„Ich kann seine Art zu spielen einfach nicht ab“, sagt einer meiner besten Freunde jedes Mal, wenn wir Fußball gucken und Mesut Özil auf dem Platz steht. „Und das sage ich nicht, weil er Deutsch-Türke ist oder so, der spielt mir einfach zu weich.“ Ich habe ihn dann immer ausgelacht: „Du musst nicht jedes Mal erklären, dass du nichts gegen Deutsch-Türken hast, das weiß ich!“
Vielleicht lag ich damit nicht ganz richtig. Also nicht, was meinen Freund betrifft, dem ist Fremdenfeindlichkeit völlig fremd. Aber was das Erwähnen angeht. Vielleicht muss man das heute wieder erwähnen, wenn man Mesut Özil und andere Spieler der deutschen Nationalmannschaft kritisiert, die ihre Heimat nicht ausschließlich in Deutschland sehen. Vielleicht muss man wieder sagen, dass es nur um den Sport geht. Heute würde ich meinen Freund dafür zumindest nicht mehr auslachen.
Warum? Weil die letzten Wochen gezeigt haben, dass die Kritik an Mesut Özil zu einem kleinen Teil fußballerisch, zu einem weiteren Teil sportpolitisch und zu einem besonders großen Teil rassistisch ist.
Özils Statement war mir am Anfang egal – das Foto mit Erdoğan nicht
Özils Statement zum Foto mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan hatte mich zunächst nicht interessiert. Es war mir egal. Denn: Für mich hätte das Statement nichts geändert, unabhängig davon, was er geschrieben hat.
Und für die Debatte gab es auch nur zwei Möglichkeiten: Er hätte sich für sein Foto entschuldigen können, er hätte die Folgen nicht richtig eingeschätzt und distanziere sich vom türkischen Präsidenten. Okay, hätten große Teile der Medien gesagt, aber warum erst jetzt? Das ist zu spät!
Oder er hätte zu dem Foto stehen können, hätte sich nicht entschuldigt und es auch nicht bereut – und genau das ist geschehen. Und noch mehr: Er schreibt, dass er in den letzten Wochen immer wieder rassistisch angefeindet wurde, dass er nur als Deutscher gesehen werde, wenn die Nationalmannschaft gewinnt, aber als Türke, wenn sie verliert. Dass er deswegen nicht mehr das Trikot der Nationalmannschaft tragen könne. Und hier wird seine Erklärung relevant.
Fußballer sind Vorbilder – und werden dieser Verantwortung manchmal nicht gerecht
Das Foto mit Erdoğan ist mir nicht egal. Erdoğan macht Politik, die menschenverachtend ist, sich mit so jemandem ablichten zu lassen, finde ich verwerflich. Ich, ganz persönlich, als jemand, der keine Ahnung davon hat, wie es sich anfühlt, mehr als eine Heimat zu haben. Als jemand, der nicht nachempfinden kann, dass Özil eine Absage des Treffens als Respektlosigkeit seinen Wurzeln gegenüber empfunden hätte.
Das Foto ist zu einem ungünstigen Zeitpunkt während des Wahlkampfes in der Türkei entstanden, das sollte man kritisieren. Özil sei seiner Vorbildfunktion nicht gerecht geworden, hätte mit dem Foto Einfluss auf die wahlberechtigten Türken in Deutschland haben können, sagen seine Kritiker, und haben recht. Aber alles, was nach dieser Kritik kam – in den Wochen, in denen sich anscheinend alle außer Özil dazu genötigt fühlten, ihre Meinung zu diesem Debakel kundzutun – all das hatte mit Fußball oder Sportpolitik nichts mehr zu tun.
Seit wann diskutieren wir wochenlang darüber, ob ein Fußballer seiner Vorbildfunktion gerecht wird oder nicht? Wenn ich mich so umgucke, wird ein Großteil der Fußballer auf irgendeine Weise früher oder später mal seiner Vorbildfunktion nicht gerecht. Stichwort Marco Reus, der jahrelang ohne Führerschein durch die Gegend kurvte. Aber der sportliche Aspekt war sowieso nur kurz Mittelpunkt der Debatte.
Unsere Werte, die er respektieren muss!
Hier gibt es einen Nationalspieler, der zu einem Foto eine andere Meinung hat als ich und als viele andere. Eine Meinung, die mir nicht gefällt, und ja, die ich auch nicht verstehe. Doch plötzlich ging es um Integration, um „unsere“ Werte, die er gefälligst zu respektieren habe. In einem Interview in der Welt sagte Teammanager Oliver Bierhoff nach der WM: „Wir haben Spieler bei der deutschen Nationalmannschaft bislang noch nie zu etwas gezwungen, sondern immer versucht, sie für eine Sache zu überzeugen. Das ist uns bei Mesut nicht gelungen. Und insofern hätte man überlegen müssen, ob man sportlich auf ihn verzichtet.“
Özil hat – was das Foto betrifft – eine andere Meinung als Bierhoff (und wen auch immer er noch als „wir“ bezeichnet), deswegen hätte er nicht mitkicken sollen.
Wie gut bist du integriert?
Ob jemand Erdoğans Politik gutheißt oder nicht, ob jemand Trumps Ausfälle amüsant findet oder beängstigend, ob jemand Orbáns Migrationsbegrenzung befürwortet oder für menschenfeindlich hält – was hat all das damit zu tun, wie gut dieser jemand integriert ist? Gibt es hier so etwas wie einen gesellschaftlichen Konsens, den nur die wirklich Integrierten verstehen? Wann gab es in Deutschland zuletzt überhaupt mal Konsens? Heute gibt es für alles ein Pro und Contra.
Özil hat ja nicht mal gesagt, dass er Erdoğans Politik gutheißt, es war nur ein Foto.
Diese Diskussion hätte so nie geführt werden dürfen
Die Diskussion über das Foto hätte niemals in eine Diskussion über Integration umschlagen dürfen. Mesut Özil ist Preisträger des Bambis für Integration, ist das relevant für die Debatte? Nein, aber es zeigt, dass in Deutschland unter den passenden Umständen jedem die Eigenschaft des „Integriertseins“ abgesprochen werden kann. Wenn sich jemand ohne Migrationshintergrund kontrovers äußert, hat er eine umstrittene Meinung. Wenn sich jemand mit Migrationshintergrund kontrovers äußert, ist er schlecht integriert.
Viele wollen wissen: Wie kann Integration gelingen? Aber viele sehen jetzt: offensichtlich nur, wenn Kontroversen so gut es geht umschifft werden. Integration bedeutet allerdings auch, Meinungen auszuhalten, die uns nicht gefallen.
Redaktion: Rico Grimm. Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Aufmacherfoto: Wikimedia / Von Granada – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0.