Müsste ich eine Festrede auf eine Institution halten, die sich um die Integration von Zuwanderern Verdienste erworben hat, wäre es sehr wahrscheinlich, dass ich eine nichtssagende Catchphrase an die andere reihen würde. „Integration“. „Friedlich, konfliktfrei“. „Miteinander“. Lauter Worte, die wenig aussagen, und das, was sie aussagen, ist zur Hälfte falsch und fragwürdig.
Weil wir nicht einmal wissen in dieser öffentlichen Rede, von der die Politikerrede ein Teil ist, von der Expertenreden ein anderer Teil und die Kommentare in den Medien ein weiterer Teil sind, was denn „Integration“ überhaupt sein soll. Vollkommene Assimilation? Dass Zuwanderer hier ein respektierter Teil unseres Gemeinwesens sein sollen? Dass die dafür irgendwelche Leistungen erbringen müssen? Dass die Gesellschaft irgendwelche Leistungen erbringen muss? Dass sie sich gefälligst anzupassen haben? Oder ein bisschen so bleiben dürfen, wie sie sind?
Und was heißt schon miteinander? Inwiefern lebt denn in unserer Gesellschaft überhaupt jemand „miteinander“? Ich meine, miteinander lebe ich mit meinen Kindern, mit meinen engsten Familienmitgliedern vielleicht, vielleicht mit meinen Freunden oder mit den paar Leuten, mit denen ich wirklich „gemeinsam“ etwas mache. Aber worin genau besteht das „Miteinander“ des Bankdirektors mit dem Hartz-IV-Empfänger? Das Miteinander der alleinerziehenden Mutter mit Halbtagsjob aus der Innenstadt mit dem SUV-Fahrer mit Villa im Grünen? Leben die nicht mindestens so sehr nebeneinander her in einer komplexen, ausdifferenzierten Gesellschaft, wie sie „miteinander“ leben? Und ist das grundsätzlich so schlecht, dieses Nebeneinanderherleben?
Nebeneinanderher zu leben, hat auch seine Vorteile
Ich meine, natürlich ist es eine gute Sache, wenn ich meine Mitbürger in einer Gesellschaft, in der wir gemeinsam leben, als Menschen ansehe, mit denen ich auf irgendeine Weise verbunden bin, durch Fäden der Kommunikation, aber es ist ja auch nicht so schlecht, dass Menschen, mit denen mich eigentlich nichts verbindet, die in Lifestyle, Auffassungen und Lebenszielen sehr anders sind als ich, dass wir einfach so nebeneinanderher leben, so ohne großes Miteinander, aber auch, ohne uns groß in die Quere zu kommen.
Nicht, dass das nicht seine negativen Seiten hätte, dieses indifferente Nebeneinanderherleben in modernen Gesellschaften, aber es hat auch seine positiven Seiten: Man ist nicht der Sozialkontrolle durch den anderen ausgesetzt, man akzeptiert implizit, instinktiv und intuitiv, dass der andere sein Leben nach seinen Präferenzen gestalten darf, weil man weiß, dass man im Umkehrschluss dann diesen Respekt auch vom anderen erwarten darf.
Während ich so über all diese Fragen nachdenke, erinnere ich mich, dass ich am Höhepunkt der sogenannten Sarrazin-Debatte in eine dieser Talkshows ins Fernsehen eingeladen war und mit mir saß da eine Frau, die eine Bürgerinitiative aufgezogen hatte gegen ein türkisches Kulturzentrum, das mitsamt einem Gebetsraum errichtet werden sollte. Da fiel wieder dieses Wort vom „Anpassen“. Und ich saß da und habe an der Diskussion teilgenommen und bin aber auch ein bisschen in meinen eigenen Gedanken abgeschwirrt, während die Debatte mit den bekannten Argumenten hin- und herwogte.
Ich habe überlegt, wer diese Frau ist, ich kannte sie ja nicht. Also, sie ist um die sechzig, hat dauergewelltes Haar, ist ein bisserl spießig gekleidet, so wie man das eben in diesem Milieu ist, also nicht besonders aufdringlich spießig, eher so normale Oma, die sich halt ein bisserl zurechtmacht, wenn sie ins Fernsehen muss. Daheim hat sie wahrscheinlich diese dunklen, schweren Mahagonieinbauschränke, wie man sie in den Siebzigerjahren hatte, und vor den Fenstern hängen Gardinen, auf den Schränken und Tischchen liegen Häkeldeckchen, und allerlei kitschiger Nippes steht herum. So stelle ich mir das vor und mit meiner Vorstellung liege ich wahrscheinlich nicht sehr falsch.
Und da fragte ich mich, was versteht die Dame eigentlich unter anpassen? Der Lebensstil dieser Dame, die Art, wie sie (vermutlich) lebt, die Werte, die sie (vermutlich) hat, die waren vielleicht einmal das, was man so konformistischer Mainstream nennt, aber heute ist sie selbst natürlich eine Minderheit in der Gesellschaft. Sagen wir, ihren Lebensstil haben vielleicht zehn, fünfzehn Prozent der Bürger. Ihre Auffassungen davon, wie man leben soll, teilt eine kleine Minderheit. Meine Auffassungen teilen vielleicht auch zehn, fünfzehn Prozent. Dann gibt es wiederum viele, viele andere Lifestyle-, Weltanschauungs- und Lebenskulturgemeinschaften.
Ich erzähle das, weil wir das einmal begreifen müssen.
„Oma, jetzt ist Schluss mit der Dauerwelle”
Früher gab es die große Masse, die gesellschaftliche Mitte des konformistischen Mainstreams, und dann gab es rundherum eine Korona aus Nonkonformisten, Hippies, Punks und dergleichen. Aber das ist längst Vergangenheit. Diesen Mainstream gibt es nicht mehr, das haben wir doch längst begriffen, selbst jene Dame hat das längst begriffen. Nie würde sie fordern, dass ich mich an sie anpasse, weil sie intuitiv weiß, mit dem gleichen Recht könnte ich fordern, dass sie sich an mich anpasst. Dass ich sage: Oma, jetzt ist Schluss mit Dauerwelle, und auch die Mahagonieinbauschränke kommen auf den Sperrmüll, die Zeit ist vorbei, tut mir leid, Oma, du musst dich anpassen. Da würde die Oma doch sofort sagen: Leben und leben lassen. Sie leben, wie Sie wollen, und ich lebe, wie ich will.
Aber wenn Integration eine Anpassungsleistung sein soll, woran soll man sich dann anpassen: An mich? An die Oma? An den Bankdirektor? An die alleinerziehende Studentin?
Das funktioniert doch alles nicht mehr. Wenn ich ein Zuwanderer in dieser Gesellschaft wäre, und in gewisser Weise bin ich das, ich bin dritte Generation Einwanderer, mein Opa kam aus Ungarn nach Wien und meine Oma aus Tschechien, aber das war eine andere Zeit und eine andere Form von Migration, also, wenn ich ein Zuwanderer wäre, und ich würde das Wort „Integration“ hören, ich würde regelmäßig die Krise kriegen. Ich würde sagen: Ich kann dieses Wort nicht mehr hören!
Integration, das tut so, als wäre es ein gesellschaftliches Ziel, zu meinen Gunsten, dass man etwas tun soll, damit ich voll integriert bin als respektiertes Mitglied dieser Gesellschaft und mit allen Chancen, die diese Gesellschaft zu bieten hat, aber in Wirklichkeit wird dieses Wort doch längst anders benützt: gegen mich.
Es ist eine anherrschende Forderungsvokabel, das sprachliche Pendant einer vorgehaltenen Pistole: Integriere dich! Aber dalli! Aber was ausreichende Integration ist, das bestimmen wir! Und wie sehr du dich anstrengen magst, wie sehr du dich bemühen wirst, es wird dir nicht gelingen, es wird für uns immer zu wenig sein! Wir stellen unsere Integrationsregeln auf und verbinden sie mit Sanktionen, die greifen, wenn du sie nicht erfüllst, damit du schön zappelst und Angst hast, bei deinen Integrationsanstrengungen, worauf du natürlich erst recht versagst, weil, wie wir wissen, es ist sehr schwer, Leistungen zu erbringen, wenn sie mit Drohungen angestachelt werden, das wissen wir schon aus der Schule, da ging die Physikschularbeit auch immer daneben, wenn die Zuchtrute der schlechten Note winkte.
„Integriert euch“ bedeutet eigentlich „Wir wollen euch hier nicht“
Ich sage: Schluss mit eurer ollen Integration! Lasst mich in Ruhe mit eurer Integration, steckt sie euch was weiß ich wohin! Wie weit es mit dem Integrationsbegriff gekommen ist, brachte Navid Kermani vor ein paar Jahren auf den Punkt: „Integration ist unheimlich gut“, schrieb der iranischstämmige Deutsche in einem sarkastischen Kommentar, und niemand soll sagen, „wir hätten etwas gegen den Islam, also ihr hättet etwas gegen den Islam, also gegen mich, um genau zu sein, ich vergesse das immer, dass ich zu den Bösen gehöre, ich fühle mich gar nicht so böse, aber, mein Gott, ich habe ja auch keine Aufklärung hinter mir, da weiß ich gar nicht, wie böse ich bin.” Kermanis furioses Ende: „Aber gut, dass ihr mich erzieht, sonst würde ich abends auf dem Elternabend ein Selbstmordattentat begehen und vorher die Lehrerin zwangsheiraten.“
Gut, dass ihr mich erzieht. So kommt es auf der „anderen“ Seite an, wenn hier von Integration gesprochen wird. „Integration“ als fordernde Vokabel, herrisch. Integriert euch gefälligst! Ihr seid ja unfähig zur Integration! Man muss euch erziehen, aber das ist nicht einfach, es ist eine monumentale Erziehungsaufgabe, denn ihr seid Schwererziehbare. Dann wundert man sich, wenn das nichts wird, mit der „Integration“. Gott sei Dank, all das ist auch nicht ohne Komik.
Man erinnere sich an die Demonstration des xenophoben Mobs unter Führung der örtlichen FPÖ und ÖVP gegen das türkische Kulturzentrum in Brigittenau (fälschlicherweise als Moschee ausgegeben) vor einigen Jahren. „Hier marschiert der nationale Widerstand“, riefen die Fußtruppen, und direkt vor dem Kulturverein: „Anzünden! Anzünden!“ Skurilerweise forderte der damalige ÖVP-Parteichef ausgerechnet am folgenden Tag eine „Wertedebatte“, weil die Muslime ja oft „unsere“ Werte nicht teilen. Sein Generalsekretär mit dem putzigen Namen Hannes Missethon drohte sogar: „Die müssen unsere Spielregeln lernen.” Ob er damit meinte, dass die Muslime künftig vor christlichen Kulturzentren aufmarschieren und „Anzünden!“ rufen sollen, sagte er nicht dazu.
Uns fehlt die Empathie für Migranten
Aber ich bin abgeschweift. Wie kommt die herrische Forderung nach Integration auf der Gegenseite an, wenn man diesen ohnehin fragwürdigen Begriff – „Gegenseite“ – einmal gebrauchen will? Das ist eigentlich nicht so schwer zu begreifen. Dafür braucht es doch nur Empathie. Empathie, das heißt, sich in andere hineinversetzen zu können. Das heißt, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel zu haben. Das heißt, mit den Augen des Anderen, mit den Augen meines Gegenübers sehen zu können. Und normalerweise können wir Menschen das doch ganz gut.
Wenn ich ins nächste Kaffeehaus gehe und mich dort an einen Tisch setze und da sitzt einer. Und ich sage dem: Du bist blöd, du stinkst, du bist zu nichts nutze, ich mag dich nicht. Na, was glauben Sie, wird der mich mögen? Wird der sich wohlfühlen in meiner Gesellschaft? Wird der das toll finden, dass er in meiner Gesellschaft sein darf? Nein, wir alle wissen, dass das eher nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein wird. Jeder weiß das, im persönlichen Umgang. Komischerweise begreifen das aber selbst lebenskluge und gebildete Menschen nicht, sobald es nicht um ein individuelles Gegenüber im Kaffeehaus geht, sondern um die Art und Weise, wie die sogenannte Mehrheitsgesellschaft hier mit den Zugewanderten, den neuen Minoritäten umgeht.
Und ich frage mich manchmal wirklich, wieso sind manche Menschen so unfähig, die Art und Weise, wie sie sprechen, darauf zu überprüfen, wie das beim Gegenüber ankommt. Ich meine, natürlich, wir wissen, dass es bei vielen tatsächlichen Rassismus gibt, dass dieses „die wollen sich nicht anpassen“ nur vorgeschoben ist, und sie in Wirklichkeit meinen, selbst wenn die sich anpassen, wenn sie sich Dauerwellen machen lassen, Mahagonieinbauschränke und geblümte Gardinen kaufen, dann will ich die trotzdem nicht hier haben. Wir wissen auch, dass da manche einfach ein zynisches politisches Spiel spielen, dass sie die Spannungen und die sogenannten Integrationsprobleme wollen, die sie scheinheilig beklagen, weil sie damit ihr populistisches Spiel spielen wollen.
Aber ich gehe – menschenfreundlich – davon aus, dass das dennoch nur ein kleiner Teil jener ist, die uns hier mit mieser Rhetorik das Land versauen. Und dass es bei sehr vielen tatsächlich ein Unvermögen gibt, überhaupt zu begreifen, wie das, was man sagt, beim anderen ankommt.
Beim Nachbarn vor die Tür pinkeln und sich wundern, wenn er dich rauswirft
Vor einigen Jahren gab es einen interessanten Vorfall. Thilo Sarrazin, der sich mit migrationsfeindlichen Büchern ein fettes Bankkonto verdient, ist in ein türkisches Lokal in Berlin-Kreuzberg gegangen, ein ZDF-Team im Tross. Lobenswert. Er wollte herausfinden, wie das wirklich ist mit denen, über die er ein ganzes Buch geschrieben hat. Hat also Feldforschung betrieben, gewissermaßen in freier Wildbahn. Und da ist er dann aus diesem Restaurant rausgeworfen worden. Kein Döner für Sarrazin!
„Eigentlich sind Türken sehr gastfreundlich, aber ich glaube, ich kann sie nicht bedienen“, hat der Lokalmanager gesagt. Daraufhin musste Herr Sarrazin raustraben und die Gäste haben gejubelt und gegrölt. Sarrazin war echt erschüttert, dass ein, ja, so hat er das selbst formuliert, „verdienter ehemaliger Senator, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen“, dass der einfach aus einem Lokal in Deutschland so rausgeworfen wird, als wäre er ein Betrunkener mit Lokalverbot.
Da hab ich mich schon gefragt, ja, klar, natürlich war das als gezielte Provokation angelegt, aber vielleicht war der Herr Sarrazin wirklich ein klein wenig überrascht, denn ich unterstelle bei solchen Leuten neben Böswilligkeit auch immer ein hohes Maß an Realitätsverlust. Das muss man sich mal metaphorisch vorstellen: Sie pinkeln Ihrem Nachbarn an die Tür. Sie schreiben ein Buch, in dem steht, Ihr Nachbar ist dumm, völlig nutzlos, und es ist eine Tragödie, dass Ihr Nachbar so viele Kinder kriegt, weil da werden nur viele kleine dumme nutzlose Nachbarn draus, „Kopftuchmädchen“, und dann klopfen Sie bei Ihrem Nachbarn an und sagen, hallo, ich wollt mal vorbeischauen und mit Ihnen Abendbrot essen, was gibt’s denn Gutes? Und dann wirft Sie Ihr Nachbar raus und Sie wundern sich, warum der so ein unfreundlicher Kerl ist. Ich meine, da würde man doch bei jedem normalen Menschen sagen: Geht’s noch? Brauchen Sie ärztliche Hilfe?
„Das wird man jawohl noch sagen dürfen!“
Als die Sarrazin-Debatte am Höhepunkt war, war ich gerade in Frankfurt, und da bin ich zum Zeitungskiosk gegangen und fast umgefallen vor Lachen, als ich da die Bild liegen sah. „Bildkämpft für die Meinungsfreiheit“ stand da in dicken Lettern und dann noch dicker, fetter, größer: „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.” Und dann all die Sätze, die man doch wohl noch sagen wird dürfen. Das wird man doch endlich wieder sagen dürfen. Dass die nicht zu uns passen. Dass aus denen nichts wird, weil die zu dumm sind.
Halten wir unser Ohr mal an diesen Echo-Raum, aus dem heraus Sarrazin zugejubelt wird. Dieser Echo-Raum, in dem Muslime Hinternhochbeter und Schacker genannt werden, diese gute Gesellschaft, in der man sich vor Geifer nicht halten kann, diese „Endlich, dass es mal jemand laut ausspricht“-Ranküne-Gesellschaft. Sie sind nicht zu überhören, die mit sich überschlagender Stimme schreien: Raus mit denen! Mit denen, die da auf unsere Kosten … die da unsere Mädels in der Disco … die sich gar nicht integrieren wollen … Lest hinein in die Postings unter die Artikel, seht euch diese Niedertracht an und die Bosheit und die feixende Freude, dass man andere Menschen verachten darf. Diese gierige Lust, andere Menschen beschimpfen zu können. Die Bösmenschen und Hassposter, die in Sarrazin ihr Idol gefunden haben.
Woher kommt dieser Hass, diese Freude, dass man „ES“ jetzt endlich sagen darf, dass man es rauslassen darf, dass man es DENEN jetzt einmal sagen darf? Dass es dann gleich lossprudelt?
Von der überwiegenden Mehrheit redet niemand
Keiner komme mir mit den realen Problemen von Migration und Zuwanderung, die gibt es, über die wird noch zu sprechen sein, aber die sind dafür keine hinreichende Erklärung. Und die realen Probleme mit der Migration, da müssen wir schon auch einmal eines sagen. Ja, da ballen sich Probleme in einigen städtischen Zonen. In Neukölln in Berlin, in Wien-Favoriten, wo türkische Jungs in eine Schleife von Schulproblemen, Schulabbruch, Arbeitsmarktproblemen, dem Aufwachsen in stigmatisierten Vierteln gefangen sind und sich auch selbst fangen. In den schlimmsten Fällen – in Berlin und Frankfurt etwa – heißt das, dass dreißig Prozent nur mit Hauptschulabschluss oder ohne jeden Schulabschluss auf den Arbeitsmarkt gespuckt werden. Oder eben gerade nicht auf den Arbeitsmarkt. Und im Durchschnitt, auf unsere Gesellschaften verteilt, sind es zwanzig Prozent.
Und dass man in Berlin unter den jungen Türken sechsunddreißig Prozent Schulabbrecher vor dem 18. Lebensjahr hat, das liegt halt NUR an diesen Türken. Nicht an einem Schulsystem, das sie systematisch benachteiligt. Aber wie erklärt man sich dann, dass in Schweden die Zahl bei neun Prozent liegt?
Von den restlichen achtzig Prozent, die keine Probleme machen, die vielleicht auch Probleme haben – weil sie nicht in bildungsnahen Mittelstands- oder Bürgerfamilien aufwachsen –, die sich anstrengen und durchbeißen, die den Sprung ins Gymnasium schaffen, obwohl der Lehrer in der Grundschule ihnen sagt, na, das wird nichts mit dir, aber macht nichts, wir brauchen auch Arbeiter in Deutschland, und die das trotzdem schaffen, und die den Gymnasialabschluss in der Tasche haben und dann auch noch ein Studium beginnen. Oder einem ordentlichen Job nachgehen. Von dieser überwiegenden Mehrheit redet niemand.
Und die in etwa so ein Leben führen wie ich – Straßengangs kennen sie nur aus dem Fernsehen, aus den stigmatisierten Wohnvierteln ziehen sie weg, sobald sie es sich leisten können, und mit Religion haben sie so viel am Hut wie der durchschnittliche Taufscheinkatholik. Und wenn sie den Fernseher einschalten, hören sie, dass sie Moslems sind, die Probleme machen, weil das wird nichts mit den Moslems, die passen nicht zu uns, und den Aufstieg schaffen die auch nicht, weil bei den Türken bedeutet Bildung eben nicht Prestige.
Alles läuft falsch bei unserer Integrations-Debatte
Hat sich irgendwer schon einmal gefragt, wie das bei denen, bei der großen Mehrheit der Deutsch-Türken ankommt? Die spielen gar keine Rolle in unseren hysterischen Debatten. Klar, diese „integrierten Ausländer“ fallen auch nicht auf, die sind unsichtbar. Die bewegen sich genauso wie Sie und ich, die reden genauso, die grüßen genauso höflich, vielleicht sogar höflicher. Die bemerkt man gar nicht. Aber: Die erleben all diese aggressiven Debatten als Zurückweisung. Diese Diskurse, an denen alles falsch ist, kerkern die jeden Tag aufs Neue ein in ihrem Fremdsein, in ihrem Muslimsein.
Alles ist falsch an diesen Debatten, die keine Probleme lösen, sondern Probleme, die es gibt, nur verschärfen oder gar erst produzieren. Dabei bin ich keineswegs der Meinung, dass Migration keine Probleme schafft, dass sie eigentlich ein schönes, buntes Multikultifest ist, und nur diese Debatten Probleme schaffen, dass also ohne die Rassisten alles eitel Wonne und wunderbar bunt wäre. Dieser Meinung bin ich nicht. Es ist eine Falle, wenn wir uns zu so einer Art Schwarzweiß-Denken hinreißen ließen und sagen würden, die eigentlichen, die einzigen Probleme haben wir mit den Rassisten, ohne die wäre alles prima und pipifein.
Nein, Migration schafft immer Probleme. Lass uns einmal nüchtern, ohne die Hysterie der Xenophoben, aber auch ohne multikulturelle Illusionen, einfach die Realität betrachten.
Für viele ist Migration eine Geschichte des Scheiterns
Zunächst ist Migration auch auf Seiten der Migranten ein schmerzhafter Prozess, ein Prozess der Entwurzelung. Es gibt immer Menschen, die haben so viel Energie und auch kulturelle Ressourcen, aus einer Veränderung ihrer Lebenssituation das Beste für sich zu machen. Aber für viele ist eben Migration immer auch eine Geschichte des Scheiterns, sie geht einher damit, dass man in ein Umfeld gerät, in dem man sich nicht so gut auskennt, wo man nicht versteht, wie die Dinge funktionieren. Wenn man in ungewohnte Umgebungen gerät, gibt es so etwas wie alltäglichen Stress.
In der Realität sind Migranten natürlich auch die sozial Unterprivilegiertesten in unserer Gesellschaft. Sie waren oft auch in den Gesellschaften, aus denen sie kommen, die eher Unterprivilegierten. Es gibt im Grunde zwei Muster der Migration: Dass in sehr armen Gesellschaften die eher Adaptionsfähigsten, Erfolgreichsten migrieren – weil überhaupt nur sie sich vorstellen können, sich auf eine zwei-, dreitausend Kilometer lange Reise zu machen. Diejenigen, die in diesen sehr armen Gesellschaften auf den unteren Sprossen der Hierarchie sind, die in irgendwelchen Steppendörfern Ziegen hüten und die gerade einmal wissen, dass es da noch ein anderes Dorf einen Tagesmarsch entfernt gibt, die kommen ja nicht nach Deutschland.
Der eigene Mikrokosmos schränkt die Migranten nur ein
Es sind in diesen Gesellschaften eher die Privilegiertesten, die es hierher schaffen. In den relativ reicheren der armen Gesellschaften ist es umgekehrt. Da gibt es für die eher Privilegierten Möglichkeiten, sie leben in der Hauptstadt, sie haben dort Chancen. In diesen Gesellschaften haben die Unterprivilegierten kaum Chancen, aber sie glauben, sie hätten sie in reicheren Gesellschaften. Und wenn sie dann hierher kommen, haben sie verschiedene Schwierigkeiten der kulturellen Adaption, die aber notwendig ist, um hier ein gutes Leben zu führen. Und diese Schwierigkeiten führen zu Frustrationen. Völlig klar, ist so, hat Folgen, können wir nüchtern analysieren.
Und was passiert hier in der Praxis? Sie ziehen in Wohnviertel, die selbst unterprivilegierte Wohnviertel sind. Weil hier die Mieten billig sind, weil da schon andere leben, die ihre Sprache sprechen, weil sie hier eine Art von Infrastruktur vorfinden, von der sie wissen, wie die funktioniert, was ihnen das Leben, jedenfalls aus ihrer Sicht, erleichtert. Und das ist ja auch wahr, dass ihnen das das Leben erleichtert, aber leider nur auf kurze Sicht. Auf lange Sicht erschwert ihnen das ihr Leben, weil die Gefahr besteht, dass sie in einen eigenen Mikrokosmos geraten, aus dem man nur schwer wieder herauskommt, was gerade die Möglichkeiten einschränkt, die Chancen, die man grundsätzlich hätte, auch wahrzunehmen. Migration ist unter den Bedingungen von Masseneinwanderung auch für die Migranten eine zumeist sehr schwierige Sache.
An unseren Problemen sind die Migranten nicht schuld
Und jetzt fragen wir uns, was das mit Gesellschaften macht, in die Migration stattfindet. Nun gibt es in diesen Gesellschaften selbst bereits soziale Probleme. Es gibt auch in diesen Gesellschaften Unterprivilegierte, und das sind die, die in diesen unterprivilegierten Wohnvierteln leben, in denen im Zuge von Massenmigration die Migranten ziehen. In welcher Stimmung sind die Menschen in diesen Vierteln, bevor die Migranten kommen? Na, die sind schon da nicht in der besten Stimmung. Oft sind das jene Viertel, die wir früher die Arbeiterhochburgen nannten.
Und das mit der Unterprivilegiertheit ist in der Geschichte und der geschichtlichen Realität ein etwas unscharfer Begriff. Ja, in diesen Vierteln haben vor hundert oder fünfzig Jahren die Arbeiter gelebt. Unter denen gab es aber auch solche und solche. Es gab die Arbeiter, die sehr prägend waren für diese sozialdemokratische Facharbeiterkultur. Aufstiegsorientiert, für sie war Bildung wichtig. Sie haben gesagt: Meine Kinder sollen es besser haben. Sie selbst haben sich vielleicht im zweiten Bildungsweg hochgearbeitet. Da ging es lange Zeit nur ein, zwei Treppen auf der Stufe nach oben. Aber das waren die Leute, die das soziale Leben dort strukturiert haben.
Plötzlich gab es die Starken unter den Schwachen nicht mehr
Warum sage ich, dass der Begriff „Unterprivilegiertheit“ unscharf ist? Weil wir begreifen müssen, dass es nicht nur die Reichen, die Privilegierten, und dann die „Schwachen“ gab, sondern dass es auch immer welche gab, die man als die „Starken der Schwachen“ bezeichnen muss. Und deren Kinder sind im Zuge der Bildungsexplosion der Sechziger-, Siebzigerjahre aufgestiegen, sie sind weggezogen aus diesen Vierteln und zurückgeblieben sind die, die es nicht geschafft haben. Es ist kein schönes Gefühl, zurückzubleiben.
Man muss das verstehen: An ihrer unterprivilegierten Position hat sich vielleicht gar nichts verändert. Ja, vielleicht hat sich auch etwas verändert aufgrund des sozialen Wandels. Früher konnten sie als ungelernte Arbeiter immer noch genug verdienen, um ein Leben in Würde zu führen. Heute sind diese Jobs rar geworden. Aber auch wenn sich, äußerlich, an ihrer unterprivilegierten Position nichts verändert hat, hat sich doch mental etwas für sie verändert.
Sie haben gespürt, dass sie Verlierer eines Prozesses sind. Und dass es da Gewinner gibt. Und nicht nur die Gewinner, die sie eh nicht kennen, den Bankdirektor, den Gymnasialdirektor, die fetzigen Bobos, die was mit Medien machen oder mit Internet, also die ganze übliche Oberschicht, sondern es gab auch unter Nachbarn Gewinner. Der Nachbarjunge, mit dem sie noch Fußball gespielt haben, der hat es geschafft, der kam aufs Gymnasium, wurde Angestellter, oder Techniker oder ging später sogar auf die Universität, und sie sind zurückgeblieben. In einer Welt der Schwachen, in der es plötzlich auch die Starken der Schwachen nicht mehr gab.
Migration tut weh – und zwar allen
Es sind diese Prozesse, die zu dem führen, was man den Abstieg von Wohnquartieren nennt. Und dann kamen die Ausländer. Die waren nicht der Grund für diesen Abstieg, aber ihr Ankommen hat für die, die hier wohnten, diesen Abstieg letztendlich dokumentiert. Und da kann Rassismus eine Rolle spielen, aber er muss es auch nicht. Es ist da schon verständlich, dass dann Bad Emotions entstehen, und Spannungen. Es hat keinen Sinn, davor die Augen zu schließen.
Migration ist oft ein schmerzhafter Prozess. Für die Migranten, die plötzlich in einer fremden Welt leben. Und für die Alteingesessenen, deren gewohnte Welt sich verändert, auf eine Weise, die sie nicht immer verstehen, aber von der sie wissen, dass das für sie keine Veränderung zum Besseren ist. Und wenn wir denen sagen: Ist doch schön, die Welt ist bunt! Dann sagen die zu uns: Redet’s ihr schön, ihr Studierten, oder ihr Mittelstandskinder, ihr kennt die Probleme nicht, die wir haben. Das ist eine Realität, die wir nicht verkleistern dürfen, indem wir sie auf eine simple Dichotomie „Ausländerfreundlich“ versus „Rassismus“ reduzieren.
Integration heißt nicht Anpassung. Es heißt nicht, dass sich ein bisher Ausgeschlossenes, Exkludiertes, in etwas bereits Bestehendes integriert, und dieses Bestehende durch die Integration unverändert bleibt. Das ist die falsche Vorstellung der Sarrazins, die im herrischen „Integriert euch“ zum Ausdruck kommt. Diversity wiederum kann aber auch nicht heißen, dass lauter Individuen oder Bevölkerungsgruppen unverbunden und atomisiert nebeneinanderher leben.
Das ist unsere Gesellschaft – und ihr gehört dazu
Integration, positiv verstanden, kann und sollte also heißen, dass nicht bloß eine oder mehrere Gruppen in einen schon bestehenden Zusammenhang integriert werden, sondern dass dieser Zusammenhang im Prozess der Integration erst hergestellt wird. Dass etwas entsteht, was weder vorgängig schon da war, noch durch die bloße Vielheit ausreichend charakterisiert ist. Etwas, zu dem die Bürger sagen können: „Wir“. Das sind „Wir“. Das ist „unsere Gesellschaft“. Zu der gehören „wir“ dazu und „die“ und „die“ und „die“ gehören auch dazu.
Wir veröffentlichen diesen Auszug aus Misiks Buch mit freundlicher Genehmigung der Verlags Brandstätter, der seinen Autor so beschreibt: „Robert Misik ist Publizist, Autor und vielgebuchter Redner. Er veröffentlicht etwa in der taz und in der Zeit, sowie für die in Österreich erscheinenden Zeitschriften profil und Falter. Für die Tageszeitung Der Standard betreibt er einen Videoblog, war im Rahmen der Wiener Festwochen als Dramaturg tätig und kommentiert als Podiumsgast in zahlreichen TV-Sendungen vor allem Innen- und Europapolitik.”
Produktion Bent Freiwald, Bildredaktion Martin Gommel (Aufmacherbild: Martin Gommel), Schlussredaktion Vera Fröhlich.