„Ay Bruder, ich bin so stoned. Hast du Tabak für mich?“, spricht mich ein Typ an der Nachtbushaltestelle von hinten an. Ich drehe mich um, der Typ sieht so aus, als würde er seine Monatsmiete direkt ans Fitnessstudio überweisen. Der eng anliegende Kapuzenpulli spannt sich bedenklich straff über seiner Brust, die geöffnete Lederjacke wird vom massiven Bizeps an ihrem Platz gehalten. Ich reiche ihm meine Papes, Filter und Tabak, er setzt sich daraufhin auf die Bank in der Bushaltestelle und stellt sich als Karim vor.
Während Karim und ich auf den wie immer verspäteten Nachtbus warten, kommen wir ins Gespräch. Ich erzähle Karim, dass ich einen Artikel über Bonn-Bad Godesberg und die Probleme des Stadtteils schreiben will. „Du wirst nichts ändern, Bruder“, sagt er. „Hier will niemand, dass sich irgendwas für dich ändert, wenn du keine Kohle hast. Deshalb musst du dir dein Geld eben selbst besorgen und dein Leben ändern.“
Zwischen Villenviertel und Bagdadallee
Im Bonner Stadtviertel Bad Godesberg teilen viele junge Menschen Karims Ansichten. Die Schere zwischen Arm und Reich geht hier weit auseinander – und das deutlich rasanter als in vielen anderen Städten, was vor allem an der Veränderung des Viertels nach dem Umzug der Bundesregierung nach Berlin im Jahr 1999 liegt. Wegen dieser beschleunigten Entwicklung ist Bad Godesberg ein gutes Beispiel für die Probleme von Jugendlichen in vielen deutschen Städten. Außerdem fehlen Jugendeinrichtungen, in denen sich jungen Menschen angenommen wird, nicht nur in Bad Godesberg, sondern auch in Berlin-Neukölln oder Duisburg-Marxloh. Um darauf aufmerksam zu machen und die Meinungen der Jugendlichen zum Leben in ihrem Viertel zu hören, habe ich mit ihnen gesprochen und sie gebeten, von ihren Erfahrungen zu erzählen.
Die Bahntrasse teilt Bonn Bad Godesberg in zwei Hälften. Rechts – östlich – davon findet man das Villenviertel, wo vor dem Regierungsumzug
nahezu alle Botschaften in reich verzierten Gründerzeitvillen lagen. Heute haben sich dort die Chefs von Firmen wie der Telekom oder der Postbank niedergelassen, die ihre Kinder auf eine der vier Privatschulen schicken. Links – westlich – der Bahnlinie liegt das ehemalige Knolleviertel – früher fand man hier viele kleine Geschäfte und Handwerksbetriebe. Inzwischen gibt es hier günstigere Wohnungen als auf der anderen Bahnseite, arabische Imbissläden und Callshops. Der Spitzname der Bonner Straße lautet Bagdadallee – allerdings eher bei den konservativen Altgodesbergern, die mit dieser Namensgebung auf die Veränderung des Straßenbildes reagieren.
Veränderung und Vorurteile gibt es nicht nur in Bad Godesberg – hier haben sie allerdings sehr reale Auswirkungen: Im Godesberger Stadtgebiet gab es im Jahr 2017 allein 4.000 Personenkontrollen – bei nur acht Festnahmen. Im Polizeibericht heißt es, dass „das Sicherheitsgefühl, trotz des Rückgangs der Gesamtkriminalität, stark von den objektiven statistischen Zahlen abwich“.
„Die Leute lebten wie in einer Schneekugel“
Doch woher kommt das Gefühl der Unsicherheit? Bad Godesberg war zu Zeiten der Bonner Republik das Diplomatenviertel schlechthin. ‚‚Vor jedem dritten Haus stand ein Polizeiwagen‘‘, sagt Simone Stein-Lücke, die Bezirksbürgermeisterin von Godesberg. „Zu Zeiten der Bonner Republik lebten die Leute hier wie in einer Schneekugel.“ Diese zerbrach nach dem Regierungsumzug 1999, mit dem auch die Polizeipräsenz deutlich abnahm. Das führte dazu, dass sich Kriminalität auf einmal auch im vorher so gut bewachten Godesberg abspielte. Dazu formierten sich einige Jugendgruppen aus verschiedensten Milieus, die ihre Konflikte gerne im ehemaligen Kurort austrugen – die Kombination aus jugendlichem Übermut und Alkohol sorgte dafür, dass es häufiger zu großen Schlägereien mit vielen Beteiligten kam.
Bei einer dieser Schlägereien im Jahr 2016 starb der 17-jährige Niklas. Die Medien stürzten sich auf das Thema, und Bad Godesberg bekam das Image eines Problemviertels verpasst – obwohl die Polizeistatistik in den vergangenen fünf Jahren einen deutlichen Rückgang der Kriminalität auf den niedrigsten Stand seit 1995 verzeichnete. Trotzdem erarbeitete die Stadt zusammen mit Polizei und Vertretern verschiedener Bürgerinitiativen ein Präventions- und Sicherheitskonzept. Dadurch wollten die Verantwortlichen den Rückgang der Gesamtkriminalität sowie ein besseres Sicherheitsgefühl für die Bürger erreichen. Zu diesem Zweck ordnete die Stadt die Ausleuchtung dunkler Orte an – und eben Polizeikontrollen.
Von denen sind vor allem die Jugendlichen betroffen, die in Godesberg gerne an öffentlichen Orten wie dem Panorama- oder Kurpark chillen – unter anderem, weil es so gut wie keine Jugendtreffs gibt. Auch andere Arten der Freizeitgestaltung, wie etwa ein Skatepark oder eine Sprayerwand, fehlen.
Godesberg wird zum Problemstadtteil gemacht
Eine Ausnahme ist das One World Projekt. Die SozialarbeiterInnen haben 2016 ein Café am Bahnhof eröffnet, in dem sie den Jugendlichen Workshops, Gesprächsmöglichkeiten und einen Ort zum Chillen anbieten wollen. Außerdem gibt es das One World Mobil, ein umgebautes Wohnmobil, das verschiedene Orte in Godesberg anfährt und den Jugendlichen einen weiteren Treffpunkt bietet.
Einer von ihnen ist Max. Er geht auf eine der Privatschulen und kann die Aufmerksamkeit, die der Stadtteil seit mehreren Jahren erfährt, nicht verstehen: „Godesberg wird schlimmer dargestellt, als es eigentlich ist“, sagt er. „Letztes Jahr wurde in den Arcaden zwar jemand angeschossen, aber das passiert ja nicht nur hier. Aber weil Godesberg halt ein Kaff ist, wird alles direkt richtig groß gemacht.“
Die Diskussion über die mediale Darstellung des ehemaligen Diplomatenviertels ist schon lange in den One-World-Einrichtungen angekommen. Gerade die Darstellung als „Problemviertel“ stößt den Jugendlichen sauer auf. Und auch die angebliche Blockbildung zwischen reichen Privatschülern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die von der Journalistin Ingrid Müller-Münch in ihrem Theaterstück „Zwei Welten“ verarbeitet wurde, sehen die Besucher des One-World-Mobils an diesem Tag sehr kritisch: „Es gibt ab und zu Stress zwischen den Privatschülern und anderen Jugendlichen“, sagt Max. „Aber eigentlich sind hier alle korrekt“. Er überlegt kurz und fügt hinzu: „Die Araber und Türken vielleicht sogar noch ein bisschen mehr, weil die nicht so verkrampft sind wie viele Deutsche hier.“
Trotzdem werden den One-World-Mitarbeitenden und den Jugendlichen am Mobil zufolge vor allem diejenigen von der Polizei kontrolliert, die einen augenscheinlichen Migrationshintergrund haben. Max der Privatschüler wurde noch nie kontrolliert. „Aber ich hab ja auch keine schwarzen Haare.“ Sein Kumpel, der neben ihm steht, pflichtet ihm bei: „So ist das hier. Biodeutschen …“, sagt er und spricht das letzte Wort übertrieben ironisch aus, „passiert sowas nicht.“
Kontrollen ohne triftigen Grund
Die Mitarbeitenden am Mobil bestätigen, dass es gerade für Jugendliche mit Migrationshintergrund schwer bis unmöglich ist, sich untereinander in Gruppen in der Öffentlichkeit zu treffen. Deren Seite der Geschichte erzählt Fatih. Er sitzt auf der Treppe des umgebauten Wohnmobils und hört dem Gespräch aufmerksam zu. Von Zeit zu Zeit streicht er eine schwarze Haarsträhne aus seinem Gesicht und legt sie wieder auf ihren angestammten Platz neben dem akkurat gezogenen Scheitel.
Er ist seit drei Jahren in Bonn und kam als Geflüchteter aus Syrien. Seitdem hat er Deutsch gelernt und einen Schulabschluss gemacht, nun beginnt er eine Ausbildung und sucht eine Wohnung in der Bundesstadt Bonn. Am Mobil erzählt er von seinen Erfahrungen mit den Polizeistreifen in Bad Godesberg. Er sei abends durch den Kurpark nach Hause gegangen. Als er unterwegs einen Freund traf und mit Handschlag begrüßte, habe ihn eine Polizeistreife angehalten und gefragt, was das gewesen sei. Dass er auf dem Weg nach Hause war, haben sie ihm nicht abgenommen, erzählt Fatih weiter. „Einer hat mich am Arm festgehalten, dann haben sie meine Tasche durchsucht um zu schauen ob ich Gras dabei habe“, sagt Fatih. Dabei kiffe er gar nicht. Weiter fügt er hinzu: „Hier reicht es, wenn du aussiehst wie ich und irgendjemanden im Park begrüßt, den die Polizei schon wegen Drogen oder so kennt. Dann bist du sofort verdächtig.“
Fatihs Geschichte steht exemplarisch für die vieler Jugendlicher in Bad Godesberg. Sie erzählen von Vorurteilen, denen sie begegnen. Außerdem scheint es für sie oft so, als interessiere sich niemand für ihre Probleme. Auch wenn die Situation aufgrund der schnellen Entwicklung des Viertels nach dem Umzug der Regierung extrem ist, finden sich ähnliche Probleme überall in Deutschland. Projekte, die den Austausch zwischen Menschen mit verschiedenen Hintergründen fördern, sind ein Lösungsansatz, um die bestehenden Vorurteile zu überwinden.
Das passiert bei One World, und mittlerweile passiert es anscheinend zumindest bei den jungen Menschen in Godesberg. Karim habe ich noch einmal während der Recherche im Nachtbus getroffen. Wieder war es ein Zufall, wieder hat er eine Kippe geschnorrt. Und wieder haben wir uns nicht schlecht verstanden. Warum? Weil wir angefangen haben, miteinander zu reden. Und das könnte für ganz Godesberg zumindest ein Anfang sein.
Redaktion: Esther Göbel. Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Bildredaktion: Martin Gommel. Aufmacherfoto: Tobias Eßer.