Die junge Frau raffte ihre Röcke und rannte schreiend weg. Ich rief: „Dabor, you okay?“ „No, no, no!“, schrie sie. In sicherer Entfernung von dem Beet, neben dem ich kniete, blieb die junge Sudanesin stehen. „Sie hat etwas Schlimmes gesehen“, erklärte mir ein junger Mann, der ihre Sprache konnte.
Vorsichtig näherte sich Dabor wieder und zeigte auf einen Erdbrocken, den sie auf meine Anweisung hin eben aus dem Boden gehackt hatte. Darin wanden sich dicke Regenwürmer. Ich zog einen der Würmer raus und sagte: „Der ist nicht gefährlich. Das ist keine Schlange.“ Dabors Gesicht verzerrte sich. Endlich begriff ich: Sie fand die Würmer furchtbar eklig.
Ich verstand die Welt nicht mehr: Von Dabor hatte ich erwartet, dass sie praktisch mit einer Hacke zum Erdumgraben auf die Welt gekommen war. So waren sudanesische Frauen doch, oder?
Den Job, den ich mache, gibt es eigentlich nicht
Als ich mit meinem Job als Gärtnerin im Flüchtlingszentrum anfing, war mir schon klar, dass ich als Europäerin wahrscheinlich unbewusst rassistische Vorurteile hatte. Zum Beispiel lief ich nicht gerne abends zum Zentrum, weil ich die Vorstellung unangenehm fand, jungen geflüchteten Männern in der Dämmerung zu begegnen. Allerdings war mir nicht klar gewesen, wie viele positive Vorurteile ich hatte, zum Beispiel eben über die naturverbundenen Afrikanerinnen. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, dass (manchmal ziemlich absurde) Aha-Erlebnisse zu meinem Alltag gehören. Das gilt umgekehrt auch für die Geflüchteten.
Was sind Fertiggerichte?
Was ist dieser unverständliche Schwachsinn namens „Bio“?
Warum ist es nicht logisch, stets das günstige Produkt zu nehmen?
Was ist das Problem an Pestiziden, es ist doch großartig, wenn Käfer das Gemüse in Ruhe lassen?
Und warum erzählen dir fast alle Europäer andauernd, „dass alles zusammenhängt“?
Der Job, den ich mache, gibt es eigentlich gar nicht. Ich arbeite in einem Auffanglager in der Schweiz, hier heißt das Durchgangszentrum. Die Menschen, die hier leben, warten darauf, dass sie eine Aufenthaltsbewilligung bekommen oder abgeschoben werden. Auf dem Papier soll das drei Monate dauern, sehr oft sind es neun und mehr, wir haben auch Fälle, in denen es sieben Jahre waren. Pro Person und Übernachtung bekommen wir 17,50 Franken. Unser Auftrag ist es, Flüchtlinge zu beherbergen, ihnen Geld zu bezahlen und die Akte zu führen. Unser Auftrag ist nicht, sie auszubilden und zu beschäftigen. Wir tun es trotzdem.
Ich bin als Betreuerin angestellt, aber ich sitze nicht am Computer und schreibe keine Akten. Ich gehe mit den Leuten raus und mache Landschaftspflege. Sie dürfen keine Erwerbsarbeit machen, aber gemeinnützige Arbeit: Spielplätze aufräumen, Heckenschnitt zusammenräumen, für Naturschutzvereine Wieselhaufen bauen. Das sind alles Dinge, für die die Gemeinden niemanden bezahlen können, denn würde man Gemeindearbeiter anstellen, würde das Tausende kosten. Unsere Leute kriegen 2,50 Franken die Stunde.
Manche können monatelang nur rumhocken und aufs Handy starren
In meinem Zentrum leben 80 Geflüchtete. Die Bandbreite der Menschen, die zu uns kommen, ist riesig. Die Georgier, die bei uns auf der Durchreise sind; die Jungs aus Eritrea, die von ihren Familien losgeschickt wurden; die Menschen aus Subsahara-Afrika, die wir als „Wirtschaftsflüchtlinge“ kennen; die Afghanen, die kaum zurückgeschickt werden können; die Kurden. Allen wird bei der Ankunft erklärt, wie ein Klo funktioniert, und dass eine Dusche nicht das gleiche ist. Für die einen ist das neu, die anderen machen Gesichter, auf denen geschrieben steht „Wo bin ich denn hier gelandet?“
Dass Flüchtlinge ohne geklärten Aufenthaltsstatus arbeiten können, ist absolut nicht normal, weder in der Schweiz noch in Deutschland. Überall versauern die Flüchtlinge, während sie darauf warten, dass sie ihren Bescheid bekommen. In den Monaten und Jahren, die das dauern kann, können sie fast nichts tun, außer im Lager hocken, auf ihr Handy starren und jede Woche ihr Geld abholen. Bei uns ist das nur deswegen anders, weil wir einen ungewöhnlichen Lagerleiter haben, der keine Angst vor rechtlichen Grauzonen hat, und ein engagiertes Team, das mitzieht.
Wenn ich eine Gruppe aus „Afrika“ zum Arbeiten mitnehme, hat einer Mathe studiert, ein anderer kommt aus einem Dorf, in dem sein Vater Ackerbau mit Ochsen betreibt und hat auf der Flucht zum ersten Mal Strom gesehen. Aber egal, woher sie kommen und wie gebildet sie sind: Immer wieder gibt es diese Momente, in denen wir uns wortlos anstarren, und ich merke, wie wenig ich die Welt verstehe, aus der sie kommen – und wie absurd der Westen auf sie wirken muss.
„Gibt es in Europa noch Arbeit, die von Menschen gemacht wird?“
Einmal war ich mit einer Gruppe aus Eritrea unterwegs zu einem Einsatz. Ich zeigte aus dem Fenster auf die Felder und rief „Ofun! Kulu Ofun!“, das heißt: „Alles voller Mais“ auf Tigryna, denn ich hatte mir Mühe gegeben, ein paar Wörter ihrer Sprache zu lernen. Die Jüngeren im Auto guckten die Älteren verdutzt an – „Hat die gerade ‚Mais‘ gesagt?“, fragten sie. „Ja“, sagten die Älteren stolz, „und die kann noch mehr!“ Und ich: „Klar, Hase, Rote Beete, Mangold, Esel, Pferd, Huhn, Baumstamm – was wollt ihr hören?“
Dann fragte ich: „Was glaubt ihr, wofür dieser Mais ist?“ Sie sagten, naja, Mais ist total lecker. Ich erklärte, dass der Mais nicht zum Essen war. Schweigen im Auto. Auf den Gesichtern stand geschrieben: „Jetzt spinnt sie.“ Dann fragte ein junger Mann vorsichtig: „Du meinst, das wird nicht gegessen?“ Ich sagte, der Mais werde an Tiere verfüttert, und wir würden dann die Tiere essen. Es dauerte eine Weile, bis alle im Auto das begriffen hatten. Dann kam ein langes Schweigen. Schließlich guckte ein junger Mann aus dem Fenster und sagte mit einer ganz anderen Stimme als vorher (wo noch viel Lachen in der Luft hing): „Von diesem Feld dort könnte mein Dorf ein Jahr lang leben.“
Eigentlich hätte ich ihnen sagen müssen, dass aus Mais auch Biodiesel gemacht wird. Aber ich wusste nicht, wie ich das erklären sollte.
Einmal fuhren wir an Feldern vorbei, die gerade mit riesigen Maschinen abgeerntet wurden. Einer der Geflüchteten fragte: „Gibt es in Europa noch irgendwelche Arbeit, die von Menschen gemacht wird?“ Ich versuchte ihm zu erklären, dass wir eher eine Dienstleistungsgesellschaft sind. Ich wollte ihm nicht sagen, dass das auch für ihn ein Problem war, weil es nicht viel Arbeit für Geringqualifizierte gibt, und die Wahrscheinlichkeit, dass er demnächst ein Ingenieurstudium anfangen wird, nicht gerade hoch ist.
Was ich immer wieder vergesse, ist, wie sehr viele Geflüchtete gelernt haben, sich danach zu verhalten, was in genau diesem Moment von ihnen verlangt wird. Sie sind krasse Opportunisten, wenn man es blöd ausdrücken will. Zum ersten Mal habe ich das begriffen, als eine Afghanin – sie war 38 und hatte drei Kinder, zwei davon schwerbehindert – unbedingt auf einen gut bezahlten Einsatz bei einem Biobauern mit wollte. Es war aber Ramadan und ich wusste, dass es übel ausgehen kann, wenn man im Ramadan mit Leuten in der Mittagshitze auf dem Feld steht und sie nicht trinken. Das letzte Mal waren zwei Leute umgekippt.
Also erklärte ich ihr, dass sie nur mitkommen kann, wenn sie eine Vereinbarung unterschreibt, dass sie bei der Arbeit Wasser trinken wird. Und sie unterschrieb das. Dann war der Einsatz – und sie trank nichts. Sie hatte vorher einfach nur gesagt, was wir hören wollten, weil sie ein Ziel hatte: Sie wollte Geld für ihren Mann und ihre drei Kinder verdienen.
Wer sich an die Regeln hält, kommt schlechter weg
Viele nervt es, dass Geflüchtete sich so durchwinden können. Wir sagen, sie müssen Werte wie Zuverlässigkeit und Konsequenz lernen, aber Tatsache ist: Sie haben nicht gelernt, dass man weiterkommt, wenn man die Regeln einhält – sondern wenn man erkennt, was gerade nötig ist, um zu überleben und weiterzukommen. Diejenigen, die sich an die Regeln halten, haben oft sogar größere Probleme.
Die Jungs, die sich nach der Ankunft in Italien oder Griechenland ihre Fingerabdrücke abnehmen lassen, weil sie denken, jetzt hätten sie es ja nach Europa geschafft und ab sofort sei alles, was Behördenvertreter von ihnen verlangen, sicherlich gut und richtig (denn sie sind ja im goldenen Europa), stehen später schlechter da. Denn das Land, in dem du deine Fingerabdrücke zum ersten Mal abgibst, gilt laut Dublin-Verordnung als dein Einreiseland, das ab sofort für dich zuständig ist und in das du immer wieder zurückgebracht werden kannst. Diejenigen, die durch die Infos ihrer Netzwerke wissen, dass es ungünstig ist, in Bulgarien oder in Italien registriert zu werden, rennen nach der Ankunft vor den Behördenvertretern weg.
Wir denken, es gibt einen Rechtsstaat und einen Verfahrensweg und die Möglichkeit, Einspruch zu erheben. Sie sehen ein Labyrinth, durch das man irgendwie durch muss. Und wer die entscheidenden Infos hat, ist im Vorteil.
Noch nie habe ich so oft wie in den letzten Jahren das Wort „Chance“ gehört. Eine Chance ist für unsere Bewohner etwas Magisches, sie ist das, worauf alle warten. Sie kann jederzeit kommen, aus dem Blauen heraus, genau wie eine Abschiebung auch. Wenn man ihnen sagt, dass das System sie abgewiesen hat und dass es keinen Sinn hat, es weiter zu probieren, sagen sie: „Aber der Mohammed hat es doch auch geschafft.“ Und es stimmt, einer von tausend hat Glück, und es gibt einen Verfahrensfehler zu seinen Gunsten, oder er landet irgendwann bei einem Sachbearbeiter, der ein Auge zudrückt. Wenn das passiert, denken sie nicht: Durch das System wurde das so entschieden. Sondern: Diesmal hat einer Glück gehabt. Sie sind an Willkür gewöhnt, und so hoffen sie auf positive Willkür.
Viele der jungen Männer sind wie auf Stand-by, die Frauen machen sofort mit
Die Schweizer denken, sie wüssten über die Geflüchteten Bescheid. So wie ich am Anfang auch. Immer wieder höre ich, dass Migranten „sicher nicht unsere Arbeitskultur haben“, sprich: eher faul sind und angetrieben werden müssen. Ich kann mich an einen Auftraggeber erinnern, der meine Leute am Anfang kein einziges Mal angeguckt hat, obwohl sie ihn offensichtlich ansahen und auf Anweisungen warteten. Es ging darum, einen Wasserlauf von Pflanzen zu befreien. Ein junger Eritreer sagte auf Deutsch: „Okay, was kann ich jetzt machen?“ Der Auftraggeber ignorierte ihn und sagte zu mir: „Die müssen da rüber.“ Dann ging er weg. Am Nachmittag kam er wieder und sah, wie tief die Leute im Wasser standen und wie viel wir geschafft hatten. Da sagte er: „Ich komme gleich wieder“, kam wenig später mit Getränkekisten und Rosinenzopf wieder und sagte zu meinen Leuten: „Macht doch mal Pause.“ So etwas erleben wir oft.
Das bedeutet nicht, dass Migranten alle großartige Arbeiter und problemlos integrierbar sind. Ich weiß, dass das nicht stimmt. Der Frust darüber, in einem Durchgangszentrum zu stecken, zeigt sich auf viele Weisen. Oft sind sie depressiv, aggressiv, apathisch. Alkohol ist ein Problem. Viele bekommen Medikamente, ich schätze, etwa ein Drittel unserer Bewohner nimmt irgendetwas.
Wenn jemand drei Jahre in einem Zentrum hockt und sich danach integrieren soll, ist es eigentlich zu spät. Jeder, der schon mal länger arbeitslos war, kann das nachvollziehen. Oft muss man die guten Eigenschaften der Menschen aus einem Lehm von Depression, Angst, Lethargie und Apathie herauskratzen. Viele von den jungen Männern sind wie auf Stand-by, und es dauert Monate, bis sie mitmachen. Die Frauen sind sofort bereit, sie nehmen von Anfang an den Arbeitseinsätzen teil.
„Die Schweiz ist ein soziales Entwicklungsland“
Ich war ja selbst platt, als ich merkte, wie fleißig die Geflüchteten waren. Wie höflich, hilfsbereit und sozial. Indem man ihnen eine Aufgabe gibt und Respekt und sie fordert. Dann, ja dann zeigen sich die guten Eigenschaften sogar oft stärker als beim Durchschnitt in der Aufnahmegesellschaft. Ich merke das an vielen kleinen Momenten.
Neulich erwähnte ich bei der Rückfahrt mit dem Auto nach der Arbeit ganz nebenbei, dass ich Hunger hatte. Ein deutscher Kollege hätte das kaum registriert. Der junge Afghane von der Hinterbank brachte mir von der nächsten Tankstelle ein Sandwich mit, das er von seinem Geld gekauft hat. Einfach so. Mein Chef sagt: „Die Schweiz ist ein soziales Entwicklungsland.“
Aber auch bei den Schweizern, für die wir arbeiten, tut sich allmählich was. Ich denke an den Bauern, der neben dem Zentrum wohnt. Am Anfang wollte er nicht, dass die Geflüchteten alleine auf sein Gelände kamen. Es musste immer einer von uns danebenstehen, wenn es etwas bei ihm zu tun gab. Wahrscheinlich dachte er, dass sie sonst seine Sachen wegschleppen würden. Mittlerweile geht er einfach zu seiner Grundstücksgrenze und ruft: „Ihr könnt nachher noch Mist holen, für den Garten!“ Und lässt die Leute machen.
Vor Kurzem pflanzten wir junge Eichen. Es war ein Freiwilligeneinsatz, bei dem auch Bürger aus der Gemeinde halfen, Familien mit Kindern. An diesem Tag setzten wir 1.700 junge Eichen. Jeweils etwa 14 Stück, in einem großen Kreis. Der Forstleiter erklärte uns, was wir zu tun hatten, ich übersetzte meinem Team.
Ich sagte: „Aus diesen 14 Bäumen wird sich am Ende nur ein einziger durchsetzen und wachsen.“ Beeindruckt guckten meine Leute sich an: „Nur ein Baum hat eine Chance!“, sagten sie.
In unserer Serie „Was ich wirklich denke“ lassen wir Menschen sprechen, die interessante Berufe haben, die in herausfordernden oder besonderen Lebenssituationen stecken oder die etwas Ungewöhnliches erlebt haben. Trifft das auf dich zu und willst du davon erzählen? Dann melde dich unter: theresa@krautreporter.de
Schlussredaktion: Vera Fröhlich.