsam wie mit dem weißen Basketballer Dirk Nowitzki.
Schritt 3: Beobachte deinen eigenen Abwehrreflex
Nun ist es ja schön und gut, wenn ich das alles hier so aufschreibe. Viel wichtiger ist es, Menschen zuzuhören, die von Rassismus betroffen sind. Damit meine ich ausdrücklich nicht, dass du jetzt auf eine dir bisher unbekannte Person zugehst und ihr direkt Löcher in den Bauch fragst, welche Arten von Rassismus sie schon erfahren hat. Denn diese Erfahrungen tun auch weh. Es ist zum Teil sehr schwer, darüber zu sprechen. Einige Menschen möchten auch nicht darüber reden. Respektiere das. Du würdest ja auch nicht mich direkt fragen, ob ich mal sexuelle Belästigung erfahren habe, wenn du mich zum ersten Mal triffst, oder?
Was ich meine ist: Höre den Menschen in deiner Umgebung zu, wenn sie über Rassismus sprechen. Es gibt Momente, in denen ihre Erfahrungen zur Sprache kommen. Wenn Freund:innen, Nachbar:innen, Kolleg:innen von diskriminierenden Erlebnissen erzählen, beziehe sie nicht direkt auf dich, sondern nimm ihre Erfahrungen erst einmal ohne Wertung an. Nur weil du vielleicht selbst mal eine ähnliche Situation erlebt hast, kannst du ihnen nicht absprechen, dass sie sie als verletzend empfunden haben.
Ein Beispiel. Ich habe die KR-Mitglieder gebeten, mir Tipps im Umgang mit Rassismus zu geben. Sascha ist Lehrer und hat mir von einer Situation in seiner Klasse erzählt: Für eine schwarze Schülerin war es sichtlich unangenehm, dass ihre Mitschüler:innen immer wieder ihre Haare anfassen wollten. Eine andere, weiße Schülerin wurde dann „als Alibi dafür verwendet, dass das doch alles nicht so schlimm“ sei, weil sie es ja schließlich auch nicht schlimm fände, schreibt Sascha. Erst nach längerem Zuspruch hat sich die schwarze Schülerin überhaupt getraut, etwas dagegen zu sagen. Die anderen Schüler:innen waren „sichtlich irritiert, dass etwas, das sie nicht als schlimm empfunden haben, doch im Kern eine rassistische Mikroaggression war“, schreibt Sascha.
Es kann sogar sein, dass du selbst darauf hingewiesen wirst, etwas Rassistisches gesagt zu haben. Zum Beispiel, weil du das N-Wort benutzt hast. Statt deinem Verteidigungsreflex zu folgen und gleich zu erklären, dass du es ja nicht so gemeint hast, dass es ohnehin eine ganz normale Redewendung ist und die andere Person sich mal locker machen soll – höre zu. Verstehe, was die andere Person dir sagen möchte. Warum das Wort für sie verletzend ist. Und ziehe deine Konsequenzen daraus.
Niemand sagt, dass du bestimmte Wörter nicht mehr benutzen oder bestimmte Dinge nicht mehr tun darfst. Die Frage ist: Möchtest du das wirklich, wenn es andere verletzt? Die Autorin Tupoka Ogette beschreibt es in ihrem Buch „Exit Racism“ so: „Es gibt keine Sprachpolizei, keine Diktatur der Minderheit und niemand verbietet niemandem irgendwas. Mich versetzt dieses ‚Du darfst etwas nicht‘ in mein Kinder-Ich. Ich fühle mich bevormundet und – ganz ehrlich – ich will dann erst recht. Daher habe ich das Wort in meinem Kopf durch ‚möchten‘ ersetzt. Was möchte ich sagen? Was ist mein Anspruch? Und noch eins weitergedacht: Wie kann ich Verantwortung für meine Taten und eben auch für mein Sprechen übernehmen?“
Es gibt übrigens wahnsinnig viele tolle Autor:innen und Podcaster:innen, denen du auch zuhören kannst, wenn du dich weiterbilden möchtest. Wenn du nicht so viel Zeit hast, hier vier Empfehlungen für dich:
- Das Buch von Tupoka Ogette ist eine sehr gute Einführung in das Thema, hier findest du alle Informationen und das Hörbuch.
- Auch „Deutschland Schwarz Weiß“ von Noah Sow ist ein sehr gutes Buch, um sich näher mit Rassismus in Deutschland zu befassen.
- Im Podcast „Halbe Katoffl“ spricht mein Kollege Frank Joung mit „halben Katoffln“ über ihr Leben.
- In der Online-Talkshow „Black Rock Talk“ hat Esra Karakaya mit ihren Gästen über aktuelle Themen gesprochen.
Wenn du Lust hast, dich tiefer in das Thema einzugraben, habe ich noch ein kleines Bonbon: KR-Mitglied Minh hat mir diesen Link zu einer sehr tollen, umfangreichen Open-Source-Marterialsammlung zur antirassistischen Weiterbildung geschickt. Außerdem empfehle ich dir, meinem Kollegen Stephan Anpalagan auf Twitter zu folgen, der sehr viele kluge Dinge zum Thema Rassismus schreibt.
Was nun? Das können wir tun
Vielleicht hast du das alles jetzt gelesen und denkst: Okay, ich verstehe, worauf du hinauswillst, aber was soll ich mit den ganzen Informationen jetzt anfangen? Vielleicht bist du verunsichert. Dann kann ich dich beruhigen: Die Verunsicherung ist etwas Gutes, das schreibt auch Tupoka Ogette. Denn sie bedeutet, dass du Dinge hinterfragst und dass du die aktuelle Situation nicht mehr als gegeben hinnimmst.
Wenn du aktiv werden möchtest, kannst du antirassistische Vereine unterstützen – zum Beispiel „Each One Teach One“ oder die „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“. (Mehr unterstützenswerte Vereine findest du auch auf der Open-Source-Liste.)
Aber es gibt auch genügend Situationen in deinem Alltag, in denen du etwas verändern kannst. Sei nicht still, wenn jemand in der Familie oder im Freundeskreis etwas Rassistisches sagt. Die Diskussion kann manchmal zäh sein, sie läuft oft ziemlich emotional ab. Und manchmal erreichen wir unsere Mitmenschen auch (vorerst) nicht. Aber am Ende lohnt es sich trotzdem. Denn je mehr Menschen darüber nachdenken und sich ihrer unbewussten Handlungen und Sprechweisen bewusst werden, desto besser ist es für unser aller Zusammenleben.
Und noch etwas, das viele vielleicht für selbstverständlich halten: Schau nicht weg, wenn im öffentlichen Raum jemand rassistisch behandelt wird. Das ist leider nicht selbstverständlich. Vor drei Jahren wurde nachts einmal ein Freund von mir an einer Bushaltestelle rassistisch angegriffen. Ich bin dazwischen gegangen und habe versucht, zu deeskalieren, aber die beiden Angreifer haben uns mit Gewalt bedroht. Wir sind unbeschadet aus der Situation herausgekommen, trotzdem habe ich heute immer noch eines im Kopf: Wie eine Gruppe von sechs Menschen nur etwa fünf Meter von uns entfernt stand – und nichts tat. Sie mussten mitbekommen haben, in welcher Lage wir uns befanden. Aber wir waren völlig auf uns allein gestellt. Natürlich ist es nicht einfach, in so einer Situation dazwischen zu gehen. Aber je mehr Leute helfen, desto weniger trauen die Angreifer sich. Hier findest du sechs Regeln, wie du dich in solchen Momenten verhalten kannst: Beobachten, Hilfe holen, Abstand halten, Mitstreiter:innen suchen, um Opfer kümmern und Zeuge sein.
Mein Kollege Stephan Anpalagan schreibt in seinem Facebook-Post: „Ich frage mich oft, was die Menschen denken, die im Zug um mich herum sitzen und mitbekommen, dass ich – also nur ich – wieder einmal von der Polizei kontrolliert werde. Ich fahre ausnahmslos 1. Klasse, lese häufig als einziger eine Zeitung, statt auf mein Telefon zu schauen und dann steht plötzlich die Polizei neben mir. ‚Ausweis bitte!‘ Noch nie (!), noch nie nie nie hat ein Mitreisender gefragt, was das soll. Warum nur ich kontrolliert werde. Warum ganz augenscheinlich der einzige Nicht-Weiße im ganzen Abteil entblößt und gedemütigt wird.“ Auch das ist eine rassistische Handlung, und sie führt dazu, dass sich Menschen wie Stephan hier nicht zuhause fühlen können, obwohl Deutschland ihr Zuhause ist.
Es ist an der Zeit, dass wir uns einmischen.
Lieben Dank an Leonore, Jacob, Jochen, Barbara, Onno, Evelyn, Cornelia, Minh, Sascha, Elif und Ernest für eure Anregungen!
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel