Ich saß während der Klassenfahrt im Bus wieder mal allein auf meinem Sitz. Niemand wollte sich zu mir, dem Griechen, setzen. Vor mir und hinter mir reihten sich die auf, die mich quälten. Alles Jungs, alle deutsch – alle außer mir. „Sag mal, Efti, arbeitet dein Vater immer noch am Band? Sperrt er deine Mutter abends im Schrank ein? Und wie ist es so, in einer Mülltonne zu leben? ‚Ahaha, lass mi raus, bitte lass mi raus!‘”, ahmten sie eine weibliche Stimme nach, die wohl die Stimme meiner Mutter sein sollte.
Solche Sprüche war ich gewohnt, ließ sie mir aber eigentlich nicht widerstandslos gefallen. Mit Fäusten wehrte ich mich, wo Worte versagten. Mit Worten konnte ich diese Bullies nicht aufhalten, dafür waren sie zu viele, zu laut. Aber mit Schlägen, da konnte mir keiner das Wasser reichen. Ich war einen Kopf größer als alle anderen und stark für mein Alter; Gott, war ich stark! Und Gott, war ich sauer! Sauer auf die Deutschen, auf dieses Land, auf meine Eltern, die mich hierher gebracht hatten, auf die halbe Welt.
Doch diesmal wollte ich mich nicht zur Wehr setzen. Ich war ja nicht allein. Da war jemand mit uns im Bus, der mir helfen würde – der mir helfen musste qua seiner Funktion: unser Geschichtslehrer. Keine zwei Meter von mir saß er auf der gegenüberliegenden Sitzbank. Mit einem spitzen Ohr und einer hochgezogenen Augenbraue verfolgte er aufmerksam das Geschehen, sagte aber nichts. Das konnte allerdings nur eine Frage der Zeit sein, ich war mir sicher. Er würde gleich eingreifen, würde diesen ganzen miesen Sprüchen ein Ende machen und die Jungs mit einer saftigen Strafe in ihre Schranken weisen.
Voller Erwartung blickte ich ihn an. Wartete fieberhaft auf sein Einschreiten. In diesem Moment war er nicht nur ein Erwachsener unter Zwölfjährigen; er symbolisierte vielmehr eine altehrwürdige Institution, meine Schule – das Gymnasium. Dieser alte, Schnurrbart tragende, glatzköpfige Geschichtslehrer hatte die Macht, alles Unrecht wieder gutzumachen, meinen Glauben in die Institution Schule und in dieses Land zu stärken. Aber er blieb unbeeindruckt. Er schritt nicht ein. Kein rettendes Wort verließ seinen Mund. Stattdessen blickte er mit einem verstohlenen Lächeln in meine Richtung, schaute mir tief in die Augen und sagte kaltschnäuzig: „Das Leben ist hart.”
Unter #MeTwo berichten Menschen mit Migrationshintergrund über Rassismus
Nicht anders als mir damals geht es heute vielen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Fünf Tage nach seinem Rücktritt aus der Fußball-Nationalmannschaft hat Mesut Özil eine Rassismus-Debatte in Deutschland ausgelöst, in der Menschen mit Migrationshintergrund unter dem Hashtag #MeTwo über ihre Erfahrungen mit Rassismus berichten. Erfahrungen, die viele ihrer deutschen Mitbürger überraschen, die in ihrer Alltäglichkeit und Banalität schockieren und die Fragen aufwerfen. Zum Beispiel, ob Menschen mit Migrationshintergrund tatsächlich mit vielen ihrer deutschen Mitbürger „zusammenleben”. Oder ob es sich um zwei voneinander abgetrennte Gruppen handelt, deren Erfahrungswelten sich fundamental voneinander unterscheiden.
https://twitter.com/labiledeutsche/status/1022515913793433601
Die Debatte wirft ein neues Licht auf das zuvor so oft diskutierte Thema der Integration. Teile der deutschen Medien, und zweifelsfrei auch der deutschen Gesellschaft, hinterfragen, ob Integration überhaupt möglich ist und ob man sich sicher sein kann, wie es um die Loyalität eines Menschen mit Migrationshintergrund bestellt ist. Personen mit zwei Heimaten, speziell Deutschtürken, wird vorgeworfen, sich nicht festlegen zu können und sich nicht für eine der beiden Identitäten entscheiden zu wollen.
Dementsprechend zeigt die Debatte um Identität die Tendenz zu einer beängstigenden Enge in der deutschen Gesellschaft, in der der Wert der Integration den der Verschiedenheit und Individualität übertrifft. Aber was verstehen wir überhaupt unter dem Begriff „Integration“?
Soll jeder, der hier lebt, sich wirklich ganz und total einer einheitlichen Volkskultur unterwerfen – die es so gar nicht gibt und auch nie gegeben hat? Welche ist diese einheitliche Kultur, der wir uns alle fügen sollen? Ist es das Grundgesetz? Und wenn ja, dann stellt sich wiederum die Frage, seit wann es gesetzeswidrig ist, wenn Mesut Özil sich mit einem türkischen Staatschef trifft und dafür den Shitstorm seines Lebens kassiert – während Lothar Matthäus sich mit Wladimir Putin ablichten lässt und es niemanden sonderlich interessiert.
Wenn diese Gesellschaft die Dualität der Deutschtürken oder Deutschgriechen oder Deutschnepalesen nicht annehmen kann, wie steht es dann mit der unendlichen Vielfalt an Kulturen, Sprachen, Vorlieben und Charakterzügen, die heutzutage gewiss jeder Mensch in sich trägt? Können sie dieser fantastischen Einheitskultur entsprechen und gerecht werden?
Die Schuld der Migranten
Die vielen kritischen Stimmen gegen Mesut Özil zeigen meines Erachtens vor allem eines: Dass dieser Fußballspieler, und womöglich jeder andere Migrant mit ihm, in den Augen vieler Deutscher diesem Land – „ihrem“ Land – etwas schuldig ist. Wie ein gekränkter Liebender tönten viele so, als hätte Özil sie oder ihn auf hinterhältigste Weise betrogen und verraten. Dabei war man sich seiner Treue doch sicher – und seiner Dankbarkeit. Denn das wäre jawohl das Mindeste, was dieser Fußballer aus dem Ausland uns allen schuldet.
Solche Kommentare der Empörung offenbarten jedoch genau das, was viele der Schreihälse als falsch und übertrieben abstritten: einen strukturellen Rassismus in diesem Land, den Özil eben durch sein Statement und den Rücktritt aus der Fußball-Nationalmannschaft öffentlich anprangert. Genau darin liegt die Ironie der ganzen Causa.
Unterdessen zeigt uns die #Metwo Kampagne, dass ein wesentlicher Teil der deutschen Gesellschaft nicht sieht wie man mit Migranten oder Deutschen mit Migrationshintergrund umgeht. Auch nicht, wo struktureller Rassismus in Deutschland hingenommen oder sogar gefördert wird.
Die Klassenfahrt, über die ich so pathetisch am Anfang dieses Kommentars schreibe, kann gegebenenfalls als Beispiel dieser strukturellen Förderung gelten. Die siebte Klasse unseres Gymnasiums, die fast ausschließlich aus Deutschen bestand, fuhr nach Garmisch-Partenkirchen. Die siebte Klasse der benachbarten Hauptschule, die mehrheitlich aus Türken, Griechen und Italienern bestand und die mehrere meiner ausländischen Freunde besuchten, fuhr zur Klassenfahrt nach Dachau, um sich die deutsche Schuld vor Augen zu führen. Vergasen-Witze hörte man aber nur auf unserem Schulhof.
Mein Geschichtslehrer hatte recht. Das Leben ist hart, für Menschen mit Migrationshintergrund. Muss aber ein Migrant, oder ein Deutscher mit Migrationshintergrund, Deutschland die Treue schwören? Was genau schuldet er Deutschland? Und warum muss man sich auf eine oder sogar auf zwei Heimaten festlegen? Für diejenigen, die sich – wie ich – zwischen zwei Heimaten hin- und hergerissen fühlen, habe ich leider keine aufheiternden Worte. Eine Heilung werden sie in dieser Welt der einfachen Befindlichkeit nicht finden. Heimaten finden immer einen Weg, uns zu enttäuschen, uns fallen zu lassen, wenn wir ihnen lästig werden oder wir unseren Zweck erfüllt haben.
Deswegen frage ich mich: Brauchen wir sie eigentlich noch, diese Monstrosität des Wortes Heimat, die vielen das Ankommen hier noch schwerer macht als es sowieso schon ist? Mein persönliches Hin und Her zwischen den Identitäten und den ach so geliebten Heimaten sagt mir: Nein. Ich will keinen Eid ewiger Treue leisten und fühle mich nicht verpflichtet. Ich bin in Deutschland zur Schule gegangen und habe in Griechenland studiert. Ich schulde Deutschland nichts, ich schulde Griechenland nichts; und um manch einem Anhänger übernationaler Konstrukte zuvorzukommen: Ich schulde Europa genauso wenig.
Ich lebe in Deutschland und liebe Menschen – keine Vaterländer. Ein griechisches Lied, das mir sehr am Herzen liegt, sagt: „Die süßeste Heimat ist das Herz, das als Boden hat Freude und Schmerz.“ Seitdem ich es gehört habe, stelle ich meine Heimat nicht mehr infrage.
Im Krautreporter Podcast „Verstehe die Zusammenhänge“ spricht Martin Gommel mit Efthymis Angeloudis über seinen Artikel:
Unter dem Hashtag #MeTwo berichten Menschen mit Migrationshintergrund über ihre Erfahrungen mit Rassismus. Das Thema hat bei vielen alte Wunden aufgerissen und Fragen aufkommen lassen. Efthymis Angeloudis hat diese Erlebnisse lange verdrängt, bis aus einem langen Spaziergang und einem freundschaftlichen Gespräch mit Martin Gommel ein Podcast wurde. Dabei erzählt er von seinen Erfahrungen und fragt sich, wie man sich gegen Rassismus wehren kann.
Redaktion: Esther Göbel. Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacherfoto: Martin Gommel)